Die Sendung ist eine Wiederholung vom 16.05.2019.
Wer Wut unterdrückt, kann depressiv werden
29:33 Minuten
Wut gilt als ungehörige Emotion. Schon im Kindesalter wird uns beigebracht, sie nicht auszuleben. Das kann krank machen, warnen Psychologen. Doch es gilt, das richtige Maß zu finden. Dann kann Wut zur produktiven Kraft werden.
Ich bin auf der Suche nach der Wut. Bisher bin ich ihr eher aus dem Weg gegangen. Bloß niemanden provozieren. Menschen in Rage beunruhigen mich. Gerade das weckt aber auch meine Neugier. Was ist das für eine Emotion und wie geht man richtig mit ihr um?
Meine Reise auf den Spuren der Wut führt mich in die Schweiz. Nicht gerade ein Land, in dem die Menschen für ihr aufbrausendes Temperament bekannt sind.
In St. Gallen lebt die Psychologie-Professorin Verena Kast. Autorin des Buches "Vom Sinn des Ärgerns". Die Wissenschaftlerin hat lange an der Universität Zürich die Emotionen ihrer Landleute erforscht. Sie versichert mir, dass auch die Schweizer durchaus wütend sein können. Zum Glück!
"Schwierig finde ich Menschen, die gar nicht wahrnehmen, dass sie ärgerlich sind oder das vielleicht sogar umbenennen und sagen: 'Ja, ich bin jetzt ungeheuer traurig'", so Kast. "Aber eigentlich sind sie ärgerlich. Die können den Ärger nicht nutzen. Denn der Ärger sagt mir ja, da geht mir einer über die Grenze, da beleidigt mich jemand in meinem Selbstwertgefühl, in meiner Selbstidentität. Ich muss das anmahnen."
Wut hilft, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Sie ist ein Signal nach innen und nach außen. Das wütend verzerrte Gesicht zeigt meiner Umwelt an, dass jemand zu weit gegangen ist und man besser Abstand halten sollte.
"Also, man muss dem anderen nicht den Kopf abbeißen", sagt Verena Kast. "Aber wo man einfach merkt: 'So da ist jetzt die Grenze und wie gehen wir jetzt mit dieser Grenze um?"
Jede Familie hat ihren "Emotionsstil"
Die Intensität der Wut ist sehr variabel und nicht nur abhängig vom Grad der erfahrenen Grenzüberschreitung.
"Ich denke, Temperament ist eine Sache, mit der man auf die Welt kommt, und dann hat man natürlich hinterher eine Familie und in einer Familie gibt es ja auch Emotionsstile. Es gibt Familien, da darf man überhaupt nicht platzen, es gibt andere Familien, da platzen alle lustvoll."
Boris zum Beispiel, Handwerker aus Brandenburg, sagt:
"In meiner Familie waren wir nicht wütend oder aufbrausend oder wurden schnell gemaßregelt. Erst einmal überlegen, worum es wirklich geht und klare Sätze formulieren. Und oft bin ich von anderer Stelle dann mit einer Rage und Wut konfrontiert, mit der ich eben nicht umgehen kann."
"In meiner Familie waren wir nicht wütend oder aufbrausend oder wurden schnell gemaßregelt. Erst einmal überlegen, worum es wirklich geht und klare Sätze formulieren. Und oft bin ich von anderer Stelle dann mit einer Rage und Wut konfrontiert, mit der ich eben nicht umgehen kann."
Ausflüge in die Wut, die auch mal lauter werden durften, gab es in Boris' Kindheit nicht. Es wurde diskutiert, aber nicht laut gestritten. Das hat ihn geprägt:
"Ich bin nicht jemand, der dagegen bollern kann. Ich knete dann eher an Sätzen über Nacht und kann dann am nächsten Tag eine Mail schreiben oder irgendwie eine Antwort geben. Aber ich bin fasziniert von Menschen, die sich einen wirklichen Schlagabtausch geben können. So schnell fallen mir die Worte gar nicht ein."
