Emil Julius Gumbel

Engagierter Chronist der politischen Morde in der Weimarer Republik

29:10 Minuten
Porträt zeigt Emil Gumbel auf einer historischen sw-Aufnahme von ca. 1930. Das Bild stammt aus dem Universitätsarchiv Heidelberg.
Pazifist, Linksliberaler, Jude - der Mathematiker Emil Julius Gumbel warnte früh vor den Gefahren des Rechtsextremismus und sammelte Fälle politischer Gewalt in der Weimarer Republik. © Emil Gumbel um 1930.
Von Tobias Barth und Lorenz Hoffmann |
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314 Morde von rechts, 14 von links: Das Wissen über das Ausmaß politischer Gewalt in der Weimarer Republik verdanken wir dem Mathematiker Emil Julius Gumbel, der jeden dieser Fälle dokumentierte. Fast wäre er selbst einem Anschlag zum Opfer gefallen.
"Am 14. März 1919 erschien vor dem Hause, in dem ich wohne, ein Militärauto mit einem Offizier und etwa zehn mit Revolvern schwer bewaffneten Leuten. Sie erklärten, ich sei ein Schädling und müsse an die Wand gestellt werden. Das bedeutete damals, zur Zeit des Standrechts, wo man auf Leben und Tod der Willkür der Offiziere ausgeliefert war, keineswegs eine bloße Phrase."
Am Anfang steht ein misslungener Mordanschlag. Die Täter hatten sich damals schon einen gewissen Ruf erworben. Oberleutnant Heymann, der den Überfall auf Emil Julius Gumbels Wohnung in Berlin befehligte, war Offizier der Garde-Kavallerie-Schützendivision. Seine Kameraden aus demselben Freikorps hatten zwei Monate zuvor, am 15. Januar 1919, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht brutal ermordet.
"Die Patrouille drang durch ein Fenster gewaltsam in die leere Wohnung ein und beschlagnahmte einen ganzen Koffer voll ‚verdächtiger‘ Sachen."

Für die Freikorpsmänner war Pazifismus Hochverrat

Der Grund für den Hass der Freikorpsmänner auf den Mathematiker und Nationalökonomen: Gumbel war Pazifist, erklärter Kriegsgegner seit 1915 und Befürworter des Völkerbundes. In den Augen der ehemals kaiserlichen Offiziere grenzte das an Hochverrat. Unter den "verdächtigen" Dokumenten, die sie beschlagnahmten, sind Bücher wie:
Kant, "Zum ewigen Frieden",
Nicolai, "Biologie des Krieges",
Jaurés, "Vaterland und Proletariat".
Ferner einige (…) alte Kolleghefte und angefangene Besprechungen von Arbeiten über den Völkerbund.
Man kann das Ironie des Schicksals nennen: Emil Julius Gumbel entgeht der geplanten Ermordung, weil er zum Zeitpunkt des Überfalls in Bern ist, bei der ersten Internationalen Begegnung der Friedensfreunde.
Als er in seine verwüstete Wohnung zurückkommt, stellt er Strafanzeige. Sein Vermieter hatte alles beobachtet und Oberleutnant Heymann als Anführer identifiziert.
"Die Anzeige wanderte beinahe ein Jahr durch die verschiedensten Gerichte, ich wurde überhaupt nicht vernommen, ebenso wenig die Zeugen, die meine Angaben bestätigen konnten. Ohne dass ich Gelegenheit gehabt hätte, meine Anschuldigungen zu beweisen, stellte das Kommandanturgericht Berlin im Februar 1920 das Verfahren gegen den Oberleutnant ein."
Schwarz-weiß-Foto von 1920: Ein LKW, auf dessen Ladefläche zahlreiche Freikorpssoldaten stehen.
Im März 1920 versuchten antirepublikanisch eingestellte Militärs und Ex-Militärs, die Weimarer Republik zu Fall zu bringen. Nach vier Tagen scheiterte der Aufstand.© imago images / KHARBINE-TAPABOR
Organisierte Gewalt von rechts, überforderte oder unwillige Ermittlungsbehörden, eine Justiz, die teils offen mit den Tätern sympathisiert, Verbrechen verharmlost und, wenn überhaupt, sehr milde Strafen verhängt: Wie ein roter Faden, vielmehr wie eine brennende Lunte, zieht sich das durch 14 Jahre Weimarer Republik. Der Mathematiker Gumbel, dessen Spezialgebiet Statistik ist, sammelt und dokumentiert akribisch alle Fälle. Er sieht früh voraus, wohin diese Dynamik führen wird.
"Ich habe keinen Grund, meine Vergangenheit zu verheimlichen. Im Gegenteil."
In deutschen Archiven gibt es eine einzige Tonaufnahme mit der Stimme von Emil Julius Gumbel. Aufgenommen in New York für die Radio-Bremen-Serie "Auszug des Geistes", in der 1959 deutsche Exilanten vorgestellt wurden.
"Alles, was ich gegen die Nazis geschrieben habe, halte ich noch heute für richtig. Und wenn ich einen Grund habe, stolz zu sein, so ist es der, dass ich früher als andere die Gefahren, die Deutschland, Europa und der Welt drohten, erkannt habe."
Geboren 1891 in München als Sohn eines jüdischen Bankiers wächst Gumbel in einem bildungsbürgerlichen Umfeld auf, besucht eines der besten Gymnasien der Stadt und studiert Mathematik und Nationalökonomie. Er ist frisch promoviert, als der Weltkrieg ausbricht. Gumbel wird Gebirgsjäger im Ersten Bayerischen Schneeschuhregiment.
"Im Jahre 1914 war ich noch jung genug, um mir von all den patriotischen Reden, die ich hörte, den Kopf verdrehen zu lassen. Ich meldete mich freiwillig."

