EM-Tagebuch (17)

Chapeau liebe Isländer und schon wieder die Italiener

Spieler der isländischen Nationalmannschaft jubeln über ein Tor gegen England.
Island setzt seinen Siegeszug gegen England fort © dpa / picture alliance / Patrick Roux
Von Thomas Wheeler |
Island, keiner macht mehr Spaß bei dieser EM. Mit 2:1 schickt das Überraschungsteam die Engländer nach Hause. Titelverteidiger Spanien verliert 0:2 gegen Italien.
Die Nacht war kurz. Nach nur viereinhalb Stunden Schlaf stehe ich bereits um kurz nach sieben wieder auf. Ab unter die Dusche und dann zum Frühstück, damit ich pünktlich um 8.10 Uhr in unserem Programm den starken deutschen Auftritt gegen die Slowakei und mein erstes Live-Spiel bei dieser Euro, die beeindruckende Leistung der Belgier gegen Ungarn analysieren kann. Gesagt getan.
Nach dem Interview muss ich auch schon auschecken, damit ich meinen Zug nicht verpasse. Denn heute geht es ja weiter nach Paris zu meiner zweiten Partie bei dieser EM. Der Knaller. Im Achtelfinale die Neuauflage des 2012er-Endspiels: Titelverteidiger Spanien gegen Italien. Am Bahnhof von Toulouse angekommen schnell noch süßes Gebäck gekauft, das können die Franzosen ja richtig gut, und dann in den Intercity nach Montpellier. Wohin, werden Sie sich jetzt fragen? Das ist doch die falsche Richtung. Stimmt. Aber sonst hätte ich noch früher aus den Federn gemusst. So nehme ich den Umweg in Kauf, und steige bei strahlendem Sonnenschein und geschätzten 30 Grad um die Mittagszeit in den klimatisierten TGV zum Gare du Lyon.
Die Fahrt vergeht schnell. Drei Stunden später komme ich Paris an, springe in ein Taxi und fahre zu meinem Hotel. Zwar längst nicht so schön wie in Toulouse, ist aber auch nur für eine Nacht. In meinem Zimmer ziehe ich mich rasch um, denn bis zum Stade de France brauche ich eine gute Stunde. Der erste Teil der U-Bahnfahrt ist noch entspannt, dann jedoch wird es richtig voll. Ich drängle mich in eine überfüllte Métro und tuckere mit italienischen und spanischen Anhängern, sowie anderen Touristen nach Saint-Denis bei Paris.

Endlich im Stade de France

Dort steht seit der Weltmeisterschaft 1998 eine 80.000 Zuschauer-Arena. Wir erinnern uns: Bei der WM damals holten die Gastgeber durch ein 3:0 gegen Brasilien erstmals den Titel. Die Einlasskontrollen sind zwar deutlich besser als in Toulouse. Professionell empfinde ich sie aber auch diesmal nicht. An jedem Stadiontor gibt es nur schmale Eingänge. Davor bilden sich lange Schlangen. Geduld ist gefragt. Die Körperkontrollen, die ich beobachte, sind dann sehr unterschiedlich. Mal gründlich, mal sehr flüchtig. Die Ordner wollen sich offenbar so wenig wie nötig den Unmut der Fans zuziehen.
Vor dem Hintergrund, dass diese Europameisterschaft wegen der Terroranschläge vom 13. November letzten Jahres in Paris besonders gesichert ist, komme ich ins Grübeln und schüttle ob der französischen Laissez-faire Haltung den Kopf. Irgendwann passiere auch ich die Sicherheitskräfte und bahne mir meinen Weg zu meinem Platz. Erneut ein Klasseblick, wiederum nur drei Reihen vom Spielfeld entfernt. Diesmal sogar in Höhe der Mittellinie. Besser geht es nicht, um ein Fußballspiel vor Ort intensiv zu studieren. Püntklich zum Anpfiff geht ein heftiger Regen über das Stadion, und alle, die wie ich unter freiem Himmel sitzen, werden pitschnass. Aber egal, das Spiel lässt einen das sofort vergessen.

