Ute Frevert: "Mächtige Gefühle: Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900"
Verlag S. Fischer
496 Seiten, 28 Euro
"Demokratie braucht Gefühle als Ressource"
09:22 Minuten
Gefühle beeinflussen die Geschichte stark und sie sind auch höchst relevant in einer Demokratie, sagt die Historikerin Ute Frevert: "Ein demokratisches System ist sehr darauf angewiesen, seine Bürger zu mobilisieren, das tut es über Gefühle."
Ute Welty: "Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung": Historikerin Ute Frevert erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrem neuen Buch anhand von Gefühlen. Das klingt erst mal abwegig, denn angeblich macht sich Geschichte doch fest an Jahreszahlen und Fakten. Tatsächlich gibt es aber für die Geschichte der Gefühle einen eigenen Forschungsbereich, und zwar am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, und genau den leitet Ute Frevert. Über welches Gefühl wollten Sie unbedingt schreiben in Bezug auf Geschichte?
Frevert: Über alle, und die 20, die ich ausgewählt habe, sind natürlich auch nur ein Ausschnitt. Man könnte sich noch andere vorstellen, und jeder und jede, der dieses Buch lesen wird, wird irgendwas vermissen. Aber es schienen mir die 20, die einerseits am geschichtsbewegendsten waren oder auch immer noch sind, und andererseits auch diejenigen, die sich selber im Verlauf der Geschichte auch gewandelt haben.
Das, was man um 1900 – das ist ungefähr der Anfangspunkt – sich unter Scham vorstellte oder unter Solidarität, war etwas anderes, als was man heute darunter versteht und was man fühlt, wenn man es versteht.
Welty: Haben diese 20 Gefühle denn alle einen ähnlich starken Einfluss auf Geschichte, oder ist das auch unterschiedlich zu bewerten?
Frevert: Sie haben zu unterschiedlichen Zeiten einen unterschiedlich starken Einfluss. Um noch mal bei diesem Begriff der Scham oder bei dem Gefühl der Scham zu bleiben,: Das ist etwas, was so in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher auch im öffentlichen Diskurs keine so riesige Rolle spielt, dann aber vor allen Dingen nach 1945 und dann auch noch mal nach 1980 eine ganz große Wirkungsmacht besitzt im Sinne des Umgangs mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Oder nach 1989 auch im Sinne des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit.
Willy Brandts Geste der Scham und der Demut
Welty: Mehrfach in Ihrem Buch taucht Willy Brandt auf, deutscher Bundeskanzler zwischen 1969 und 1974. Inwieweit ist der für Sie so etwas wie ein Kronzeuge für die Geschichte durch Gefühle?
Frevert: Jetzt müssen wir wieder bei der Scham bleiben oder auch bei der Demut. Ja, ist mir gar nicht aufgefallen, finde ich interessant, dass Sie sagen, dass der so oft vorkommt.
Welty: Ja, mindestens drei Mal.
Frevert: Oh, wow, Frau Merkel kommt aber auch vor. Nein, Brandt ist sicherlich gerade wegen dieses berühmten Kniefalls in Warschau, der sich in diesem Jahr immerhin zum 50. Male jährt, in der Tat ein Kronzeuge für jemanden, der, obwohl er selber keinerlei Mitwirkung hatte an dem, was der Nationalsozialismus über die Welt, über Europa, in dem Fall über Polen und die osteuropäischen Juden gebracht hat, dennoch die Verantwortung dafür übernimmt und nicht nur sozusagen staatsmännische Verantwortung, so nach dem Motto, ich lege jetzt einen Kranz nieder an einem berühmten Denkmal, sondern in eine private, in eine ganz individuelle Geste der Scham und der Demut versinkt, die ja damals auch in der Tat viele Menschen berührt hat und bis heute übrigens berührt und nie wiederholt werden konnte. Insofern ist er jemand, der Verantwortung übernimmt, aber sie in ein sehr privates Gefühl der Scham übersetzt. Das ist ein Grund, warum er so oft vorkommt.
Welty: In der Politik ist der Grat zwischen Gefühl und Schwäche ja immer noch schmal. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat Tränen in den Augen, als sie 1995 ihren Rücktritt als Justizministerin erklärt. Damals heißt ihre FDP den Großen Lauschangriff für gut. Hat sich seitdem was verändert, und wenn ja, was?
Frevert: Es ist für Frauen speziell immer noch sehr, sehr schwierig, diesen schmalen Grat zu laufen und nicht abzustürzen zwischen "Oh, die ist ja zu emotional, wenn sie Gefühle zeigt!" und zugleich "Oh, die ist eisenhart, wenn sie keine Gefühle zeigt".