Vom Kriegsbefürworter zum Kriegsgegner

"Ab der Hälfte des Ersten Weltkriegs wird aus dem bis dahin Befürworter des Ersten Weltkriegs Gumbel nun ein sehr kritischer Pazifist", sagt der Historiker Dietrich Heither.
"Angelehnt an Bertrand Russell wird er also zum Kriegsgegner und findet, wenn man so will, die Verbündeten in den Reihen der späteren USPD, die ja, wenn man so will, um Liebknecht herum schon im Reichstag gegen den Krieg agieren."
Der Historiker Dietrich Heither ist ein Experte für den Rechtsterrorismus der 1920er-Jahre und hat 2016 eine Gumbel-Biografie unter dem Titel "Ich wusste, was ich tat" veröffentlicht:
"Emil Julius Gumbel ist heute eigentlich fast unbekannt", sagt Heither. "Er taucht in Geschichtsbüchern häufig noch auf, und zwar gibt es in vielen Geschichtsbüchern eine Statistik, was eigentlich politische Morde in der Weimarer Republik den Linken eingebracht haben und was den Rechten. Und die Gegenüberstellung ist frappierend, weil Gumbel nachweist: Ein Mord der Linken endet mit zig Jahren Zuchthaus oder entsprechend hohen Geldstrafen, ein Mord, begangen von der rechten Seite dagegen, wenn überhaupt, mit wenigen Minuten Zuchthaus. "Das ist sozusagen sein Beleg gewesen für die Gesinnungsjustiz der Weimarer Republik."

