Emmy Hennings: "Gefängnis, Das Graue Haus, Das Haus im Schatten"
Band 1 der kommentierten Studienausgabe
Herausgegeben von Christa Baumberger und Nicola Behrmann
Wallstein Verlag, Göttingen 2016
576 Seiten, 24,90 Euro
Radikal subjektive Gefühlsschau
In ihrem ersten 1919 erschienenen Roman erzählte die Dadaistin Emmy Hennings von ihrem Gefängnisaufenthalt. Jetzt ist die autobiografische Geschichte in drei Versionen in der kommentierten Werkausgabe "Gefängnis, Das Graue Haus, Das Haus im Schatten" erschienen.
Emmy Hennings, geboren 1885, war eine der wenigen Frauen unter den Dadaisten. Ihre schrillen Auftritte im Zürcher Cabaret Voltaire waren eine Attraktion, ihre Gedichte über Dada-Kreise hinaus bekannt.
Als allerdings Dada zur anerkannten Kunstrichtung verkam, wandte sie sich von der Bewegung ab – mit der Begründung, sie gefalle zu vielen Leuten.
Und gefallen wollte sie nicht, jedenfalls nicht mit ihrer literarischen Arbeit. Ihr erster Roman, erschienen 1919, erzählte unerfreuliches aus ihrem eigenen Leben: Von ihrem Gefängnisaufenthalt 1912 in München. Das Echo in der Presse war groß – und überwiegend positiv. Es war das erste Mal, dass eine Frau offensichtlich autobiografisch und mit literarischem Anspruch über derartige Erfahrungen schrieb.
Emmy Hennings tat das in radikal subjektiver Weise, gab Eindrücke, Stimmungen, Zustände und die Lebensgeschichten ihrer Mitgefangenen in expressionistischer Überklarheit wieder. Das Gefühl des Eingesperrtseins und der Ohnmacht, die hilflose Wut, die Einsamkeit und der ästhetische Mangel – das alles teilt sich aus ihren Schilderungen unmittelbar mit.
Männliche Vorkriegsbohème war hingerissen von Emmy Hennings
Dass diese Frau mit ihrer fragilen Mädchenhaftigkeit und Zutraulichkeit Menschen für sich einnehmen und bezaubern konnte, versteht man bei der Lektüre sofort. Die männliche Vorkriegsbohème von Berlin und München war hingerissen von der jungen Sängerin und Diseuse, Morphinistin und Gelegenheitsprostituierten. Jakob von Hoddis führte sie im Berliner Café Größenwahn ein, Johannes R. Becher war unsterblich in sie verliebt, Ferdinand Hardekopf lebte zweitweise mit (und von) ihr. Hugo Ball, mit dem sie die Rauschgiftsucht und einen mystischen Katholizismus teilte, wurde schließlich in der Schweiz ihr Ehemann. Erich Mühsam und Hermann Hesse blieben ihre Freunde bis zuletzt.
Der Göttinger Wallstein-Verlag hat nun den ersten Band einer kommentierten Werkausgabe herausgebracht, in dem Hennings' Gefängnis-Geschichte in drei verschiedenen Versionen abgedruckt und kommentiert ist. Einmal der tatsächlich veröffentlichte Roman, dann eine erweiterte ausgearbeitete Version desselben Textes, sowie die anders konzipierte, eher expressiv-essayistische Umkreisung des Gefängniserlebnisses, in der sich ihr Hang zum Mystizismus schon bemerkbar macht. Die umfangreiche Kommentierung sowie zeitgenössische Dokumente wie Zeichnungen, Rezensionen und Gedichte vervollständigen den Band, der hoffentlich den Auftakt zur Erschließung eines verstreuten und hochinteressanten Gesamtwerks bilden wird.