Klassenkampf auf der Ruhrpott-Bühne
Ungerechtigkeit, Blut und Gewalt - mit "Hunger" bringt Luk Perceval den dritten und letzten Teil nach Émile Zolas Romanzyklus "Die Rougons-Macquarts" auf die Bühne. Das Stück geht tief unter die Haut, meint unsere Kritikerin Ulrike Gondorf.
20 Romane umfasst Émile Zolas literarisches Hauptwerk, der Zyklus über die verschlungenen Schicksale der Familie Rougon-Macquard. Zola durchstreift mit seinen Helden und Heldinnen das Paris des Zweiten Kaiserreichs von den Boulevards und Salons bis zu den Spelunken und Schlachthöfen. In der Familie gibt es Banker und Ärzte, aber auch Wäscherinnen, Kleinkriminelle, Arbeiter und die berühmte Prostituierte "Nana". Überallhin fällt Zolas kalt und genau beobachtender Blick und immer kommt er, der engagierte Linksintellektuelle, zu dem Fazit, dass die Welt nicht so bleiben darf, wie sie ist.
In den drei Jahren der Ruhrtriennalen-Intendanz von Johan Simons hat der Regisseur Luk Perceval mit dem Ensemble des (koproduzierenden) Thalia-Theaters eine "Trilogie meiner Familie" aus den Zola-Romanen auf die Bühne gebracht. Nach "Liebe" und "Geld" endet der Zyklus in diesem Jahr mit "Hunger". Dazu hat er zwei der bekanntesten Romane aus dem Zola-Werk ineinander verschränkt: "Germinal" und "Die Bestie im Menschen". "Germinal" berichtet von einem Streik in einem Bergwerk, der von Etienne, einem der Brüder aus der Familie, angeführt und schließlich grausam niedergeschlagen wird. "Die Bestie im Menschen" wendet das Thema der Gewalt und des Ausgeliefertseins nach innen: Jacques, der andere Bruder, leidet unter zwanghaften Wahnvorstellungen: er kämpft verzweifelt gegen das Begehren, eine Frau zu ermorden.
Stärkster Teil der Trilogie
Die starken Buchvorlagen nutzt Perceval für eine kluge Montage, in denen sich immer wieder Stimmungen und Ereignisse ineinander spiegeln. Das quälend intensive Beobachten und Nacherleben eines Mordes durch Jacques etwa findet ein Pendant in der Schilderung eines Wassereinbruchs im Bergwerk. Übermächtige Gewalten beherrschen das Individuum. Diese Stringenz macht "Hunger" zum stärksten Teil der Trilogie. Und vor allem versteht man endlich, warum diese Geschichte an einem Industrieort, in der alten Gießhalle eines Stahlwerks in Duisburg, erzählt werden musste. Börsensäle und Boudoirs als Schauplätz der Handlung haben es einem da in den vorangegangen Teilen manchmal etwas schwer gemacht, bürgerliche oder kleinbürgerliche historische Kostüme nahmen sich auch befremdlich und betulich aus zwischen den rußgeschwärtzten Wänden.
Davon befreit sich Perceval in diesem letzten Teil, und es liegt ja auf der Hand, dass der Bergarbeiter Etienne und der Lokführer Jacques richtig sind an diesem Ort schwerer, schmutziger proletarischer Arbeit. Von der Bühne von Anette Kurz ist nur das leere, nach hinten in eine hohe Bodenwelle aufsteigende, nackte Holzpodest geblieben. Manchmal wabert ein wenig Nebel darüber, ein guter Teil der Beleuchtungseffekte kommt von den Grubenlampen auf den Köpfen der Akteure. Und die Kleidung dieser ums nackte Überleben kämpfenden Menschen ist auch so vereinfacht, dass man nicht mehr an Theaterkostüme denkt.
Eine großartige Inszenierung
Percevals Konzept, mit der Sprache und dem ungebrochenen Pathos Zolas einen den Blick schärfenden historischen Abstand aufrecht zu erhalten und andererseits durch eine sehr direkte, körperliche Spielweise diese Distanz wieder zu überspringen, löst sich bei "Hunger" restlos überzeugend ein. Perceval schafft mit seinem Ensemble aus zwölf SchauspielerInnen, die alle fast durchgängig auf der Bühne sind, erhellende und einprägsame Bilder. Um die klaustrophobische Enge der Arbeit unter Tage sinnfällig etwa sinnfällig zu machen, bedrängt das ganze Ensemble die Protagonisten der Szene so stark und schränkt ihren Raum und ihre Bewegungsmöglichkeiten durch die eigene körperliche Präsenz so stark ein, dass sie schließlich nur noch am Boden robben können.
Das Ensemble des Thalia-Theaters, das diese letzte Inszenierung seines scheidenden Chefregisseurs Luk Perceval bestreitet, ist ohne Einschränkung großartig. Alle zwölf haben über die drei Teile hinweg ein großes Panorama von Figuren erschaffen. In "Hunger" stehen Sebastian Rudolph als Streikführer Etienne und Rafael Stachowiak als der seinen Trieben ausgelieferte Jacques im Mittelpunkt. Und von geradezu erschreckender Eindringlichkeit ist Barbara Nüsse als alter Großvater: Mit 8, so erzählt er, ist er zum ersten Mal in den Schacht eingefahren. Jetzt ist er wohl bald 80 und muss immer noch die schwere Arbeit machen. Das Fazit dieses Lebens, das Barbara Nüsse mit eiskalter Ruhe darlegt, geht einem tief unter die Haut. Streik, meint der Alte, das nützt gar nichts. Wenn die Ungerechtigkeit aufhören soll, dann muss das Alte weg, ausgetilgt werden mit Blut und Gewalt. Ein Schlusswort, dessen radikaler, ruhiger Ernst einen mit einer Gänsehaut aus diesem starken Abend entlässt.