Eltern unter Schock
Der in Buenos Aires lebende 90-jährige deutsch-jüdische Romancier Robert Schopflocher hat einen überaus gelungenen Roman über Argentiniens Vergangenheit und Gegenwart geschrieben. Im Mittelpunkt steht das Paar Maria Inés und Frederico, deren Kinder Mitte der 70er-Jahre entführt und ermordet wurden.
Argentinien und die deutsche Geschichte: Die Verbindungslinien sind zahlreicher, als zu vermuten ist. Deutsche Emigranten der vorletzten Jahrhundertwende hatten am Rio de la Plata die demokratische Arbeiterbewegung mitbegründet – durch Bismarcks Sozialistengesetz verfolgt, brachten sie Traditionen wie etwa die selbstbewusste Mai-Feier auf den anderen Kontinent.
Drei Jahrzehnte später wurde Argentinien zur Zuflucht für zahlreiche deutsche Juden, die den Nazis gerade noch hatten entkommen können, während nach Kriegsende die Eichmanns, Mengeles und andere gesuchte Massenmörder hier ebenfalls Unterschlupf fanden. Und schließlich die siebziger Jahre, als in Argentinien ein perfides Militärregime über 30.000 Menschen "verschwinden" ließ: Unvergessen Berti Vogts' skandalös dümmliches Statement aus dem Fußball-WM-Jahr 1978, er zumindest habe in Buenos Aires nirgendwo politische Gefangene gesehen.
Inzwischen scheint die deutsche Wahrnehmung in ihr Gegenteil gekippt zu sein, ins völlige Ausblenden der Vorgeschichte des Putschs von 1976. Dabei hatten die vorherigen linksextremen Guerilla-Aktivitäten erst den Vorwand geliefert für die darauf folgenden Massenmorde der Militärs.
All das, was sich ansonsten nur in Zeitungsreportagen findet, lässt sich nun in dem komplexen Zeitroman "Die verlorenen Kinder" entdecken, der Politisches und Privates gekonnt verknüpft und eine bis in die jüngste Gegenwart reichende Jahrhundertgeschichte erzählt. Sein Autor Robert Schopflocher ist übrigens in diesem Frühjahr neunzig Jahre alt geworden – ein deutsch-jüdisch-argentinischer Romancier, der im Jahre 1937 aus Nazideutschland geflüchtet war und noch Martin Buber und Stefan Zweig kennengelernt hatte.
Die sorgfältige, nuancierte - und keineswegs als "konventionell" misszuverstehende - Sprache des Romans legt von diesem kulturellen Hintergrund ebenso Zeugnis ab wie vom ungebrochenen Vermögen des Autors, lebendige Gestalten zu schaffen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des jungen Wissenschaftlers Enrique, der nach einem langjährigen USA-Aufenthalt 2006 in seine heruntergewirtschaftete argentinische Heimat zurückkehrt, mit seinen Eltern fremdelt und sich deshalb erst einmal bei Onkel und Tante einmietet.
Onkel Federico ist ein bejahrter deutscher Jude, während seine Frau Maria Inés aus sogenannten "kleinen Verhältnissen" stammt und seit Kindheit wohl vertraut ist mit der sozialen Ungerechtigkeit und dem Klassendünkel ihres Landes. Dennoch war es für die beiden ein Schock, als sie Mitte der siebziger Jahre ihre Kinder an die gewaltbereiten Zirkel einer linksperonistischen Stadtguerilla verloren, die mit ideologischer Großsprecherei und Bombenattentaten die ohnehin fragile argentinische Demokratie so schwächte, bis schließlich die vermeintlich "Ordnung stiftenden", in Wahrheit aber nihilistisch-faschistischen Militärs ein leichtes Spiel hatten.
Aus der Distanz der inzwischen vergangenen Jahrzehnte hört Enrique all diese Geschichten – und wir als Leser hören mit, geschockt, berührt und vor allem ein ums andere Mal verblüfft vom epischen Atem, dem historischen Wissen und der atmosphärischen Beschreibungsfinesse eines Autors, der immerhin im Jahre 1923 geboren wurde, im fränkischen Fürth.
Das Happy End ist schließlich nur ein halbes: Onkel Federico und Tante Inés' damals vom Militär entführte Kinder sind ermordet worden, doch der Enkel Pablo hatte überlebt. Gleich nach der Geburt zwangsadoptiert, findet er schließlich als Erwachsener per DNA-Abgleich seine richtige Familie wieder – und verliert sich dennoch bald darauf im populistischen Dunstkreis der "Mütter vom Plaza de Mayo", die sich längst nicht mehr um das Schicksal der Junta-Opfer kümmern, sondern nur noch Publicity betreiben für die gegenwärtige, neo-autoritär agierende Kirchner-Regierung.