Italien beherrscht den Titelverteidiger

Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Squadra Azzurra, der Meister der Taktik, hat sich perfekt auf die Spielweise der Ballbesitz liebenden Spanier eingestellt und greift sofort an. Bei Möglichkeiten von Pellè, Giaccherini und Parolo hätte es schon nach 25 Minuten ein Tor geben können. Inzwischen ist auch die Sonne rausgekommen und trocknet langsam die nasse Kleidung. Dann zahlt sich Italiens Überlegenheit im Führungstreffer aus. Eders Freistoß kann De Gea nur nach vorne abwehren, Abwehrstütze Chiellini ist da und bedankt sich mit dem 1:0 in der 33. Minute. Giaccherini hätte sogar noch erhöhen können, aber seinen Klasseschuss holt der spanische Torhüter stark aus dem Winkel.
Nach dem Seitenwechsel lassen die Azzurri den Titelverteidiger kommen. Morata hat die erste gute Chance, aber der coole Gianluigi Buffon klärt mit einem Arm. Das höhere Risiko, dass die Iberer nun wagen, geht nach 55 Minuten fast ins Auge. Eder hat die Vorentscheidung auf dem Fuß, scheitert aber am wiederum glänzend reagierenden De Gea.
Spannend wird es in der Schlussviertelstunde. Iniesta und Piqué prüfen Buffon. Kein Problem. In der vierminütigen Nachspielzeit macht Italien dann den Deckel drauf. Nach Pass von Darmian ist wie im ersten italienischen Spiel gegen Belgien Pellé zur Stelle und erzielt in artistischer Schusshaltung den 2:0-Endstand. Nach dem Abpfiff des nicht immer überzeugenden türkischen Schiedsrichters Cakir bleibe ich noch eine gute halbe Stunde im Stadion, mache Fotos, telefoniere mit meiner Tochter Lara und Freunden. Am kommenden Samstag also mal wieder Deutschland gegen Italien. Kickoff: 21 Uhr.

Islands Husarenstück gegen die Three Lions

Davon bekomme ich kaum etwas mit, denn es dauert eine halbe Ewigkeit bis ich vom Stade de France in die Métro steigen kann. Auch der Abtransport der Fans ist höchst unprofessionell. Hauptsache, die Polizei kommt schnell vom Einsatzort weg. So fahre ich während der gesamten ersten Hälfte des letzten Achtelfinalspiels England gegen Island durch die Pariser Tunnel und verpasse somit auch alle Tore. Als ich an der U-Bahnstation in der Nähe meines Hotels eintreffe und an einem Bistro vorbeikomme, sehe ich den nicht für möglich gehaltenen Zwischenstand. Ich laufe schneller, damit ich wenigstens noch die zweite Hälfte sehen kann. Das gelingt mir auch, aber den favorisierten Engländern fällt nicht mehr viel ein, und so sind sie wieder einmal vorzeitig ausgeschieden. 50 Jahre nach dem bislang einzigen Weltmeistertitel für das Mutterland des Fußballs heißt es nun Fifty years of hurt. Ein enttäuschter Roy Hodgson tritt nach dem Aus als Nationaltrainer zurück.
Nun fordert Island die Gastgeber. Die können sich in der Fernsehanalyse von TF 1 gar nicht mehr einkriegen und versuchen den Viertelfinal-Außenseiter in einer Mischung aus Respekt und einem Lächeln mit all seinen Stärken und Schwächen zu beleuchten. Bei allen Experten schwingt die Auffassung mit na ja, wir werden nicht die dieselben Fehler wie die Engländer machen. Na denn viel Spaß liebe Grande Nation ... Fangt bloß nicht wieder so an wie gegen die Iren. Nicht jedes Spiel lässt sich auch noch drehen.
Die Isländer, einfach spitze, erinnern mit ihrer unbekümmerten, zielstrebigen und forschen Art an den Überraschungs-Europameister Dänemark von 1992. Natürlich aber auch an die Griechen, die ja 2004 völlig unerwartet die europäische Fußballkrone aufsetzen durften. Soweit meine Achtelfinaleindrücke während meines ersten Kurztrips zu dieser EURO. Im Viertelfinale kommt es von kommenden Donnerstag bis Sonntag zu folgenden Paarungen: Polen - Portugal, Wales - Belgien, Deutschland - Italien und Frankreich - Island.