Wer Wut nicht ausleben kann, agiert oft passiv-aggressiv
Lange dachte der Handwerker aus Brandenburg, dass er selbst gar nicht richtig wütend sein kann. Die Emotion schien ihm völlig fremd, bis ihm etwas auffiel:
"Dass ich andere Leute meine Wut leben lasse, weil ich oft Situationen geschaffen habe, wo jemand auf mich angewiesen ist, weil ich etwas repariere oder einen Umzug fahre, aber ich komme halt eine halbe oder eine Stunde zu spät und eigentlich brauchen die Leute mich, aber könnten mich in der Luft zerreißen."
"Das ist ein sehr schönes Beispiel", sagt der Psychiater René Hurlemann, der sich am Universitätsklinikum Bonn mit der Regulation von Emotionen beschäftigt. "Das zeigt letztlich, dass bestimmte Lernerfahrungen ausgeblieben sind. Natürlich empfindet auch diese Person Wut. Diese Wut wird aber nicht in dem Sinne ausagiert, dass es zum Beispiel zu aggressivem Verhalten gegenüber anderen Personen kommt, sondern das wird eher passiv-aggressiv ausagiert."
Dass er die Leute nicht aus Versehen warten lässt, ist Boris schon früher aufgefallen:
"Das ist wirklich übergriffig, wie ich mit fremder Leute Zeit umgehe. Und früher habe ich es mir halt angehört oder habe mich in den Regen gestellt, habe mich nass pissen lassen sozusagen und bin nach Hause gegangen. Und bin dann eher so wütend gegangen. Also: 'Die sind Spießer, die sind gegen mich', habe dann so für mich rumgekocht und eher die nächste Situation boykottiert oder bin gar nicht mehr hingegangen."
"Das ist wirklich übergriffig, wie ich mit fremder Leute Zeit umgehe. Und früher habe ich es mir halt angehört oder habe mich in den Regen gestellt, habe mich nass pissen lassen sozusagen und bin nach Hause gegangen. Und bin dann eher so wütend gegangen. Also: 'Die sind Spießer, die sind gegen mich', habe dann so für mich rumgekocht und eher die nächste Situation boykottiert oder bin gar nicht mehr hingegangen."
"Man geht nicht in die direkte Konfrontation, sondern zieht sich zurück", erklärt Hurlemann dieses Reaktionsmuster. "Das heißt, man bleibt zuhause, wenn man sich wütend fühlt, weil man zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem Chef, mit der Chefin scheut. Solch passiv-aggressives Verhalten, das erleben wir auch an den hohen Krankenständen, hat ja auch einen krankheitswertigen Effekt. Ich denke, wir sind gut beraten, uns zu überlegen, ob wir solchen Menschen nicht auch ermöglichen können, Wut ausagieren zu können."
Im Wutseminar lernen, Gefühlen nachzuspüren
Menschen die Möglichkeit geben, ihre Wut zu erforschen. Das wollen Friederike von Aderkas und Jelka Mönch in ihren Wutkraft-Seminaren.
"Also vor allem Wut schon einmal zu spüren", sagt Jelka Mönch. "Ich glaube, dass die Wenigsten von uns wirklich in einem Umfeld aufgewachsen sind, wo es absolut okay war, Wut zu fühlen und dadurch kein Kontaktabbruch entstanden ist."
Wenn Eltern ihre wütend schreienden Kinder alleine lassen, erleben diese das als Bestrafung, erklärt die Diplom-Psychologin.
"Mit dem Effekt, als Kind zu sagen, bevor ich diese Bindung in Gefahr bringe – natürlich nicht bewusst – verliere ich lieber mich selbst und den Kontakt zu mir selbst. Das heißt, ein Teil dieser Wut wird abgespalten, unterdrückt häufig, was Folgen hat als Erwachsener, dass ich das nicht zur Verfügung habe als Kraft."
"Damit ich Entscheidungen treffen kann", ergänzt Friederike von Aderkas, "damit ich klar sein kann mit meinem Gegenüber, dass ich Ja und Nein sagen kann zum Beispiel, also, diese Energie der Wut ist quasi mein Motor dafür, handlungsfähig zu sein."
Trotz Wut miteinander in Kontakt bleiben. Darum geht es bei der Übung, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich Rücken an Rücken durch den Raum schieben und mitteilen, was ihnen gerade nicht passt.