314 Morde von rechts, 14 von links

Gumbels Buch heißt lakonisch "Zwei Jahre Mord". Der Mathematiker stellt eine Statistik auf, die damals von keiner Behörde geführt wird: Er verzeichnet akribisch alle politischen Morde seit Ausrufung der Republik. Zu den Toten gehören Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Kurt Eisner und Gustav Landauer, aber auch viele Unbekannte, die in den blutigen Wirren der Gründungsjahre der Weimarer Republik vom politischen Gegner ermordet wurden. Gumbel beschreibt jeden einzelnen Fall, nennt, soweit bekannt, Täter und Motiv und kommt auf ein erstaunliches Ungleichgewicht:
14 Morden von links – die meisten begangen während der Münchner Räterepublik 1919 – stehen 314 Mordtaten von rechts gegenüber. Viele davon begangen während des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920 von Freikorpsleuten – ehemaligen Soldaten, die vor allem in Arbeiterbezirken die Bevölkerung terrorisierten.
Schwarz-weiß-Foto von 1920: Auf einer Straße sammeln sich Arbeiter.
Um Widerstand gegen die Putschisten zu leisten, sammeln sich in Lohberg Kämpfer der Roten Armee der Arbeiter. © picture alliance / akg-images
In seiner Rezension des Buches in der "Weltbühne" erklärt Kurt Tucholsky die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge:
"Ein kleines Heer unbefriedigter, verärgerter, deklassierter und menschlich degradierter Männer war nach Hause zurückgekehrt und wusste nicht, was beginnen. Ihre Hauptangst, die Rente könnte ausbleiben, trat später zurück – aber das andre blieb doch: mit der Separatstellung im Staat und täglichen Leben war es zunächst einmal aus. Flüche hallten ihnen in die Ohren: Betrogen habt ihr uns und belogen! Ihr habt uns das Essen vier Jahre lang vom Munde weggestohlen! Ihr habt gesoffen, während wir darbten! Ihr habt geschnauzt! Ihr habt getreten! […] Nie wieder! Wir fügen uns nicht mehr! Wir ordnen uns nicht mehr unter!
So 1918. Damals war keiner der Hauptschreier von heute auf dem Plan, damals wagten sich keine Achselstücke auf die Straße Sie warteten. All die aktiven Offiziere, die ihr Handwerk kümmerlich erlernt hatten, aber weiter nichts, jene, die ganz genau wußten, daß die Phrase: »Der deutsche Offizier kann alles!« eben nur Phrase war. Sie brauchten nicht lange zu warten. Es ist heute erwiesen, daß Organisation und Einmarsch der Truppen, die 1919 in Berlin einzogen, beschlossen war, bevor die Berliner Unruhen begannen, und daß alle die radauliebenden Elemente, die in irgendeiner bunten Uniform ›Ruhe und Ordnung‹ zu schützen kamen, Anlaß und Motiv sorgfältig vertauscht hatten.
Ich habe das deshalb so ausführlich erzählt, weil so – und nur so – die militärische Schreckensherrschaft der letzten Jahre verständlich ist: aus dem gänzlich unpolitischen Impetus jener gärenden, immer kampflustigen, versorgungsbestrebten Masse unbefriedigter junger Leute: aktive Offiziere, Studenten, aus der Bahn geschlagene Beamte, Abenteurer und Schieber. Sie hätten die Freikorps auch in der tiefsten Wüste gegründet: sie mußten das tun – es war eine Frage des Bluts, daß sie es taten. Sie standen wie leere Droschken oder nächtliche Damen an der Ecke und warteten auf ihren Käufer.
Der kam. Eine gerissene politisierende Industrie hielt die Freikorps aus, die ungeheure Mittel verschlangen – und nun griff das in die politischen Wirren ein."

"Justiz ist das nicht"

Gumbel belässt es nicht bei einer Aufzählung der Mordtaten, er untersucht auch den Umgang der Justiz damit. Was der Statistiker nüchtern in Zahlen zusammenträgt, illustriert den Skandal und die Tragik der Weimarer Republik und ihrer alten neuen Eliten. Kurt Tucholsky kommentiert:
"Wie da – in den Jahren 1918 bis 1921 – politische Morde von deutschen Richtern beurteilt worden sind, das hat mit Justiz überhaupt nichts zu tun. Das ist gar keine. Verschwendet ist jede differenzierte Kritik an einer Rechtsprechung, die folgendes ausgesprochen hat:
Für 314 Morde von rechts 31 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe, sowie eine lebenslängliche Festungshaft.
Für 13 Morde von links 8 Todesurteile, 176 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe.
Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht."

