Emanuel Carrère: Das Reich Gottes
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2016
524 Seiten, 24,90 Euro
Alles kommt vor: Von Pornografie bis Depression
Mit neugierigem Agnostizismus betrachtet Emanuel Carrère "Das Reich Gottes". Dabei erzeugt er seltsame Effekte und betrachtet die menschliche Existenz aus einer besonderen Perspektive. Ein Buch, das einen sofort in den Bann zieht, meint Katharina Döbler.
Emanuel Carrères neuestes Buch ist in erster Linie der große Monolog eines produktiven Zweiflers.
Es schlägt den Leser sofort in Bann; das liegt daran, dass der Autor mit äußerster Offenheit die verschiedenen Möglichkeiten des Glaubens und Nichtglaubens bestehen lässt. Da gibt es keine ironische Überheblichkeit gegenüber Gläubigen, andererseits auch kein Bedauern des eigenen Unglaubens. Hier schreibt jemand, der sich selbst erkennen will und zu Erkenntnis bereit ist, wie auch immer sie ausfallen mag. Es ist außerdem ein Kommentar zu den Heiligen Schriften des Christentums, ein mehr oder weniger fiktionales Porträt der Apostel Paulus und Lukas - und ein historischer Streifzug durch das erste Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
1993 hatte Emanuel Carrère ein Bekehrungserlebnis und wurde für ein paar Jahre zum dogmatischen Katholiken. Die Festigkeit im Glauben ebbte wieder ab und mündete in den gelassenen, gleichwohl überaus neugierigen Agnostizismus, mit dem der Autor mehr als 15 Jahre später, sein Thema, "Das Reich Gottes", zu betrachten begann.
"Was mache ich hier? Und was ist dieses 'ich'"?
Immer wieder verschiebt Carrère die Akzente. Er hält sich zwei zentrale Figuren vor wie Spiegelbilder, wie Aspekte seiner eigenen Person: Der von seiner Mission und den großen Abstraktionen erfüllte Jude Paulus erinnert wohl nicht zufällig an den Carrère der katholischen Phase; und der Evangelist und Paulus-Biograf, der griechische Proselyt Lukas, tritt auf wie der Dr. Watson dieses Über-Predigers: ein Schriftstellerkollege mit erzählerischen Stärken und Schwächen, aber auch ein neugierig Suchender, der sich am Schluss von der realen Person Jesus und dessen Worten mehr faszinieren lässt als vom Mythos des Gottessohns und Welterlösers, den Paulus predigte.
Carrère findet in seinem Buch zu einer ähnlichen Sichtweise. In seine Sprache übertragen und eine ihm einleuchtende Reihenfolge gebracht, lässt er die wenigen überlieferten Jesusworte in ihrer paradoxen oder auch: revolutionären Welt- und Lebensweisheit kurz und eindrücklich aufflammen.
Das Licht, das er damit auf unsere gängigen Vorstellungen vom gelingenden Leben wirft, erzeugt seltsame Effekte. Und darum ist es Carrère wohl zu tun: die eigene Existenz - wie die menschliche ingesamt – mit offenem Geist und unter ungewohnter Beleuchtung zu betrachten.
Es gebe eine Gattung von Menschen, schreibt er zu Anfang, "für die es nicht selbstverständlich ist, auf der Welt zu sein". Aus dieser Haltung ergeben sich die nahe liegenden Fragen "Was mache ich hier? Und was ist dieses ‚ich’? Und was das ‚hier’?". Antworten gibt der Autor keine; aber er zieht seine Leser hinein in die Geschichte der solcherart Fragenden. Von Pornografie bis zur Depression kommt darin alles vor, und so ist es eine faszinierende Geschichte.