EM-Tagebuch (23)

Adieu La Mannschaft

Antoine Griezmann schießt mit zwei Toren Frankreich ins Finale der Fußball-EM 2016 (7.7.2016).
Antoine Griezmann macht den Unterschied © dpa / picture alliance / Arne Dedert
Von Thomas Wheeler |
Die deutschen Spieler werden in ihrem EM-Quartier eine unruhige Nacht verbracht haben. Die Franzosen hingegen sind nach dem 2:0-Erfolg erst am frühen Morgen ins Bett gekommen.
Es ist heiß in Marseille. Auch um kurz nach Eins, während ich diese Zeilen schreibe, sind draußen immer noch 25 Grad. Die Franzosen sind langsam warm gelaufen und fahren seit gut einer Stunde jede Rue der Hafenstadt rauf und runter. Hupend, Fahnenschwenkend, aber längst nicht so extrem wie bei uns. Im Stadion haben sie zwar den Sieg gegen den Weltmeister und den Einzug ins EM-Finale gefeiert. Aber alles sehr zurückhaltend. Fast so, als ob sie es noch nicht begriffen haben, dass sie am Sonntag gegen Portugal um den Titel spielen. Doch zunächst ein kleiner Blick zurück, wie sich mein Tag vor diesem zweiten Halbfinale so angelassen hat.
Im überfüllten Zug nach Marseille
Auch in der letzten Nacht habe ich wieder nur wenig Schlaf gehabt. Aber die Sonne macht es mir leicht um kurz nach Acht aufzustehen. Nach einer erfrischenden Dusche fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof von Lyon, der erneut knackevoll ist. Na klar, einige Waliser wollen nach Hause. Viele Franzosen und Deutsche nach Marseille. Das staut sich, und so quetschen sich Hunderte in die Züge, die zum Halbfinalort ans Meer fahren. Selbst der große Hund muss noch mit und verbringt die gesamte Fahrt mit seinem Herrchen im Gang sitzend. Fast Niemand traut sich an ihm vorbei. Als ich einsteige, habe ich keine Chance auf einen Platz. Und je mehr Menschen in den Zug drängen, desto stickiger wird es. Dann habe ich die Idee und stelle mich einfach in den Wagengang der 1. Klasse. Schön kühl ist es dort, und als Jemand aussteigt, nehme ich schnell den freien Platz ein. Der Schaffner kontrolliert mich gar nicht, und so muss ich die drei Stunden bis Marseille wenigstens nicht stehen. Irgendwann gibt allerdings die Klimaanlage ihren Geist auf, und die Temperatur steigt schnell auf mollige 40 Grad. Schön ist was Anderes. Aber irgendwann ist draußen der große Hafen mit den Kreuzfahrtschiffen zu sehen, und das heißt, wir sind am Ziel. Noch ein Espresso mit einem Kollegen den ich unterwegs getroffen habe, und dann geht es mit der Métro zum Vieux Port, dem alten Hafen. Dort ist auch die Fan-Zone, wo sich Franzosen und Deutsche im Singen, meist ist es eher Grölen und Biertrinken den ersten Wettkampf liefern. Singen: Unentschieden. Trinken: klarer Sieg für die Deutschen. Mich ficht das nicht an, und ich finde nach mehrmaligem Fragen schließlich mein kleines Hotel in einer Seitenstraße. Leider im Dachgeschoss und ich springe deshalb gleich mehrmals unter die Dusche. So schnell schwitze ich wieder. Da ich noch meine Karte am Stadion abholen muss, mache ich mich um kurz nach Sechs auf den Weg. Glücklicherweise ist das Stade Velodrome im Vergleich zum Raumschiff in Lyon nur einen Steinwurf vom Zentrum entfernt. Die Abholung des Tickets läuft reibungslos, und so bin ich bereits gegen 19.30 Uhr an jenem Klappsitz, von dem ich gut 90 Minuten später den nächsten Klassiker bei dieser EURO live vor Ort verfolgen werde. Übrigens auch ein riesiger, von außen nicht besonders ansehnlicher Betonklotz. Innen aber beeindruckt die Arena vor allem aufgrund der steilen Tribünen und wegen des geschwungenen Dachs. Das erinnert von seiner Form an die Radrennbahn, die früher im Stade Velodrome beheimatet war. Ein imposantes Bauwerk, dass anders als in Lyon zur Stadt gehört.
Starker Beginn der Franzosen
Die deutschen Fans sind wie immer zuversichtlich und machen zunächst mehr Lärm als die französischen Anhänger. Die erleben, wie die Équipe gleich richtig Alarm macht und die DFB-Elf mächtig hinten rein drückt. Antoine Griezmann hat bereits nach sieben Minuten das 1:0 auf dem Fuß, scheitert aber nach schönem Solo an Manuel Neuer. Erst nach einer knappen Viertelstunde kann sich die deutsche Mannschaft langsam aus der Umklammerung befreien und greift nun aktiv ins Spielgeschehen ein. Emre Can, diesmal für den verletzten Sami Khedira zum ersten Mal bei dieser Europameisterschaft im defensiven Mittelfeld gibt einen Schuss ab. Aber Frankreichs Torwart Hugo Lloris ist aufmerksam. Einen Schlenzer von Bastian Schweinsteiger, der in der ersten Hälfte einen starken Eindruck macht, lenkt Lloris in der 26. Minute gerade noch über die Latte.