Eine Denkschrift, die im Keller verschwand

Kurt Tucholskys Besprechung bezieht sich auf eine Ausgabe von "Zwei Jahre Mord", die der Malik-Verlag 1921 herausgegeben hat. Eigentlich hätte die Schrift vom Justizministerium herausgegeben werden sollen. Gumbel hatte das Manuskript am 5. Juli dem SPD-Minister Radbruch übergeben:
"Ich hatte die Behauptung aufgestellt, dass die deutsche Justiz über 300 Morde ungestraft lässt und hatte erwartet, dass dies nur zwei Wirkungen haben könnte: Entweder die Justiz glaubt, dass ich die Wahrheit sage – dann werden die Mörder bestraft. Oder sie glaubt, dass ich lüge, dann werde ich als Verleumder bestraft. Tatsächlich ist etwas drittes, völlig Unvorhergesehenes eingetreten."
"Er hat dann das vorgelegt, und es sollte auch vom Reichstag eine Denkschrift dazu erscheinen. Sie erschien auch, allerdings nur in der Auflage von einem Exemplar", sagt der Historiker Dietrich Heither.
"Und Gumbel, der mehrfach nachfragte, wo denn diese Aufstellung bliebe, diese Denkschrift bliebe, bekam dann die Antwort, sie sei erschienen, man könne sie im Keller des Reichstags einsehen, in der Bibliothek, dort läge das eine Exemplar. Daraufhin hat Gumbel eben im Selbstdruck dann die entsprechende Publikation veröffentlicht."

Vom unorganisierten Terror zur paramilitärischen Gewalt

1923 erscheint eine erweiterte Ausgabe, diesmal unter dem Titel "Vier Jahre politischer Mord". Die Bedeutung dieser Veröffentlichung fasst der Zeithistoriker Wolfgang Benz ein halbes Jahrhundert später prägnant zusammen:
"Er behielt recht. Das Ganze war nicht eine Serie von einzelnen Justizskandalen, die ganze Justiz war ein einziger Skandal."
1924 legt Gumbel eine Schrift vor, die über die reine statistische Auflistung hinausgeht. Sie stellt die Mordtaten in politische Zusammenhänge und benennt und analysiert die Milieus und Organisationen, aus denen die Täter stammen. Das Buch "Verschwörer" erscheint wiederum im Malik-Verlag.
"Er wechselt dann auch in den Bereich der Fememorde in dem Bereich auch der späteren größeren Organisationen, die im terroristisch gewaltbereiten Apparat sozusagen tätig waren, also die Brigade Ehrhardt und diese sozusagen paramilitärischen Verbände der Weimarer Republik, die er dann genauer unter die Lupe nimmt, bis hin zur schwarzen Reichswehr", so Heither. "Und das macht ihn eigentlich zu dem Chronisten der politischen Morde der Weimarer Republik."
Der unorganisierte Terror der ersten Jahre der Republik, so Gumbels Befund, geht über in halborganisierte Gewalt. Rechte Militärs, Monarchisten, Protofaschisten sammeln sich in einer Vielzahl paramilitärischer Sportvereine, Offiziersklubs, regulären und illegalen Wehrverbänden. Sie schmieden Umsturzpläne und führen Mordlisten mit prominenten Gegnern, die beseitigt werden sollen. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt die Organisation Consul, hervorgegangen aus dem Freikorps "Brigade Ehrhardt" nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch. Am 26. August 1921 ermorden Angehörige der Organisation Consul den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, am 24. Juni 1922 den deutschen Außenminister Walther Rathenau.
Die Schwarz-weiß-Fotografie von 1922 zeigt den gut besetzten Plenarsaal des Deutschen Reichtstags in Berlin.
Nach dem Mord an Walter Rathenau findet am 25.6.1922 im Reichstag eine Gedenkfeier für den liberalen Politiker statt.© picture alliance / akg-images / akg-images
Wenige Wochen zuvor war der SPD-Politiker Philipp Scheidemann, damals Oberbürgermeister von Kassel, nur knapp einem Säureattentat durch die rechte Geheimorganisation entgangen.
Mittlerweile habe, so konstatiert es Gumbel in seiner Schrift 1924, die dritte, hochorganisierte Phase des Terrors und des Mordens begonnen. Er warnt: Die "Verschwörer", die rechten Feinde der Republik also, haben sich in einer schlagkräftigen, zentralen Geheimstruktur vereinigt, der sogenannten Schwarzen Reichswehr.
Mit seinen Recherchen zieht Gumbel den unversöhnlichen Hass der Rechtsnationalen und der Militärs auf sich. Am 26. Juli 1924 spricht Gumbel – inzwischen lehrt er als Privatdozent an der Universität Heidelberg – auf der Versammlung der deutschen Friedensgesellschaft in der Heidelberger Stadthalle und bittet die Versammelten, "zwei Minuten im Schweigen der Toten des Weltkriegs zu gedenken, die – ich will nicht sagen – auf dem Felde der Unehre gefallen sind, aber doch auf grässliche Weise ums Leben kamen".
Diese kleine Sentenz löst nachträglich einen Sturm der Entrüstung aus. Seine Professorenkollegen und die rechtsdominierte Studentenschaft Heidelbergs verlangen den Entzug der Lehrerlaubnis, der Rektor empört sich:
"Diese unerhörte, alle Volkskreise gleichermaßen beleidigende Äußerung verstößt sicher gegen die Achtung und das Vertrauen eines akademischen Lehrers in gröblichster, wohl nicht zu überbietender Weise. Ich halte die Würde der Universität für so unerhört verletzt, dass größte Eile notwendig ist."

