Elternstreit und Kinderleid im Kleinstadtmilieu
Klassenkampf in Pagford: Was tun mit dem Sozialghetto der Stadt? Die Gemeinde ist gespalten. In J.K. Rowlings heiß debattiertem Roman geht es um Klatsch und Gehässigkeiten in einer ach so bürgerlichen Welt. Immer wieder wählt die Autorin dabei den jugendlichen Blick auf das spießige und verlogene Leben der Erwachsenen.
Es beginnt wie eine Folge der Fernseh-Serie "Six Feet Under”. Barry Fairbrother bricht auf dem Weg zum Golfclub zusammen. Ein Aneurysma beendet das Leben des beliebtesten Bürgers und fairsten Bruders von Pagford. Der Mann hinterlässt eine Vakanz im Gemeinderat, um die fortan ein einziges Gerangel und Geklüngel entsteht.
Aufgeheizt ist die Stimmung im Kaff, weil es ein großes Spalter-Thema gibt: das Sozialghetto Fields, das von der nahen Stadt Yarvil herübergewuchert ist. Das Bürgertum von Pagford teilt sich in mehrere Fraktionen, die durch jeweils eine Familie repräsentiert werden. Die Mollisons als Vertreter des konservativen Establishments (Anwälte und Kaufleute) – hier will man die Zuschüsse für soziale Wohnprojekte streichen und die Drogenklinik von Fields schließen. Die Walls als Vertreter des sozialpädagogischen Milieus und die Jawandas als arrivierte Einwanderer setzten sich dagegen mehr oder weniger energisch im Geist des verstorbenen Fairbrother für die sozial Schwachen und Süchtigen ein.
Statt Zauberer-Verschwörungen und den Attacken des Ur-Bösen – nun also eine ländliche Gemeinderatswahl. Statt actionreicher Kämpfe mit Dämonen und Monstern – bürgerliche Abendessen mit Klatsch und Gehässigkeiten. Weiter konnte sich Rowling nicht vom Potter-Kosmos entfernen, scheint es. Und doch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Allen voran die Perspektive: der jugendliche Blick auf die Welt der Erwachsenen mit ihrem Spießertum, ihren faulen Kompromissen, ihrer Lieblosigkeit und ihren Lebenslügen.
Das Leben der Familie Price etwa scheint wie eine ins Monströse übersteigerte Version der Dursley-Misere, der Harry ausgesetzt war. Der gewalttätige Simon Price, der seine Söhne Andrew und Paul als "Pickelfresse" und "Schwuchtel Pauline" zu beschimpfen pflegt, wirkt wie ein ins brutalstmögliche gesteigerter Onkel Vernon. In den Potter-Bänden waren die gehässigen Darstellungen der kleinbürgerlichen Muggelwelt nur die Startrampe für den Abflug in die Anderswelt von Hogwarts. Jetzt gilt es dort auszuhalten. Drogensucht, Cybermobbing, sexueller Missbrauch, brutale häusliche Gewalt, schwere Kindesvernachlässigung, falsche Ernährung und liebloses Gerammel auf dem Friedhof statt romantischer Jugendliebe – Rowling arbeitet einen ganzen Katalog zeitgemäßer Scheußlichkeiten und Moraldefekte ab.
Die profiliertesten Figuren in diesem Roman sind wiederum die Jugendlichen. Sie werden am ehesten als gemischte Charaktere dargestellt. Figuren wie Sukhvinder Jawanda, die in ihrer ehrgeizigen Familie als Versagerin gilt und wegen ihrer molligen Formen und ihres Schattens auf der Oberlippe von den Mitschülern gequält wird. Nachts schnippelt sie mit der Rasierklinge an sich herum, aber am Ende wächst sie über sich hinaus. Oder wie Krystal Weedon aus der Fields-Siedlung, aufgewachsen in nichts als Schmutz und Gewalt. Ihre Mutter ist ein Heroin-Wrack, aber die Tochter verschafft sich Respekt als Sportlerin und kümmert sich um ihren kleinen Bruder. Und kann doch das Schlimmste nicht verhindern.
Als Epos von 570 Seiten ist diese Geschichte einer intriganten Provinzwelt überdimensioniert. Wie schon in "Harry Potter" neigt die Autorin in dramatischen Momenten zu Floskeln oder Metaphernsalat: "Der dunkle See aus Verzweiflung und Schmerz, der Sukhvinder innerlich ausfüllte und nach Erlösung verlangte, stand in Flammen, als wäre er die ganze Zeit schon aus Benzin gewesen."
