Manipulierte Trennungskinder

Wenn der Papa zum Buhmann wird

29:57 Minuten
Ein Vater hält seine beiden Kinder an der Hand und geht mit beiden eine Straße entlang.
Mit seinen Kindern auch nach der Trennung in Kontakt zu bleiben, ist nicht immer einfach. Auch wegen Streitigkeiten zwischen den Ex-Partnern. © imago images / IP3press / Vincent Isore
Von Tom Noga |
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Im Fachjargon nennt man es Eltern-Kind-Entfremdung – das systematische Schlechtmachen eines Elternteils gegenüber dem gemeinsamen Kind. Das Kind bekommt Angst und möchte Vater oder Mutter nicht mehr sehen. Eine fast aussichtslose Situation.
Vom Parkplatz sind es nur ein paar Schritte bis zum Hauseingang. Jonas geht vorbei, die Treppen hoch in eine Wohnung, die er gemietet hat, in der er aber nicht wohnt. Jonas bleibt im ersten Stock stehen und schließt auf. Die Wohnung: "Das ist eigentlich ein großes Spielzimmer,“ erklärt er fast entschuldigend.

Bloß keine Probleme mit dem Familiengericht

Tatsächlich wirkt die kleine Wohnung wie ein Mini-Kindergarten: Puppen, Malsachen, Brettspiele verteilt auf zwei Räume, Wohnküche und Wohnzimmer. Persönliche Gegenstände wie Bett, Badezeug, Zahnbürste gibt es nicht, denn Jonas lebt zwei Autostunden entfernt in der Großstadt. Wo genau, darf er nicht sagen. Überhaupt muss er extrem vorsichtig sein.
Die Wohnung hat er ausschließlich angemietet, um hier seine Tochter zu treffen, einmal die Woche für vier Stunden. Ihr Name, sein Name, die Kleinstadt, in der er die Wohnung gemietet hat, die Großstadt, in der er wohnt – alles muss er geheim halten. „Mir ist klar, dass das vor Gericht durchaus Probleme geben kann", sagt er. "Die möchte ich so gut es geht vermeiden.“
Das Gericht, vor dem sich Jonas fürchtet, ist das Familiengericht. Es bestimmt, ob, wie oft und unter welchen Umständen Jonas seine Tochter treffen darf. "Es wird einem vor Gericht alles sehr negativ ausgelegt, was gegen das Kindeswohl ist. Deswegen wird einem, wenn man an die Öffentlichkeit geht, sehr schnell ein Strick gedreht. Das ist meine Befürchtung.“

Zwei Stunden Spielen ohne Augenkontakt

Die Öffentlichkeit – das ist die Presse, das ist das Mikrofon, in das er sich traut, anonym zu sprechen und seinen Fall zu erzählen. Jonas’ Tochter ist vier. Seit zwei Jahren sieht er sie nur stundenweise, begleitet von einer Sozialarbeiterin.
Viel zu wenig, findet er. Aber besser als nichts: Monatelang hat er sie gar nicht gesehen. Die ersten Kontakte danach waren schwierig.

Ich erinnere mich an eine Spielsituation, wo sie zwei Stunden oder anderthalb vor mir auf den Boden geguckt und den Augenkontakt gescheut hat. Mir hat das so leidgetan, dass meine Tochter da durchmuss. Das ist einfach traurig.

Jonas

Jonas erlebt schmerzhaft mit, wie sich seine Tochter von ihm abwendet. Warum, das ahnt er nur. In der Fachsprache heißt das, was Jonas und seine Tochter durchmachen: Eltern-Kind-Entfremdung.

Das Kind gerät in Loyalitätskonflikte

„Eltern-Kind-Entfremdung ist ein Phänomen", sagt Guido R. Lieder. Er ist Familienmediator und vertritt als Verfahrensbeistand in Sorgerechtsfällen vor Gericht die Interessen der betroffenen Kinder. Er ist quasi Experte für das, was Jonas widerfährt. "Manche Kinder wollen den Kontakt zu einem Elternteil vermeiden, und zwar zu dem Elternteil, bei dem sie meist nicht hauptsächlich leben. Jedes Wochenende oder einmal in der Woche sollen sie auch zum anderen Elternteil. So ist es festgelegt und plötzlich sagen die Kinder, sie wollen da nicht mehr hin.“ Das geschieht allerdings nicht aus einem echten Wunsch heraus, sondern aus seelischer Not.
Bei gesunden Kinder sei es normal, dass die Kinder beide Eltern lieben, so Lieder. "Das ist offensichtlich und das sagt uns auch die Bindungsforschung, auch nach der Trennung." Die Trennung vollziehe sich ja zwischen den Eltern. "Auf der Paarebene. Die Eltern trennen sich ja nicht von den Kindern."

