Emotional aufwühlend

Mike May hat bei einem Unfall sein Augenlicht verloren. Als er erfährt, dass er durch eine doppelte Stammzellen-Transplantation wieder sehen könnte, reagiert er zögerlich. Denn er ist glücklich, und die Operation könnte sein Leben grundlegend verändern. Der Wissenschaftsjournalist Robert Kurson hat eine Reportage über den spektakulären Fall der Augenheilkunde geschrieben.
"Etwas zu wagen bedeutet, vorübergehend den festen Halt zu verlieren. Nichts zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren." Mit diesem Zitat des dänischen Theologen Sören Kierkegaard beginnt der Harvard-Jurist, Philosoph und Wissenschafts-Journalist Robert Kurson seine Reportage über Mike May, den wohl spektakulärsten Fall der Augenheilkunde in den letzten zehn Jahren. Als Kleinkind hatte Mike May im Geräteschuppen ein Glas Kalziumkarbid gefunden und es unter Wasser gehalten. Die sofortige Explosion aus Acetylen-Gas und Glasscherben zerstörte sein Augenlicht.

Gut 40 Jahre später: Mike May hat sich auf integrierten Schulen durchgekämpft, hat das College und ein Elektronikstudium mit Bravour absolviert, er hat den Laser-Plattenspieler und einen GPS-Navigator für Blinde erfunden, er kann reiten und Fahrrad fahren, er ist dreimaliger Goldmedaillengewinner im Ski-Abfahrtslauf der Blinden, er sitzt in Führungsgremien diverser Behindertenverbände, er ist seit zwölf Jahren mit einer erfolgreichen Innenarchitektin verheiratet und hat zwei Söhne, die stolz darauf sind, was ihr Daddy alles kann.

Da bekommt Mike May im Herbst 1999 von einem renommierten Augenarzt in San Francisco das Angebot, durch eine doppelte Stammzellen-Transplantation der äußeren Augen-Hornhaut wieder sehen zu können.

Wer als Leser an dieser Stelle denkt "Was für eine Chance!", dem stellt Buchautor Kurson eine schlichte Frage: Würden Sie ein zusätzliches Sinnesorgan haben wollen, wie zum Beispiel Gedanken lesen können?

Und nun beschreibt das Buch unpathetisch, aber plastisch, durch welche Gewissensnöte Mike und Jennifer May gingen, just zu einem Zeitpunkt, als Jennifers Stress und Mikes Schlag bei anderen Frauen schon genug Ehekrise produziert hatten. Und - wie aus Gewissensnöten eine Identitätskrise wird.

"Jahrzehntelang war May überzeugt, dass ein Leben als Blinder um nichts schlechter sei als andere Leben und dass es für alles eine Lösung gäbe. Neugier, Wagemut, Zähigkeit – sie bildeten den Kern seines Selbstverständnisses. Doch alles, was jetzt eine besondere Leistung war, würde dann selbstverständlich sein.

Noch genoss er die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm als Vorzeige- Blinden zuteil wurden. Warum sollte er sehen wollen, wenn das zur Folge hätte,
dass ihn keiner mehr sah ?"

Ungeachtet aller medizinischen und psychologischen Risiken lässt sich Mike May am 6. März 2000 operieren und - kann wieder sehen. Zum ersten Mal im Leben sieht er seine Frau, seine Kinder, seine Mutter. Sieht sich selbst im Spiegel. Sieht die schneebedeckten Berge, die Golden Gate Bridge, seine langjährigen Freunde. Das erste Essen am Tisch, der erste Sex mit Jennifer –
es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass es die bewegenden und erschütternden, die romantischen und skurrilen Szenen zwar emotional aufwühlend, aber eben nicht rührselig erzählt.

Der Jubel ist von kurzer Dauer: Mike Mays Augen sehen wieder, aber sein Gehirn registriert die Bildinformationen nicht richtig. Er kann Männer und Frauen nicht unterscheiden, er erkennt die Gesichter seiner zwei Söhne am nächsten Tag nicht wieder, Buchstaben bedeuten ihm nichts, Einkaufen im Supermarkt ist eine Konzentrationsqual, Mimik und Gestik seiner Gesprächspartner lassen ihn vergessen, was sie eigentlich sagen. Aus einem souverän agierenden Blinden ist ein verwirrter Sehender geworden. Ein ständig erschöpfter, überreizter Mensch, der das, was er sieht, mit keinerlei Vor-Wissen verknüpfen kann und fast wie ein Demenz-Patient vieles immer neu erfragen muss.

Wie die Sache ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Denn obwohl diese bisweilen arg daherplaudernde Biografie auf den letzten 100 Seiten zum ophtalmologischen Lehrbuch mutiert und mehr Wissenschafts-Reportage als erzählendes Sachbuch ist, bleibt der Rehabilitationsverlauf des Mike May für den Leser spannend bis zur letzten Seite. Der Satz "Ich glaube nur, was ich sehe" ist sowohl philosophisch als auch medizinisch falsch: Wir sehen nur, was wir glauben. Und nennen Wissen, was sich von einer Vermutung in eine vertrauenswürdige Tatsache verwandelt hat. Diese sekundenschnelle Transformation aber hat mit Sehbehinderung wenig und mit Herzensbildung viel zu tun.

Rezensiert von Andreas Malessa

Robert Kurson: Der Blinde, der wieder sehen lernte. Eine wahre Geschichte
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz
Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2008, 414 Seiten, 23 Euro