Gumbels Pazifismus wurde als Provokation empfunden

"Er hielt sich sozusagen nicht an die gängigen Interpretationen des deutschen Nationalismus, sondern sprach dem Krieg erst einmal grundsätzlich aus seiner pazifistischen Haltung etwas Negatives zu", sagt Dietrich Heither. "Und das Feld der Unehre war, dass er gesagt hat, die deutschen Soldaten haben eben entsprechend sich dort verhalten. Das ist nicht etwas, was man als Vorbild nehmen könne. Und das in einem Land, das anfing, aufzurüsten und das ja immer stärker militaristisch ausgerichtet wurde durch die Parteien der Rechten, später allen vorweg natürlich die NSDAP."
Noch kann der linksliberale Kultusminister in Baden die Absetzung Gumbels verhindern. Ein eilig von der Universität Heidelberg angestrengtes Untersuchungsverfahren endet mit der Feststellung, dass der Privatdozent weiter in Heidelberg lehren darf. Kurt Tucholsky schreibt in der "Weltbühne":
"Dr. Gumbel soll gesagt haben: ‚Die Soldaten sind – ich will nicht sagen: auf dem Felde der Unehre gefallen‘, und deshalb ist gegen ihn eingeschritten worden.
Den Denunzianten unter seinen Kollegen und unter den Studenten sei gesagt: Das moderne Schlachtfeld ist weder ein Feld der Ehre noch ein Feld der Unehre. Es ist die Abdeckerei der Kaufleute, wo Sadisten, Ruhmbesoffene, wertloses Gesindel und Unschuldige, Unschuldige, Unschuldige ermordet werden."