"Ein plötzlicher Todesfall" ist erzählerisch nur Mittelmaß, gekennzeichnet von einem unzeitgemäßen, bisweilen allerdings plakativen sozialen Engagement. So zynisch manche Passagen zunächst wirken mit ihren Kaskaden von nicht jugendbuch-geeigneten Flüchen und Obszönitäten, ein spürbarer Idealismus führt die anklagende Feder.
Besprochen von Wolfgang Schneider
J.K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Carlsen Verlag, Hamburg 2012
575 Seiten, 24,90 Euro
Aufgeheizt ist die Stimmung im Kaff, weil es ein großes Spalter-Thema gibt: das Sozialghetto Fields, das von der nahen Stadt Yarvil herübergewuchert ist. Das Bürgertum von Pagford teilt sich in mehrere Fraktionen, die durch jeweils eine Familie repräsentiert werden. Die Mollisons als Vertreter des konservativen Establishments (Anwälte und Kaufleute) – hier will man die Zuschüsse für soziale Wohnprojekte streichen und die Drogenklinik von Fields schließen. Die Walls als Vertreter des sozialpädagogischen Milieus und die Jawandas als arrivierte Einwanderer setzten sich dagegen mehr oder weniger energisch im Geist des verstorbenen Fairbrother für die sozial Schwachen und Süchtigen ein.
Statt Zauberer-Verschwörungen und den Attacken des Ur-Bösen – nun also eine ländliche Gemeinderatswahl. Statt actionreicher Kämpfe mit Dämonen und Monstern – bürgerliche Abendessen mit Klatsch und Gehässigkeiten. Weiter konnte sich Rowling nicht vom Potter-Kosmos entfernen, scheint es. Und doch gibt es viele Gemeinsamkeiten. Allen voran die Perspektive: der jugendliche Blick auf die Welt der Erwachsenen mit ihrem Spießertum, ihren faulen Kompromissen, ihrer Lieblosigkeit und ihren Lebenslügen.
Das Leben der Familie Price etwa scheint wie eine ins Monströse übersteigerte Version der Dursley-Misere, der Harry ausgesetzt war. Der gewalttätige Simon Price, der seine Söhne Andrew und Paul als "Pickelfresse" und "Schwuchtel Pauline" zu beschimpfen pflegt, wirkt wie ein ins brutalstmögliche gesteigerter Onkel Vernon. In den Potter-Bänden waren die gehässigen Darstellungen der kleinbürgerlichen Muggelwelt nur die Startrampe für den Abflug in die Anderswelt von Hogwarts. Jetzt gilt es dort auszuhalten. Drogensucht, Cybermobbing, sexueller Missbrauch, brutale häusliche Gewalt, schwere Kindesvernachlässigung, falsche Ernährung und liebloses Gerammel auf dem Friedhof statt romantischer Jugendliebe – Rowling arbeitet einen ganzen Katalog zeitgemäßer Scheußlichkeiten und Moraldefekte ab.
Die profiliertesten Figuren in diesem Roman sind wiederum die Jugendlichen. Sie werden am ehesten als gemischte Charaktere dargestellt. Figuren wie Sukhvinder Jawanda, die in ihrer ehrgeizigen Familie als Versagerin gilt und wegen ihrer molligen Formen und ihres Schattens auf der Oberlippe von den Mitschülern gequält wird. Nachts schnippelt sie mit der Rasierklinge an sich herum, aber am Ende wächst sie über sich hinaus. Oder wie Krystal Weedon aus der Fields-Siedlung, aufgewachsen in nichts als Schmutz und Gewalt. Ihre Mutter ist ein Heroin-Wrack, aber die Tochter verschafft sich Respekt als Sportlerin und kümmert sich um ihren kleinen Bruder. Und kann doch das Schlimmste nicht verhindern.
Als Epos von 570 Seiten ist diese Geschichte einer intriganten Provinzwelt überdimensioniert. Wie schon in "Harry Potter" neigt die Autorin in dramatischen Momenten zu Floskeln oder Metaphernsalat: "Der dunkle See aus Verzweiflung und Schmerz, der Sukhvinder innerlich ausfüllte und nach Erlösung verlangte, stand in Flammen, als wäre er die ganze Zeit schon aus Benzin gewesen."
"Ein plötzlicher Todesfall" ist erzählerisch nur Mittelmaß, gekennzeichnet von einem unzeitgemäßen, bisweilen allerdings plakativen sozialen Engagement. So zynisch manche Passagen zunächst wirken mit ihren Kaskaden von nicht jugendbuch-geeigneten Flüchen und Obszönitäten, ein spürbarer Idealismus führt die anklagende Feder.
Besprochen von Wolfgang Schneider
J.K. Rowling: Ein plötzlicher Todesfall
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Carlsen Verlag, Hamburg 2012
575 Seiten, 24,90 Euro