Für den distanzierten Betrachter Enrique ist deshalb noch lange nicht ausgemacht, ob er tatsächlich in einem solchen Argentinien bleiben wird. Als Leser von Robert Schopflochers hochkonzentrierten Roman fühlt man sich dagegen unerwartet reich beschenkt.
Besprochen von Marko Martin
Drei Jahrzehnte später wurde Argentinien zur Zuflucht für zahlreiche deutsche Juden, die den Nazis gerade noch hatten entkommen können, während nach Kriegsende die Eichmanns, Mengeles und andere gesuchte Massenmörder hier ebenfalls Unterschlupf fanden. Und schließlich die siebziger Jahre, als in Argentinien ein perfides Militärregime über 30.000 Menschen "verschwinden" ließ: Unvergessen Berti Vogts' skandalös dümmliches Statement aus dem Fußball-WM-Jahr 1978, er zumindest habe in Buenos Aires nirgendwo politische Gefangene gesehen.
Inzwischen scheint die deutsche Wahrnehmung in ihr Gegenteil gekippt zu sein, ins völlige Ausblenden der Vorgeschichte des Putschs von 1976. Dabei hatten die vorherigen linksextremen Guerilla-Aktivitäten erst den Vorwand geliefert für die darauf folgenden Massenmorde der Militärs.
All das, was sich ansonsten nur in Zeitungsreportagen findet, lässt sich nun in dem komplexen Zeitroman "Die verlorenen Kinder" entdecken, der Politisches und Privates gekonnt verknüpft und eine bis in die jüngste Gegenwart reichende Jahrhundertgeschichte erzählt. Sein Autor Robert Schopflocher ist übrigens in diesem Frühjahr neunzig Jahre alt geworden – ein deutsch-jüdisch-argentinischer Romancier, der im Jahre 1937 aus Nazideutschland geflüchtet war und noch Martin Buber und Stefan Zweig kennengelernt hatte.
Die sorgfältige, nuancierte - und keineswegs als "konventionell" misszuverstehende - Sprache des Romans legt von diesem kulturellen Hintergrund ebenso Zeugnis ab wie vom ungebrochenen Vermögen des Autors, lebendige Gestalten zu schaffen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des jungen Wissenschaftlers Enrique, der nach einem langjährigen USA-Aufenthalt 2006 in seine heruntergewirtschaftete argentinische Heimat zurückkehrt, mit seinen Eltern fremdelt und sich deshalb erst einmal bei Onkel und Tante einmietet.
Onkel Federico ist ein bejahrter deutscher Jude, während seine Frau Maria Inés aus sogenannten "kleinen Verhältnissen" stammt und seit Kindheit wohl vertraut ist mit der sozialen Ungerechtigkeit und dem Klassendünkel ihres Landes. Dennoch war es für die beiden ein Schock, als sie Mitte der siebziger Jahre ihre Kinder an die gewaltbereiten Zirkel einer linksperonistischen Stadtguerilla verloren, die mit ideologischer Großsprecherei und Bombenattentaten die ohnehin fragile argentinische Demokratie so schwächte, bis schließlich die vermeintlich "Ordnung stiftenden", in Wahrheit aber nihilistisch-faschistischen Militärs ein leichtes Spiel hatten.
Aus der Distanz der inzwischen vergangenen Jahrzehnte hört Enrique all diese Geschichten – und wir als Leser hören mit, geschockt, berührt und vor allem ein ums andere Mal verblüfft vom epischen Atem, dem historischen Wissen und der atmosphärischen Beschreibungsfinesse eines Autors, der immerhin im Jahre 1923 geboren wurde, im fränkischen Fürth.
Das Happy End ist schließlich nur ein halbes: Onkel Federico und Tante Inés' damals vom Militär entführte Kinder sind ermordet worden, doch der Enkel Pablo hatte überlebt. Gleich nach der Geburt zwangsadoptiert, findet er schließlich als Erwachsener per DNA-Abgleich seine richtige Familie wieder – und verliert sich dennoch bald darauf im populistischen Dunstkreis der "Mütter vom Plaza de Mayo", die sich längst nicht mehr um das Schicksal der Junta-Opfer kümmern, sondern nur noch Publicity betreiben für die gegenwärtige, neo-autoritär agierende Kirchner-Regierung.
Für den distanzierten Betrachter Enrique ist deshalb noch lange nicht ausgemacht, ob er tatsächlich in einem solchen Argentinien bleiben wird. Als Leser von Robert Schopflochers hochkonzentrierten Roman fühlt man sich dagegen unerwartet reich beschenkt.
Besprochen von Marko Martin
Robert Schopflocher: Die verlorenen Kinder
LangenMüller, München 2013
261 Seiten, 19,90 Euro
LangenMüller, München 2013
261 Seiten, 19,90 Euro