Wenn tatsächlich ein Kontakt abgelehnt wird, muss man hinterfragen: Was ist beim Kind los?

Familienmediator Guido R. Lieder

Eine solche Verweigerungshaltung deute zumindest darauf hin, dass die hauptsächlich betreuenden Elternteile das Kind nicht sehr positiv beeinflussten. "Dann gerät das Kind in einen Loyalitätskonflikt. Davon spricht man, wenn die Kinder eigentlich loyal sein wollen gegenüber beiden Elternteilen, weil sie ja beide lieben. Aber dann wird der Druck so hoch, dass das Kind sich quasi für einen Elternteil entscheiden muss.“
Bei Jonas lief nach der Trennung erst einmal alles ganz gut, erzählt er. „Wir haben uns getrennt wegen mehreren Streitigkeiten. Das war auch alles einvernehmlich." Vier Monate hätten sie erst einmal nebeneinander gewohnt. "Unsere Tochter war damals zwei Jahre alt. Das waren wunderschöne vier Monate. Alles war perfekt. Meine Tochter und ich konnten Zeit miteinander verbringen, ohne dass es Streit gab, der aus der Beziehung rüberkam.“

Eines Tages ist das Kind weg

Aber dann gibt es erste Anzeichen, dass die Mutter den Kontakt zwischen Vater und Tochter einschränken möchte. „Die Mutter hat die Zeit zwischen uns immer weiter reduziert", erzählt Jonas. "Der Mittwoch ist ausgefallen, der Freitag wurde immer später. Der Montagmorgen ist weggefallen.“ Und dann zieht die Mutter mit dem Kind ohne Vorankündigung in die zwei Autostunden entfernte Kleinstadt, in der Jonas später die Spiele-Wohnung anmietet. Das ist gegen das Gesetz, denn Jonas und die Mutter teilen sich das Sorgerecht, also auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht.
Jonas hätte zustimmen müssen. Aber wenn erst einmal Fakten geschaffen sind, wenn der Umzug, die Umschulung, die Anmeldung im Sportverein vollzogen sind, dann ist es fast aussichtslos, eine solche Entscheidung gerichtlich wieder rückgängig zu machen. Jonas wurde de facto vor vollendete Tatsachen gestellt. Seine Tochter war weg, von einem Tag auf den anderen.
Je nach Quelle verlieren jedes Jahr 20.000 bis 40.000 Kinder den Kontakt zu einem Elternteil. Wie viele dieser Kinder von einem Elternteil „entfremdet“ werden, weiß man nicht. Es gibt nicht genügend aussagekräftiges Datenmaterial.
Die vorliegenden Studien zur Eltern-Kind-Entfremdung aus den USA und aus Deutschland definieren die Kontaktablehnung von Seiten des Kindes als „letzten Ausweg oder als Kapitulation, keinesfalls als freiwillig gewählte Alternative“, so wie auch Familienmediator Guido Lieder. Er kennt auch die Langzeitstudien aus den USA, die die Folgen der Entfremdung untersucht haben: Kinder verlieren dadurch einen wesentlichen Teil ihrer Identität, viele leiden noch Jahre später unter Verlustängsten, Bindungsstörungen oder Depressionen. Beim abgewiesenen Elternteil mündet die familiäre Ausgrenzung oft in eine existenzielle Lebenskrise.

Hauptsächlich betroffen sind Väter

Jonas kämpft um jede Minute mit seiner Tochter, auch wenn er sie nur in Begleitung der Sozialarbeiterin sehen darf, in der angemieteten Spiele-Wohnung. Er hat seinen Job auf 80 Prozent reduziert, um am immer gleichen Wochentag in die Kleinstadt zu fahren zu können. Er weiß, wie wichtig die gemeinsame Zeit für seine Tochter ist. Wenn Wochen oder Monate ohne normalen Kontakt vergehen, ist das für Kinder eine Ewigkeit.
Der Film „Weil du mir gehörst“ thematisiert die Eltern-Kind-Entfremdung. Ich finde ihn in der ARD Mediathek. Die Mutter wird im Spielfilm als Verantwortliche für die Entfremdung dargestellt. Dies trifft auch in der Realität in Deutschland meistens zu: Man schätzt, dass Väter sechs Mal häufiger von Entfremdung betroffen sind als Mütter. Das entspricht auch der statistischen Erwartung: Denn Kinder leben sechs Mal häufiger bei der Mutter als beim Vater oder im sogenannten Wechselmodell, bei dem sie zwischen den Eltern pendeln.

