Emmanuel Carrère: Ein russischer Roman
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017
282 Seiten, 22,00 Euro
Auf der Suche nach dem verlorenen Großvater
Emmanuel Carrères "Ein russischer Roman" führt in Familiengeheimnisse, sibirische Weiten und französische Seelenlandschaften. 2007 bereits im französischen Original erschienen, erzählt er nun auch auf Deutsch packend und psychologisch nuanciert.
Das Jahr 2000 in einer sibirischen Kleinstadt, weit-weit weg von Moskau: Ein französischer Schriftsteller, Journalist und Filmemacher dreht einen Dokumentarfilm über eine unerhörte Begebenheit: Über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende war in einer psychiatrischen Anstalt ein ehemaliger ungarischer Soldat entdeckt worden, der einst auf Seiten der Wehrmacht gekämpft hatte. 1944 von der Roten Armee gefangen genommen, hatte man sich danach seiner nirgendwo mehr erinnert.
Diese "Seins-Vergessenheit", die aus einer philosophischen Formel eine individuelle Tragödie machte, provoziert den Pariser Autor auf ganz besondere Weise: War nicht auch sein russisch-georgischer Großvater mütterlicherseits abhanden gekommen - 1944 verschleppt, dann vermutlich bei Bordeaux erschossen und späterhin aus den Familien-Annalen getilgt? Wofür es einige Gründe gab: Der Mann hatte mit den nazi-deutschen Besatzern kollaboriert, während seine Tochter im Nachkriegsfrankreich eine steile Karriere begann, die bis heute anhält: Hélène Carrère d´Encause trägt nicht nur einen klingenden Namen, sondern zählt als Historikerin, Russland-Expertin und erste weibliche Generalsekretärin der renommierten Académie Francaise zur intellektuellen Oberschicht ihres Landes.
Ein erfolgreiches Prosa-Experiment
Ihr Sohn Emmanuel Carrère, Jahrgang 1957, ist freilich inzwischen fast ebenso berühmt, was auch an diesem Buch liegen dürfte, das bereits 2007 im französischen Original erschien. Die Ödnis der sibirischen Provinz, das Schweigen im mütterlichen Pariser Salon, die emotionale Bindungsunfähigkeit des Chronisten - all das wird hier ineinander verwebt, packend erzählt, psychologisch plausibel, wenn auch mitunter mit einem Stich ins Exhibitionistische. (Denn ist die parallel dazu scheiternde Liebesbeziehung zu einer aus der Nicht-Oberschicht stammenden Französin tatsächlich so interessant, wie es der Autor und einige Rezensenten glauben?)
Für Emmanuel Carrére aber erwies sich das Experiment mit einer ebenso sinnlichen wie intellektuell vibrierenden Prosa-Sprache, die gleichwohl von Nicht-Fiktionalem erzählt, als äußerst fruchtbar: Auch in seinen nachfolgenden Büchern wie "Das Reich Gottes" oder "Limonow" verknüpft er gekonnt die Frage nach den sogenannten "letzten Dingen" mit der rührend-absurden Komplexität menschlichen Daseins. Carrères "Russischer Roman" zeigt eindrucksvoll, dass sich Recherche in eigener Sache und präzise Neugier auf die Außenwelt nicht nur nicht ausschließen, sondern geradezu bedingen - vor allem zum Erkenntnisgewinn seiner Leser.