Ein Linksliberaler mit sozialistischem Einschlag

Obwohl die Sache noch einmal glimpflich ausgegangen scheint, nimmt sich Gumbel aus der Schusslinie. Er beantragt ein Urlaubssemester und geht 1925 in die Sowjetunion, wo er an der Herausgabe der mathematischen Schriften von Karl Marx mitwirkt. 1926 kommt er zurück nach Heidelberg und bringt ein Jahr später das Buch "Vom Russland der Gegenwart" heraus.
"Er zählt selbst zu dem linksliberalen Kreis, wenn man so will, aber immer noch mit einem gewissen, auch sozialistischen Einschlag – weil ihn gerade auch die soziale Frage eigentlich immer umtreibt", sagt Heither. "Er besucht ja auch die Sowjetunion und kommt eigentlich relativ angetan davon zurück und sagt, wenn man das mal misst, wie die Menschen dort jetzt leben, gemessen an den Zeiten des Zarismus, sind das für ihn ungeheure Fortschritte, die er da empirisch beschreiben kann. Er wird aber nicht zu einem Stalinisten, sondern behält auch da immer eine sehr, sehr kritische Haltung gegenüber dem politischen System der Sowjetunion. Und das macht ihn zu einem politischen Grenzgänger oder auch Outcast, kann man fast sagen, weil er eben keine politische Rückendeckung erfährt."
Gumbel ist inzwischen Mitglied der SPD, aus der er aber zweimal wieder austritt. Sein kontinuierliches Engagement gilt dem Pazifismus und der Deutschen Friedensgesellschaft, wo er zusammen mit Carl von Ossietzky, Käthe Kollwitz, Heinrich Mann oder Albert Einstein alljährlich zum 1. August große Demonstrationen organisiert, unter dem Motto "Nie wieder Krieg". Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 erstarken in Deutschland immer mehr die nationalsozialistischen Kräfte. Gumbel gerät zunehmend in Gefahr:
"Und was konnte man in der Weimarer Republik Schlimmeres sein, als aus jüdischem Hause zu stammen? Die Abstammungslehre greift bei den Nazis auf diesen Punkt in Gumbels Geschichte zurück. Pazifist zu sein. Bei den Nazis war er dann der Wehrkraftzersetzer, Sozialist zu sein, Intellektueller zu sein", so Dietrich Heither. "All das vereinigt sozusagen Gumbel in seiner Person. Und deshalb gehörte er mit Sicherheit zu einem der meistgehassten Männer der politischen Rechten."

Die NS-Studentenschaft hetzt gegen den Pazifisten

Im August 1930 wird Emil Julius Gumbel – nach mehreren Jahren Lehrtätigkeit – zum außerordentlichen Professor ernannt. Ein ganz gewöhnlicher Vorgang, der den Gebräuchen der Universität folgt. Die nationalsozialistische Studentenschaft mobilisiert gegen den Dozenten, assistiert unter anderem von einem Stadtrat mit Parteibuch der NSDAP:
"Der Tag wird kommen, wo einmal ein Gesetz zum Schutz der deutschen Nation geschaffen wird. Dann werden wir gegen Herrn Gumbel Anklage erheben, 1. wegen Verletzung von Sitte und Anstand, 2. wegen Missbrauch des Gastrechtes, 3. wegen Verletzung der Ehre der deutschen Nation, 4. wegen Totenschändung."
1932 kommt es zu den sogenannten Gumbel-Krawallen in Heidelberg. Auf einer Versammlung sozialistischer Studenten hatte Gumbel über den Kriegswinter 1916/17 gesprochen und erklärt:
"Für mich ist das Denkmal des Krieges nicht eine leichtbekleidete Jungfrau mit einer Siegespalme in der Hand, sondern die Schrecken und Leiden des Krieges werden viel besser durch eine Kohlrübe verkörpert."
Ein Zuträger aus der NS-Studentenschaft skandalisiert diesen Ausspruch Gumbels. Die Nazis schäumen, reichsweit hetzen ihre Blätter gegen den Pazifisten. So zum Beispiel dieses studentische Flugblatt:
"Das deutsche Volk wird bald die Macht in Deutschland übernehmen, und dann wird, so hoffen wir, die ‚Deutsche Studentenschaft Heidelberg‘ als Ankläger vor dem Staatsgerichtshof auftreten. Dann möge man den Burschen Gumbel in einem vergitterten Käfig auf dem Bismarckplatz aufstellen, als ‚Denkmal der Schande‘. Als Nahrung empfehlen wir Kohlrüben."