"Ich wollte wissen, wer er wirklich ist"

Nach der Ausstrahlung des Films vertiefen Experten das Thema im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Dabei kommt auch ein 44-jähriger Mann zu Wort, der den Kontakt zu seinem Vater im Alter von zwei Jahren verloren und mit 38 wiedergefunden hat.
Der Mann erzählt unter Tränen von ihrem ersten Treffen. „Er hat mir erzählt, dass er ein paar Mal versucht hat, Kontakt aufzunehmen, dass das aber gescheitert ist. Ich selber habe nie den Kontakt gesucht. Ich wollte ihn nicht kennenlernen, ich wollte mit diesem Menschen nichts zu tun haben, weil: Er war für mich der böse Mensch. Er wollte mich meiner Mama wegnehmen. Das hat meine Mutter mir erzählt.“
Der Mann heißt Mario Lewalter. Ich besuche ihn in einem Dorf in Hessen. Er lebt seit ein paar Monaten in einem Wohnwagen: Doppelbett, zwei Stühle, kleiner Tisch, Kochecke, Nasszelle, mehr nicht.
Mario Lewalter erzählt von den ersten Telefongesprächen mit seinem Vater und wie er schließlich nach Jena gefahren ist, in die Stadt, in der er geboren wurde, und sich dort mit seinem Vater getroffen hat. „Ich wollte wissen, wer er ist", sagt er. "Weil meine Mutter immer erzählt hatte, er war so schlimm, er war fürchterlich und Alkoholiker, gewalttätig und was nicht alles."

Wenn ich Dinge gemacht habe, die meine Mutter an meinen Vater erinnert haben, dann kam immer dieses Abweisende: Du bist wie dein Vater. Dann habe ich irgendwann versucht, diese Emotionen zu unterdrücken. Das hat mich verdammt viel Kraft gekostet.

Mario Lewalter

Mario Lewalter bekam psychische Probleme und war immer wieder in Behandlung. „Nachdem ich meinen Vater als meinen Vater akzeptiert habe und mich auch akzeptiert habe, das war wie ein Backstein, wie eine Riesenlast, die von mir abgefallen ist. Einfach zu akzeptieren: Ich bin so, und es ist gut so.“
Heute ist Mario Lewalter paradoxerweise selbst Betroffener. Vor sechs Jahren ist Mario Vater geworden, vor drei Jahren hat er seine Tochter zum letzten Mal gesehen. (*) Auch deshalb lebt er in einem Wohnwagen. Die Wohnung habe er aufgegeben. "Das Kinderzimmer ist eingestaubt, und ich für mich brauche nicht so viel." Deswegen habe er die Wohnung aufgelöst. "Die Sachen, mit denen, meine Tochter gerne gespielt hat, nehme ich mit. Alles andere brauche ich nicht.“

Letzter Trumpf: der Missbrauchsvorwurf

Dass ehemals entfremdete Kinder als Erwachsene von ihren eigenen Kindern entfremdet werden, ist keine Seltenheit. Man bezeichnet das als transgenerationalen Effekt: Unverarbeitete Traumata wirken in der nächsten Generation fort. Manchmal mit umgekehrten Vorzeichen: Dann wird ein Entfremdeter zum Entfremder.
Mario Lewalter klammert sich an diejenigen, die seine Tochter gelegentlich sehen, wie die Therapeutin, zu der er Kontakt haben darf. „Die Therapeutin hat mir erzählt, sie spielt immer ‚Familie‘ mit Tigerfiguren. Da gibt es einen Brülllöwen, das ist der Brüllpapa. Der darf nie dabei ein, der muss versteckt werden. Irgendwann spielt sie das wieder und das Tigerkind verschwindet und alle suchen dieses Tigerkind und niemand findet es. Dann kommt der Brüllpapa und rettet das Kind.“
Er bricht in Tränen aus. Seine Worte sind so berührend wie die anderen Erzählungen von Vätern und Müttern, die den Zugang zu ihren Kindern verlieren. Ihr Leid. Ihre Hilflosigkeit. Wie oft der Umgang vereitelt und Therapien torpediert werden. Die Schleifen, die viele Fälle drehen: vom Jugendamt zu einem sozialen Dienst, zum Gericht, wieder zurück zum Jugendamt und das Ganze von vorn – insgesamt zwölf Personen können sich problemlos mit einem Fall beschäftigen und sich im Kreis drehen.
Jonas hat die ultimative Eskalationsstufe erlebt, als ihm sexueller Missbrauch an seiner Tochter vorgeworfen wird. Liegt der Verdacht auf Kindesmissbrauch vor, wird der Umgang des vermeintlichen Täters ausgesetzt oder zumindest eingeschränkt. Völlig zu Recht: Ein Kind muss vor einem Peiniger geschützt werden, auch vor einem potenziellen. Nur, dass nicht jeder Vorwurf gerechtfertigt ist.
Jonas wartet über ein Jahr, bis das Gericht feststellt, dass es für die Anschuldigungen der Mutter keine Anhaltspunkte gibt. Er ist erleichtert. „Wenn Sie zu irgendjemand auf der Straße sagen: Bitte beweisen Sie, dass Sie ihre Tochter nicht vor zwei Wochen missbraucht haben. Wie? Das ist unmöglich. Also ist das ist die größte Entlastung, die ich haben kann.“ Es gibt keine Anhaltspunkte. Jonas ist froh darüber, obwohl diese Formulierung eigentlich kein echter Freispruch ist.