Männer können in der Politik strategisch Gefühle einsetzen
Welty: Maggie Thatcher ist dafür ein Beispiel.
Frevert: Maggie Thatcher, oder auch Hillary Clinton sollten Sie nicht vergessen, taucht in dem Buch nicht auf, weil es ja in dem Fall wirklich um deutsche Geschichte geht und nicht um globale, internationale Geschichte.
Gerade Frauen können das eigentlich immer nur falsch machen, während es bei Männern durchaus möglich ist, im politischen Bereich ganz gezielt, auch manchmal ganz strategisch Gefühle einzusetzen, um sich einerseits als ein Schröder’scher Kanzler zum Anfassen zu präsentieren, oder eben auch als jemand, der staatsmännisch über den Dingen steht und sich um Gottes willen nicht von irgendwelchen Sympathiegefühlen, Gefühlen der Zuneigung beeinflussen lässt und die Interessen seines Landes darüber aus dem Auge verliert.
Gefühle als Ressource der Demokratie
Welty: In den Blickpunkt der Politik gerückt sind die Gefühle der so genannten besorgten Bürger und Bürgerinnen, aber geht es da wirklich um Gefühle, und geht es nicht wirklich um Wählerstimmen?
Frevert: Es geht um beides. Gerade ein demokratisches System, was wir nun immerhin seit 1949 haben in diesem Land, zumindest im Westen dieses Landes, ist sehr darauf angewiesen, seine Bürger zu mobilisieren, zu politisieren, ihre Zustimmung zu gewinnen, und das tut es und muss es tun über Gefühle, also natürlich nicht nur über Gefühle. Gefühle sind ja auch nicht irgendwie so was total Irrationales.
Eine Demokratie arbeitet mit den Gefühlen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Denn schließlich sind Gefühle ja das, was Menschen bewegt, überhaupt etwas zu tun, aus ihren Löchern herauszukommen, sich zu empören oder auch sich zu freuen, etwas großartig zu finden, begeistert zu sein und enthusiastisch und eben in der Tat sich in Aktion zu versetzen. Deshalb braucht auch eine Demokratie Gefühle als Ressource, als Lebensressource. Ich sehe da keinen grundsätzlichen Widerspruch.
Angst, Vertrauen und Fürsorge in Coronazeiten
Welty: Und wie betrachten Sie dann in dem Zusammenhang als Gefühlshistorikerin die Zeit unter Corona-Bedingungen?
Frevert: Die ist sehr spannend, weil von Anfang an in den öffentlichen Diskursen, aber natürlich auch in den Gesprächen der Bürgerinnen und Bürger untereinander Gefühle ganz, ganz zentral gewesen sind. Natürlich das Gefühl der Angst zunächst mal – da kommt etwas, mit dem man überhaupt nicht mehr gerechnet hat. Man hat mit Terrorismus gerechnet, man hat mit Flüchtlingsströmen gerechnet, aber dass da auf einmal etwas Unsichtbares kommt und sehr, sehr gefährlich ist, jeden Einzelnen gefährdet, das ist eine Erfahrung, die aus dem Horizont der jetzt Lebenden absolut verschwunden gewesen ist.
Das bricht auf einmal ein – also Angst, Unsicherheit, dann aber so etwas wie Vertrauen, Vertrauen in eine Regierung, die auf einmal etwas tut, was kein Ökonom jemals für möglich gehalten hätte, nämlich das öffentliche Leben, die Wirtschaft mehr oder weniger anhält, um – ja, wir wissen alle warum.
Das dritte große Gefühl dann das der Solidarität, der Fürsorge füreinander, dass man einerseits natürlich um seine eigene Gesundheit besorgt ist, aber auch um das Wohlsein der Nachbarn, der Großeltern, der Kollegen, und niemanden gefährden möchte.
Ich lass jetzt all das weg, was auf den Corona-Demonstrationen zur Sprache kommt, und gehe da nur sozusagen erst mal in diese Anfangsphase. Das hat sich mittlerweile auch geändert, aber zumindest im März, April, auch noch Mai, waren das die drei ganz, ganz zentralen Gefühle, die jeder Einzelne verspürt hat, aber die auch im öffentlichen Diskurs, in der Politik, in den Medien immer wieder angesprochen worden sind.
Und das darf man ja auch nicht vergessen: Gefühle werden zwar individuell gefühlt, aber sie werden öffentlich zurückgespielt, sie werden öffentlich aufgerufen, ohne ihre öffentliche Thematisierung wären sie in der Weise, wie wir sie empfinden, gar nicht vorhanden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.