1932 wird Gumbel die Lehrerlaubnis entzogen

1932 strengt die Uni Heidelberg ein weiteres Disziplinarverfahren gegen Professor Gumbel an – begleitet von Demonstrationen und Aufmärschen der deutschnationalen und nationalsozialistischen Studentenschaft. Als Gumbel schließlich im August 1932 die Lehrerlaubnis entzogen wird, hält er sich gerade bei einer Fachtagung in den Vereinigten Staaten auf. Er kehrt nicht nach Heidelberg zurück, sondern nimmt einen Lehrauftrag an der Pariser Sorbonne an. So entgeht er einer Verhaftung nach dem Machtantritt der Nazis.
Nach der Machtübernahme 1933 ließen die Nationalsozialisten die Bücher verfemter Autoren wie Lion Feuchtwanger, Erich Kästner und Sigmund Freud verbrennen. (Bild: dpa)
Bei der Bücherverbrennung 1933 durch die Nationalsozialisten wurden auch die Werke Gumbels verbrannt.© picture alliance / dpa
Der Name Gumbel steht neben denen von Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Alfred Kerr und Rudolf Breitscheid auf der ersten Ausbürgerungsliste 1933. Gumbels Schriften sind die ersten, die bei der Heidelberger Bücherverbrennung ins Feuer geworfen werden. Im September 1933 hält Propagandaminister Goebbels eine Rede auf dem Reichsparteitag der NSDAP:
"Auf einer Berliner Bühne, die von Juden geleitet wurde, fegte man einen Stahlhelm mit den Worten ‚Dreck – Weg damit!‘ auf den Kehrrichthaufen. Der Jude Gumbel nannte die Toten des Krieges 'auf dem Felde der Unehre Gefallene', der Jude [Theodor] Lessing verglich Hindenburg mit dem Massenmörder Haarmann, der Jude Toller bezeichnete das Heldentum als 'das Dümmste aller Ideale'.
Nimmt man die Tatsache dazu, dass fast alle geistigen Berufe ausschlaggebend von Juden bestimmt wurden, so wird man zugeben müssen, dass kein Volk von Selbstachtung solches auf die Dauer ertragen hätte."
"Ich ging nach Frankreich, weil ich hoffte, den Zusammenbruch des Nazi-Systems doch noch zu erleben."
So blickt Emil Julius Gumbel im Interview mit Radio Bremen 1959 blickt Emil Julius Gumbel auf seine ersten Exiljahre zurück.
"An Stelle dessen habe ich den Zusammenbruch Frankreichs miterlebt. Da war keine Alternative mehr gegeben. Wenn Herr Hitler und ich in Frankreich sind, muss einer das Land verlassen. Die Wahl zwischen den beiden war sehr einfach."

In der jungen Bundesrepublik gibt es für einen wie Gumbel keinen Platz

Das zweite Exil führt Gumbel in die Vereinigten Staaten, wo er sich als Experte für Extremwertberechnungen einen Namen macht. Seine mathematischen Arbeiten finden nach dem Krieg Anwendung unter anderem bei Berechnungen für Hochwasserschutzdämme in den Niederlanden.
"Er war ein oder zweimal noch auf einer kurzen Vortragsreise in der Bundesrepublik, bekam hier keine entsprechende Stelle angeboten und blieb in den USA, dort allerdings auch immer noch seiner pazifistischen Grundhaltung treu. Wenn er sich beispielsweise auch sehr aktiv gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner aussprach", sagt Dietrich Heither.
"Es ist wirklich bemerkenswert und wahrscheinlich ist das auch Teil dessen, dass er in gewisser Weise doch zu Unrecht ziemlich vergessen ist. Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen, dass ein Kritiker des Krieges, ein Kritiker auch der Wiederbewaffnung in Deutschland, also ein Antimilitarist im Kontext der entstehenden Bundesrepublik auch wiederum seine Schwierigkeiten hatte. Es war da wiederum für jemanden wie Gumbel praktisch kein Platz mehr."
"Ich bin froh zu wissen, dass heute in Deutschland die nationalsozialistische Idee keine Basis in der Jugend gefunden hat. Und ich hoffe, dass dies auch für die Zukunft zutreffen wird."
1966 stirbt Gumbel in New York. Keine einzige deutsche Zeitung bringt einen Nachruf.

Literaturhinweis:
Dietrich Heither: "Ich wusste, was ich tat" - Emil Julius Gumbel und der rechte Terror in der Weimarer Republik
Papyrossa-Verlag 2021 (2. Auflage), 131 Seiten, 12,90 Euro

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