Mutter verliert Zwillingstöchter

Nicht nur Männer, auch Frauen erleben die perfide Instrumentalisierung ihrer Kinder. Marion zum Beispiel. Ihr wird von ihrem Ex-Mann physische Gewalt gegenüber den gemeinsamen Zwillingstöchtern vorgeworfen. Sie soll die beiden angeblich schlagen.
Marion war immer die Ernährerin in der Familie, sie hat gearbeitet. Ihr Mann hat sich um Haushalt und Kinder gekümmert. „Nachdem wir uns getrennt haben, und ich ausgezogen bin, habe ich sie nur noch unregelmäßig gesehen“, erzählt sie bei einem Spaziergang. „Er hat sie dann auch die ganzen Sommerferien mitgenommen und wollte sie vor mir, der bösen Mutter, die sich trennt, beschützen.“
Ein gutes halbe Jahr ist das jetzt her. Zwei Monate haben die Kinder im sogenannten Nestmodell gelebt: im elterlichen Haus, während Vater und Mutter abwechselnd für jeweils eine Woche eingezogen sind. Dann gab es einen Eklat und den Vorwurf, die Mutter sei gewalttätig. Sogar die Polizei wurde eingeschaltet. Bis auf Weiteres darf Marion keinen Kontakt zu ihren Töchtern aufnehmen und sich ihnen nicht nähern. So steht es in der Einstweiligen Anordnung, die ihr Ex gegen sie erwirkt hat.
Marion gibt sich kämpferisch: Sie geht gegen die Einstweilige Anordnung vor und will begleiteten Umgang beantragen. Aber was, wenn ihre Töchter den nicht wollen?
In 40 Prozent aller Verfahren vor dem Familiengericht – bei Scheidungen und Streitigkeiten ums Sorgerecht also – behauptet ein Elternteil, ein Gewalt- oder Sexualdelikt liege vor. Das stellt der Präsident des Familiengerichtstages fest. Eine Schätzzahl. Oft werde das Delikt gar nicht angezeigt, sondern nur vor dem Familiengericht in den Raum gestellt, so Alexander Betz, Anwalt für Familienrecht in München.

"Ein schmutziges Geschäft"

In den allermeisten dieser Fälle erweise sich die Behauptung als unwahr oder wird im weiteren Verfahren nicht mehr erhoben. Familienrecht ist ein schmutziges Geschäft", meint Betz. "Man muss sich schon die Frage stellen, ist jetzt eine Sexualstraftat, egal zum Nachteil von wem, der Grund für eine familienrechtliche Auseinandersetzung, einen Streit oder ein Scheidungsverfahren oder wird dieser Vorwurf im Rahmen dieses Verfahrens aufgebracht, um ein Verfahrensziel zu erreichen." Wenn heute einer behaupte, die Kinder wären vom Vater oder von der Mutter sexuell missbraucht worden, dann sehe der die Kinder erst einmal nicht wieder. "Und unter Umständen, bis der Vorwurf aus der Welt ist, haben sich die Kinder schon so entfremdet, dass sie den gar nicht mehr sehen wollen. Das ist ein sehr effektives Mittel.“
Der Verein für Getrennterziehen „Papa Mama Auch“ hat einen „Zustandsbericht zur Lage im Familienrecht“ veröffentlicht. Er basiert auf einer Online-Umfrage unter entfremdeten Vätern und Müttern. Das vernichtende Urteil: mangelndes Fachwissen über Entfremdung, schlechte Kommunikation, sogar Begünstigung der Entfremdung. 75 Prozent der Befragten werfen den Jugendämtern Indifferenz und Untätigkeit vor.
Ich schreibe die Leitung des Jugendamtes Köln an und bitte um ein Interview. Die Pressestelle antwortet: Wegen personeller Engpässe sei ein Interview nur schriftlich möglich. Ich schicke Fragen per Mail.
Die Antworten sind vorgestanzt: Man sei über Entfremdung informiert, bei Verdacht werde das intern thematisiert. Und wörtlich: „Bisher sind keine Fälle bekannt.“ Bei mindestens 20.000 Kindern, die in Deutschland pro Jahr den Kontakt zu einem Elternteil verlieren, ist das statistisch unmöglich.