Es können Worte sein wie: Es reicht, lass mich oder ich will, dass du da bleibst. Es hilft, dass sich die Partner bei der Übung nicht angucken müssen, sich aber trotzdem spüren.
"Also, für mich gibt es auf jeden Fall auch diese Spur, dass ich vielleicht zu jemanden sage: 'Hey, verpiss dich, ich will dich gerade nicht sehen, geh weg'", sagt Friederike von Aderkas. "Und es aber auch diesen kindlichen Anteil in mir gibt, der sagt: 'Bitte, geh auf gar keinen Fall raus aus diesem Raum'. Wenn ich dann die Erfahrung mache, dass er bleibt, wirklich auch etwas in mir zur Ruhe kommen kann, ich entspannen kann, sage: 'Hey, es ist okay. Ich darf meine Meinung kundtun, ich darf eine andere Meinung haben, ich darf etwas brauchen, wo du vielleicht sagst, ich bin nicht die Person, die das gerade erfüllt, aber ich bleibe da.'"
Die wenigsten Übungen im Seminar von Friederike von Aderkas und Jelka Mönch sind so laut wie die Rangelei Rücken an Rücken. Den beiden geht es nicht in erster Linie um den karthatischen Ausdruck, sondern darum, der Wut nachzuspüren. Das funktioniert auch ganz leise:
"Also eher das Körpergewahrsein zu schulen, um zu schauen, wo im Körper ist diese Energie, wohin will die sich bewegen, wo ist die blockiert?", betont Jelka Mönch. "Was sind da noch für Gefühle, was sind da noch für Lebenswelten, was kommen für Gedanken dazu? Also, all diese Facetten zu verlangsamen, um Bewusstheit darin zu schulen. Dass es schon natürlich im Körper sein darf, es aber nicht um einen wilden Ausdruck geht."
Die Wut entsteht vor allem im alten Teil des Gehirns
Wenn man Wut verstehen möchte, sollte man auch den Ort betrachten, an dem die Emotion entsteht: unser Gehirn. Verschiedene Regionen spielen hier eine Rolle. Gemeinsam reagieren sie als Netzwerk.
Neurowissenschaftler René Hurlemann erforscht an der Bonner Universitätsklinik für Psychiatrie die verantwortlichen Strukturen:
"Da kann man zum Beispiel die Amygdala nennen. Das ist quasi der Sensor in unserem Gehirn, der auf soziale Signale reagiert. Und wenn wir beleidigt werden, wenn wir angegangen werden herablassend, dann ist die Amygdala die Struktur, die zum Beispiel einen Gesichtausdruck registriert und auch den Körper auf eine Reaktion einstellt, noch bevor uns dieser Gesichtsausdruck bewusst wird."
Die Amygdala sensibilisiert uns in Millisekunden für Gefahren und versetzt das Gehirn in einen Alarmzustand. Der Körper wird auf einen Kampf vorbereitet, Hormone werden ausgeschüttet. Das passiert in den alten Regionen unseres Gehirns, jenen archaischen Strukturen, die früher das Überleben gesichert haben.
"Und gleichzeitig versucht dann der präfrontale Kortex, die Stimme der Vernunft durchzubringen und das, was da schwelend in den unteren, in den älteren Bereichen des Gehirns entsteht, wieder herunter zu regulieren", sagt Hurlemann. "Das kann manchmal gelingen und manchmal fehlschlagen und dann kann unter Umständen Gefahr in Verzug sein. Das sind dann eben genau die Fälle, wo jemand vielleicht eine Straftat begeht, weil er jemanden schlägt oder umbringt, weil er dann diese Wut nicht mehr hat steuern können."
Jüngste Forschungen an der Harvard Medical School in Boston und der Columbia University in New York haben ergeben, dass die Funktionalität des präfrontalen Kortex und die Netzwerke in unserem Gehirn nicht nur durch genetische und hormonelle Faktoren bestimmt werden, sondern auch durch das soziale Umfeld, in dem wir aufwachsen.
