Emanzipierte Mutbürger

Von Christoph Giesa |
Debatten, "Buykotts" und Kampagnen: In sozialen Netzwerken engagieren sich viele Bürger für ihre Belange. Kreativ und konstruktiv angewandt, kann das Internet mehr Demokratie im Lande zu schaffen.
Veränderungen in der politischen Landschaft kommen selten über Nacht. Im Gegenteil: Die meisten Entwicklungen, die irgendwann zu politischen Umbrüchen führen, sind vorher auf anderen Ebenen der Gesellschaft zu beobachten, insbesondere in der Wirtschaft.

Wer sich derzeit über die Piratenpartei wundert, die es schafft, mit neuen Themen, Strukturen und Prozessen immer mehr Menschen für sich zu begeistern und die etablierten Parteien vor sich herzutreiben, dem ist ein Blick in das Jahr 1999 zu empfehlen.

Damals veröffentlichte eine Gruppe von Internet-Vordenkern aus Amerika das "Cluetrain Manifest”, in dem vorhergesagt wurde, wie die neuen digitalen Möglichkeiten die Konsumgewohnheiten der Menschen verändern werden und wie deren Vernetzung untereinander zu einer ganz neuen Transparenz führen könne, die die etablierten Marktkräfte zum Umdenken zwingen werde.

Heute wissen wir, dass die damaligen Voraussagen fast vollständig eingetroffen sind. Kleine, agile Startups machen den großen Unternehmen zunehmend Probleme. Immer weniger Menschen vertrauen dem Marketing der Unternehmen selbst, sondern halten sich an die Empfehlungen von Fremden in entsprechenden Online-Communities und Test-Portalen; auch der Kauf erfolgt nicht mehr dort, wo man immer gekauft hat, sondern dort, wo es am günstigsten ist. Die Emanzipation der Konsumenten scheint, getrieben durch das Internet, unaufhaltsam fortzuschreiten – und dabei immer weitere Teile nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Gesellschaft insgesamt zu erfassen.

Die sozialen Medien – Facebook, Twitter, Youtube oder wie sie sonst noch alle heißen –, die lange Zeit eher spielerisch genutzt wurden, um sich etwa virtuell zu einem realen "Flashmob” in Form von Kissenschlachten auf öffentlichen Plätzen zu verabreden, spielen dabei eine immer größere Rolle. Dabei ist zu beobachten, dass aus einem reinen Protestmedium – gegen Internetzensur, gegen Ursula von der Leyen als Bundespräsidentin, gegen die Vorratsdatenspeicherung – zunehmend ein Diskussionsforum wird, das auch konstruktives Engagement ermöglicht und befördert.

Der viel zitierte Wutbürger findet sich dabei eher in den Kommentarspalten der großen Medienplattformen wieder, um seinem Frust Luft zu machen, während die Mutbürger zunehmend unabhängig von etablierten Strukturen mehr und mehr kreative und soziale, innovative und flexible Aktionen auf die Beine stellen, die diese Gesellschaft bereichern, gleichzeitig aber den einen oder anderen noch zu überfordern scheinen, weil sie so wenig greifbar und oftmals in keinem öffentlichen Register eingetragen sind.

Die Bandbreite geht dabei von lokalen Projekten, wie so genannten "Buykotts”, bei denen sich Unternehmen verpflichten, gewisse von den Aktivisten entwickelte Mindeststandards zu erfüllen und im Gegenzug dafür dann mit einem massenhaften Käuferansturm belohnt werden, der typischerweise im Internet organisiert wird, bis hin zu überregionalen Aktionen wie etwa im Rahmen der Kampagne für Joachim Gauck als Bundespräsident, die sich auf Facebook organisierte.

Noch probieren sich die Menschen dabei aus – viele Initiativen versanden gleich am Anfang, andere schaffen es nicht, ihre Unterstützer über den Klick im Internet hinaus zu aktivieren. Eine Entwicklung ist allerdings deutlich erkennbar. Und deshalb sollten sich die etablierten Kräfte auf die neue Form der Menschen, sich zu organisieren, einlassen. Denn sonst laufen sie Gefahr, dass es ihnen geht wie den Unternehmen, die dies nicht getan haben: Sie verschwinden vom Markt und werden ersetzt.

Für den einen oder anderen Funktionär mag das ein Horrorszenario sein – für uns als Bürger hingegen ist es das Gegenteil. Wenn wir es richtig nutzen, dann können wir im Internet nun endlich die Demokratisierungspotenziale heben, die ihm schon früh zugeschrieben, aber nie wirklich angezapft wurden.

Christoph Giesa arbeitet als Publizist und Unternehmensberater in Hamburg, war Landesvorsitzender der Jungen Liberalen Rheinland-Pfalz, Initiator der Bürgerbewegung zur Unterstützung von Joachim Gauck als Bundespräsidentschaftskandidat und Mitbegründer der linksliberalen FDP-Vereinigung "Dahrendorfkreis". Er schrieb das Buch "Bürger. Macht. Politik” (Campus-Verlag 2011). Das Zeitgeschehen kommentiert er in seinem "blog.christophgiesa.de" und als Kolumnist von "The European".