Emine Sevgi Özdamar: "Ein von Schatten begrenzter Raum"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
763 Seiten, 28 Euro
Kein Ankommen
06:14 Minuten
Nach dem Militärputsch von 1971 flieht Emine Sevgi Özdamar aus Istanbul. Es folgt ein Leben in Berlin, Paris, unter Intellektuellen und Künstlern. Doch nirgends findet sie mehr Heimat. In einem monumentalen Roman blickt sie nun auf ihren Weg zurück.
Emine Sevgi Özdamar war die Erste. Natürlich hat es vorher Texte gegeben, die die Situation der nach Deutschland eingewanderten Türken beschrieben, aber Özdamars bahnbrechender Roman "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus" von 1992 sprengte alle Zuweisungen an eine "deutschtürkische" Literatur. Es ging um eine eigene Ästhetik, die in Deutschland allerdings sehr ungewöhnlich und entgrenzend war.
Özdamars neuer, fast 800 Seiten umfassender Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum" ist die Summe all dessen, was diese gleichzeitig sperrig, amüsant und einfühlsam erscheinende Autorin bisher vorgelegt hat – mit den gerade in Mode gekommenen "autofiktionalen" Texten, in denen eine Biografie eher statistisch abgeklappert wird, hat dieses monumentale Werk gar nichts zu schaffen.
Motive aus eigenem Leben
Die 1946 geborene Autorin hat in Istanbul Schauspiel studiert, und die Prägungen durch das internationale Theater und den Film sind in ihrer Prosa unverkennbar. Der Roman spielt Leitmotive aus Özdamars Biografie durch und erzeugt vor allem durch Wiederholungen bestimmter Schlüsselmomente und Schlüsselsätze eine unverwechselbare Atmosphäre. Das Leben erscheint als eine Abfolge einzelner, vieldeutiger Szenen.
Der Text zitiert Momente aus dem absurden Theater und der Groteske, aus emotional aufgeladenen Filmsequenzen und einem Zeitroman. Subjektive, rauschhafte Erinnerungen stehen neben Vergegenwärtigungen der politischen Verhältnisse. Özdamar nennt in ihrem Roman Klarnamen und tarnt nichts durch oberflächliche Fiktionalisierungen, aber er bleibt dabei immer ein Kunstwerk, das eigene Assoziationsräume schafft.
Parallelrealität in Istanbul
Die Chronologie wird zwar auch durchbrochen, die Tonlage ändert sich oft, aber der Leser verfolgt den Lebensweg der hier Schreibenden von der Flucht aus der türkischen Militärdiktatur über die Arbeit an der Ostberliner Volksbühne ab 1975, einer unwirklich entrückt wirkenden Zeit in Paris bis hin zum Theater in Bochum an der Seite von Matthias Langhoff und den ständigen Veränderungen in Berlin.
Die Parallelrealität in Istanbul, die repressiven Verhältnisse in der Türkei werden immer eingeblendet. Die Autorin findet zu einer schwebenden Balance zwischen den fantastischen Möglichkeiten des Theaters, dem damit verbundenen bohèmeartigen Lebensgefühl und einer politischen Anklage.
Surreale Momente
Das Besondere ist Özdamars Sprache. Surreale Momente gehen ganz selbstverständlich in Alltagsbeschreibungen über, die schreibende Hauptfigur kann mit einer zurückgelassenen Zigarettenpackung ihres Mentors Benno Besson genauso ins Zwiegespräch eintreten wie mit einer Remington-Schreibmaschine oder mit den Krähen auf einer magischen türkischen Insel, die als Anrufung eines widersprüchlichen, anderen Lebens eine große Rolle spielt.
"Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an": Diese Erkenntnis zieht sich in überraschenden Volten durch den Roman und wird durch den Fluchtpunkt der Kunst gleichzeitig immer konterkariert. Ein außergewöhnliches Buch, das alle übliche Saisonware vergessen macht.