"Bin ich unterstimuliert, dann kann ich bestimmte Verbindungen, bestimmte Faserbahnen nicht im ausreichenden Maße ausbilden. Bin ich überstimuliert, führt auch das zu Veränderungen dieser Netzwerke", so Hurlemann. "Es kommt also auf die richtige Dosis an, und es zeigt sich eben, dass ein gewisses Maß an Stresserleben gar nicht so schlecht ist. Also, es geht gar nicht darum, dass man nie Kränkung erlebt, sondern es geht darum, damit dann in einer adäquaten Form umzugehen. Aber wenn die Stimulation, also dieses Lernen nicht erfolgt, dann können sich diese Strukturen auch nicht ausreifen und dann muss das später passieren."
Wut hat immer mit Selbstwert zu tun
Institut für genderreflektierte Gewaltprävention in Berlin. Hier können zur Aggression neigende Kinder und Jugendliche lernen, besser mit ihrer Wut umzugehen.
"Zu jedem Raum gehört auch immer eine Flipchart", sagt Co-Geschäftsführerin Christiane Quadflieg. "Auch ganz wichtig. Wir halten ganz viel fest. Damit wir alles, was wir entwickeln, damit wir aktiv daran arbeiten können. Dass man gemeinsam in den zwei Stunden den Raum gestaltet und daran merkt, wir sind da dran etwas zu machen, wir sind am Arbeiten."
An der Flipchart hängt noch das Ergebnis aus einer der letzten Trainingsstunden. Unter der Frage "Was macht mich wütend?" hat jemand mit dicken Eddingstrichen verschiedene Situationen aufgelistet: "Wenn man mich blamiert", steht da zum Beispiel. "Wenn man mich nicht reinlässt", "Wenn man mich im Stich lässt" und "Wenn man mich terrorisieren tut".
"Oft reichen ja relativ neutrale, aber zu lange Blicke aus, um so etwas auszulösen", sagt die andere Geschäftsführerin, Uli Streib-Brzić. "Bis die hier angekommen sind, haben die schon gefühlt hundert solche Situationen erlebt, wo jemand dann blöd guckt. Und dann zu sagen: Was denkst du denn eigentlich alles so, während man so geht? Was könnten die anderen denken, während die dich anschauen? Da mehr Optionen zu haben als dieses feindselige 'Die will mir nur oder der will mich provozieren, der hat keinen Respekt', um da die Bandbreite größer zu machen."
Wut hat immer etwas mit dem Selbstwert zu tun. Allein sich Ablehnung vorzustellen, reicht schon aus, die Emotion zu triggern. Meistens liegen dem aggressiven Verhalten der Jugendlichen aber auch reale Verletzungen in ihrer Vergangenheit zugrunde. Ein Ziel des Trainings ist es, diese aufzuspüren:
"Oft sind es zum Beispiel heftige Opfererfahrungen, Diskriminierungserfahrungen, also dass sozusagen eine Umkehrung von einem Ohnmachtsgefühl in ein handlungsmächtiges Aktivwerden mit Wut kombiniert wird", betont Christiane Quadflieg. "Also: 'Jetzt habe ich genug davon, jetzt gehe ich in die andere Position.'"
Die beiden Soziologinnen erklären mir, dass das Training immer individuell angepasst werden muss. Es gibt kein Patentrezept. Manchen hilft die Arbeit mit Symbolen, um den Jugendlichen zu zeigen, dass sie unterschiedliche Anteile in sich haben:
"Ja, hier haben wir also unsere Symbolkisten, hier ist alles drin, von einem kleinen Buch bis zu einem kleinen Sessel aus einer Puppenstube wahrscheinlich", sagt Quadflieg. "Zum Beispiel sucht der/die Jugendliche dann nach einem Symbol für seine Wut oder seinem aggressiven Anteil."
"Hier so eine Art Drachen, der oft genommen wird", ergänzt ihre Kollegin. "Mit aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen."
"Aber wir suchen dann ja auch immer nach gegenspielenden Teilen zu dieser Wut und da werden dann oft so kleine süße Kuscheltierchen genommen, hier so eine kleine Maus, die man auch fühlen kann, also das ist mein Schmuseanteil."
"Oder das Buch…"
"...Ich will eigentlich in die Schule, ich will einen Abschluss machen."
Die Jugendlichen ordnen die Symbole ihrer inneren Anteile dann so an, dass sie dem wütenden Drachen etwas entgegensetzen. Manche wählen auch ein kleines Stopp-Schild, das für die Vernunft steht.