Deutschland kontrolliert Ball und Gegner
Das Team von Joachim Löw ist nun klar besser im Spiel hat hohen Ballbesitz und drückt den Gastgeber immer mehr in dessen Hälfte. Allerdings wird der Platz den Yoshua Kimmich und Jonas Hector auf den Flügeln haben von Beiden nicht effektiv genutzt. Von den Franzosen ist offensiv bis auf zwei Freistöße die sicher in den Armen von Manuel Neuer landen kaum etwas zu sehen. Aber auch La Mannschaft erspielt sich bis auf ein paar Fernschüsse keine zwingenden Möglichkeiten. Kurz vor der Pause wendet sich das Blatt. Erst trifft Griezmann, über den fast jeder Angriff läuft, nach 41 Minuten das Außennetz. Dann profitiert Olivier Giroud von einem Ballverlust Jerome Boatengs, läuft allein auf das deutsche Tor zu, wird aber im letzten Moment vom diesmal stark verteidigenden Benedikt Höwedes am Schuss gehindert.
Die Ernüchterung mit dem Halbzeitpfiff
Als sich alle schon auf ein 0:0 einstellen, der Schock. Schweinsteiger geht nach einer Ecke mit Patrice Evra zum Kopfball hoch und bekommt den Ball an die Hand. Der italienische Schiedsrichter Nicola Rizzoli zeigt nach Rücksprache mit seinem Assistenten auf den Punkt. Elfmeter, und den verwandelt Antoine Griezmann sicher zum 1:0 in der Nachspielzeit von Hälfte 1.
Der nächste Schock nach einer Stunde
Nachdem Frankreich zu Beginn der zweiten Hälfte präsenter ist und Jerome Boateng in der 46. Minute gleich zwei mal gegen Giroud und Griezmann dazwischen gehen muss, kommt der DFB-Tross langsam wieder auf Touren. Ohne jedoch ernsthaft Torgefahr auszustrahlen. Genau in dieser Phase verletzt sich Boateng am Oberschenkel und muss ausgewechselt werden. Für ihn kommt Shkodran Mustafi. Damit ist nun mit Hector, Mustafi, Höwedes und Kimmich eine Vierer-Abwehrreihe auf dem Feld, die so noch nie zusammengespielt hat. Das geht schief.
Die Entscheidung
Zwar bemüht sich Joachim Löw dem Spiel noch eine Wende zu geben, Mario Götze kommt nach 66 Minuten für Emre Can in die Partie, aber ein richtiger Matchplan ist nicht zu erkennen. Und so produzieren Höwedes und Kimmich eine Fehlerkette, für die sich der einmal mehr enttäuschende Paul Pogba bedankt. Seine Flanke kann Neuer nicht entscheidend klären, und so landet der Ball direkt vor Griezmanns Füßen, der das Spielgerät ins Tor spitzeln kann. Das 2:0 in der 72. Minute.
Der Weltmeister strampelt noch mal
Die direkte Antwort hätte beinahe den Anschlusstreffer gebracht, aber Kimmichs Schuss landet nach 74 Minuten nur am Kreuzeck. Nur 120 Sekunden danach setzt Julian Draxler einen Freistoß knapp neben das Tor. Der Bundestrainer merkt nun, wie La Mannschaft die Zeit davon läuft, und er bringt erstmals bei dieser EM Leroy Sané. Warum erst jetzt Herr Löw? Bei diesem aussichtslosen Rückstand! Trotzdem ist Sane sofort da und befördert den Ball nach einem Freistoß des diesmal weitgehend aus dem Spiel genommenen Toni Kroos in der 79. Minute nur ein paar Zentimeter neben jenen Kasten, der sich Tor nennt. Nach 82 Minuten ist es noch mal ein Kopfball von Benedikt Höwedes, der auf dem Tornetz landet. Den Franzosen bieten sich nun Räume. Griezmann und Gignac verpassen in der Schlussphase ein noch höheres Ergebnis zugunsten der Équipe Tricolore. Vier Minuten dürfen die Deutschen noch hoffen, dann pfeift der italienische Unparteiische, der in der ersten Hälfte ein klarer Heimschiedsrichter gewesen ist, ab. Die deutsche Nationalmannschaft ist zum zweiten Mal nach 2012 im EM-Halbfinale ausgeschieden und fliegt in die Ferien. Vor allem, weil eine nominelle Spitze mit Mario Gomez für ein so langes Turnier definitiv zu wenig ist. Die mäßige bis mangelhafte Chancenverwertung ist zusätzlich eine Erklärung, warum es nicht für das Finale gereicht hat. Les Bleus dagegen kommen ihrem Traum vom dritten Titelgewinn vor heimischer Kulisse nach der EM 1984 und der WM 1998 immer näher und stehen im Endspiel. Am kommenden Sonntag gegen Portugal in Paris. Und ich setze mich heute wieder in den Zug und fahre nach Berlin zurück. Das war die EURO 2016 hautnah für mich. Das Finale sehe ich mir wieder in der Redaktion an.