Élysée 2.0

"Ein fast revolutionärer Meilenstein"

Merkel legt ihren Kopf mit geschlossenen Augen an den Kopf Macrons.
Seite an Seite eine europäische Zukunft aufbauen - dazu gehört auch, dass man sich versteht und zugetan ist. © AFP / Philippe Wojazer
Ein Kommentar von Jörg Himmelreich |
Großbritannien im Chaos, Rechtspopulisten überall in Europa auf dem Vormarsch - die EU braucht den deutsch-französischen Motor gerade mehr denn je. Und dank des neuen Elysee-Vertrags könnte der bald wieder auf Hochtouren laufen, meint Jörg Himmelreich.
Wenn morgen am Jahrestag des Élysée-Vertrags Angela Merkel und Emmanuel Macron mit größtmöglichem diplomatischen Brimborium eine deutsch-französische Vertiefung der Kooperation in der alten Kaiserstadt Aachen unterzeichnen, dann mag dieses historische Ereignis im übrigen derzeitigen Getöse dieser Welt untergehen.
Tatsächlich geschieht damit aber politisch etwas höchst Bemerkenswertes. Mit "Élysée 2.0", wie der Aachener Vertrag auch genannt wird, vereinbaren die Bundesrepublik und Frankreich eine vertiefte Kooperation der beiden Regierungspolitiken und eine Integration beider Gesellschaften, wie sie sonst zwischen keinen anderen EU-Mitgliedstaaten besteht: ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit grenzüberschreitender Arbeitsvermittlung, mit gemeinsamen Gesundheitseinrichtungen und Gewerbezonen gehört genauso dazu wie gegenseitige Anerkennung von Schulabschlüssen und gemeinsamen Kindertagesstätten. Eisenbahnen und digitale Netze sollen eng miteinander verknüpft werden.
Auch soll ein deutsch-französisches Parlament mit je 50 Vertretern der Parlamente beider Länder eingerichtet werden, um Gesetzesvorhaben gemeinsam abzustimmen.

Endlich kehrt europapolitischer Realismus ein

Diese fast revolutionären Meilensteine innenpolitischer Reformen setzen sich in der Vertiefung einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik fort. So will sich Frankreich für einen ständigen Sitz der Bundesrepublik im UN-Sicherheitsrat einsetzen. Diese nur scheinbare Petitesse ist deswegen bemerkenswert, weil damit die bisherige Position aufgegeben wird, einen gemeinsamen EU-Sitz für dieses so wichtige UN-Gremium zu fordern.
Damit kehrt endlich der europapolitische Realismus in die Regierungspolitik ein, ohne den die EU nicht zu reformieren ist. Eine gemeinsame Außenpolitik von 27 verschiedenen EU-Staaten gibt es nicht und kann es gar nicht geben.
Wenn Großbritannien sich gerade selbst politisch zerlegt und damit eine Grundfeste des freien, vereinten Europas mutwillig zerstört und wenn rechtspopulistische Regierungen und Parteien gerade dieses freie Europa zerstören wollen, dann wird der deutsch-französische Motor um so entscheidender für dieses Europa. Ohne ihn geht es nicht.
Das dahinter stehende Konzept eines Kerneuropas, in dem wenige Staaten in bestimmten Politikbereichen zunächst enger kooperieren und andere sich diesem Kern dann freiwillig anschließen, ist seit der Gründung der EWG das Erfolgsmodell fortschreitender Integration in der EU gewesen.
Einige EU-Staaten haben sich im Schengener Abkommen zusammengeschlossen, andere nicht. Einige sind dem Euro beigetreten, andere nicht. Nur in einem solchen Europa der verschieden Integrationsgeschwindigkeiten kann die EU reformiert werden.

Mutiges Zeichen im Kampf für die Einheit Europas

Der innenpolitische Machtverfall von Macron durch die politisch diffusen Proteste der "Gelbwesten" und der von Merkel in der Abenddämmerung ihrer Kanzlermacht zeigen, dass auch dieser Motor derzeit stottert. Um so mehr kommt es jetzt darauf an, die hehren Ziele von "Élysée 2.0" auch schnell in konkrete, bürgernahe Politik umzusetzen.
Wie lange also noch wird der Bahnfahrer von Berlin nach Paris gezwungen sein, in Köln mit einer ganz anderen, neuen Fahrkarte in den französischen "Thalys" umzusteigen, weil dessen Buchungsnetz nicht mit dem der Bundesbahn verbunden ist, oder aber mit der DB den zweistündigen Umweg über Mannheim durchzufahren? Nur mit der schnellen Lösung solcher Fragen des Lebensalltags können Bürger aus den Fängen europafeindlicher Populisten befreit und von den vielen Vorteilen einer EU-Reform überzeugt werden.
In Zeiten, in denen einstige Verbündete gemeinsame, multilaterale Verträge einseitig aufkündigen und sich gegenseitig mit Wirtschaftssanktionen traktieren, ist der Aachener Vertrag ein mutiges Zeichen im Kampf für die Freiheit und Einheit in Europa und gegen die Feinde einer freiheitlichen Weltordnung. Mögen sich ihm viele EU-Staaten anschließen.

Jörg Himmelreich lehrt Geschichte an der École Supérieure de Paris in Berlin, schreibt für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent in Washington, Moskau, und London.

© Peter Ptassek
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