Wenig Expertise bei den verantwortlichen Stellen

Marc Serafin will mit mir reden. Er leitet das Jugendamt in Sankt Augustin, einer Kleinstadt im Großraum Köln/Bonn, und unterrichtet Soziologie an der Katholischen Hochschule NRW. Ich treffe ihn in einem Vorlesungssaal.
„Meine Wahrnehmung ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern, aber auch vielfach die Kollegen in den Gerichten nicht ausreichend Kenntnis haben über die tiefen Zusammenhänge, die sich dabei abspielen, wenn es zu diesem sehr besonderen Verhalten kommt", sagt er. "Dass ein achtjähriges Kind, neunjähriges Kind, das lange Zeit einen guten Kontakt zu beiden Eltern hat, sich plötzlich abwendet von einem der beiden Eltern und ausdrückt: Nein, ich möchte den gar nicht mehr sehen. Das nennen wir Eltern-Kind-Entfremdung, wenn sich eine vertraute Beziehung verwandelt und ein Fremdheitsgefühl entsteht.“
Für sein Team hat Marc Serafin kürzlich eine Fortbildung organisiert. Er mahnt außerdem eine engere und vor allem früher ansetzende Zusammenarbeit von Jugendamt, Familienberatung und Gericht an und er plädiert für das sogenannte Wechselmodell, weil Kinder damit besser fahren, auch in hochstrittigen Fällen. In den Benelux-Staaten und vor allem in Skandinavien wird das Wechselmodell in fast jeder zweiten Trennungsfamilie gelebt.

Doppelt hält besser

Dabei spreche er gar nicht so gerne "vom Wechselmodell", sagt Serafin, sondern lieber von "der Doppelresidenz nach einer Elterntrennung, um zu unterstreichen: Wenn die Eltern sich auf zwei Wohnungen aufgeteilt haben, gibt es ja keine andere Möglichkeit, wenn der Kontakt auch im Alltag erhalten bleiben soll, als dass das Kind in beiden Haushalten lebt." Und die ganz simple Begründung, warum er das befürworte, sei: "Doppelt hält besser, zwei Eltern sind besser für das Kind als einer der Eltern."

Die beste Prävention vor Eltern-Kind-Entfremdung ist die Aufrechterhaltung des Kontakts zu beiden Eltern von Anfang an durch eine enge, alltägliche Fortsetzung der Eltern-Kind-Beziehung.

Marc Serafin, Leiter des Jugendamts Sankt Augustin

An der Bushaltestelle, gegenüber der Spiele-Wohnung, wartet Jonas auf seine Tochter. Ein Auto fährt vor. Ein blondes Mädchen springt heraus und fliegt ihm in die Arme. Jonas darf seine Tochter auch wieder ohne die Begleitung einer Sozialarbeiterin sehen, da es keine Hinweise auf Kindesmissbrauch gebe, so das Gericht. Ich schicke ihm ein Audio: Das ist toll für dich. Er antwortet, ebenfalls per Audio: „Ich kann mich gar nicht richtig freuen. Ich bin gleichberechtigtes Elternteil. Ich will diesen Stuss nicht mehr mit mir machen lassen. Zwei Jahre lang kämpfe ich für vier Stunden die Woche plus einen Samstag im Monat.“
Nach dem nächsten Treffen mit seiner Tochter schickt Jonas mir eine Textnachricht. Seine Ex hat Beschwerde vor dem Oberlandesgericht eingelegt und per Einstweiliger Anordnung erwirkt, dass er seine Tochter auch weiterhin nur begleitet sehen darf.
(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben einen Namen anonymisiert.

Weitere Informationen finden Sie unter:
Papa Mama Auch e.V.
Väteraufbruch für Kinder e.V.

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