"Um dann zu sehen: 'Aha, ich bin nicht nur die Wut', sagt Streib-Brzić. "Das ist so eine nicht sprachliche, analoge Methode, die dann tatsächlich auf der unbewussten Ebene auch funktioniert und klar machen kann: 'Aha, ich bin mehr als das und ich bin in der Lage, das zu steuern.'"
Unterdrückte Wut kann sich auf fürchterliche Weise entladen
"Es ist immer wieder zu beobachten, dass dann minimale Auslöser genügen, um eine oft über Jahre angestaute Emotion in einem Ausmaß zu Tage zu fördern, das alle Betroffenen dann entsetzt, weil, der Anlass kann doch nicht in einer nachvollziehbaren Relation stehen zu der Reaktion", sagt Heidi Kastner, Chefärztin der Universitätsklinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt in Linz. Sie ist regelmäßig mit Fällen konfrontiert, in denen sich unterdrückte Wut auf fürchterliche Weise ihren Weg bahnt:
"Das sind zum Beispiel diese Fälle, wo dann jemand einen anderen zusammenschlägt, weil der ihm gerade einen Parkplatz weggenommen hat. Wenn das aber jemand ist, der andauernd das Gefühl hat, dass er benachteiligt wird, dass die anderen ihn nicht ernst nehmen, dass er zu kurz kommt, dass er sich nicht durchsetzen kann, dann kann dies der berühmte letzte Tropfen sein, der ein schon randvolles Fass schlussendlich auf dramatische Weise zum Überlaufen bringt."
Dazu müsste es nicht kommen. Heidi Kastner ist überzeugt, dass in unserer Gesellschaft mit Wut falsch umgegangen wird:
"Weil Wut aus meiner Erfahrung eine ungehörige Emotion geworden zu sein scheint, die man im Alltag tunlichst nicht zeigen und schon gar nicht ausleben sollte und im Sinne der Scheinharmonisierung unseres Umgangs miteinander und der Behübschung von kantigen Sachverhalten, hat man auch die Kante der Wut etwas abgerundet und irgendwann mal beschlossen, dass es nicht mit dem Verhalten eines adäquat sozialisierten Menschen verträglich ist, wenn der sich wütend zeigt."
Ein großer Fehler, findet die Psychiaterin. Nicht nur weil unterdrückte Wut zur Eskalation führen kann. Auch die Kommunikation sei beeinträchtigt. Wer seine Grenzen nicht offenbart, könne nicht erwarten, dass der andere darauf Rücksicht nimmt.
"Die Wut zeigt mir jedenfalls auf, es stimmt etwas nicht", sagt Kastner. "Hier stinkt es, hier ist etwas für mich nicht passend. Und dann kann man ja sich hinsetzen und überlegen: Liegt es an mir, bin ich überempfindlich, weil ich mich heute schon dreimal geärgert habe? Oder liegt es wirklich am anderen, der immer wieder über mich drüberfährt?' Dann mag es sein, dass der andere wirklich grenzüberschreitend unterwegs ist und dass ich durch meine Emotion angehalten werde, diese Situation zu bereinigen und zu verändern."
Plötzlich stand die Polizei vor der Tür
"Das ist für mich sehr persönlich darüber zu sprechen. Wir haben einen sehr schweren Verlust erlitten vor zwei Jahren, und an dem Friedhof, wo unser Kind beerdigt ist, sind Parkgebühren eingeführt worden. Und wir haben um eine Ausnahmegenehmigung gebeten und haben die nicht bekommen."
Bei einem Spaziergang erzählt Beatrice von dem Tag, als sie von ihrer Wut überrollt wurde.
Die trauernde Mutter kann nicht akzeptieren, dass sie die Parkuhr füttern muss, wenn sie Zeit am Grab ihres Sohnes verbringen möchte. Ein Telefonat mit dem Ordnungsamt sollte eine Lösung bringen. Bei ihrem Gesprächspartner stieß sie aber auf Unverständnis.
"Und dann bin ich irgendwann völlig ausgeflippt am Telefon, und er meinte dann noch: ‚Schreien, Sie mich nicht an!` Und dann habe ich gedacht: 'Ja, wenn er schon drum fragt.' Und dann habe ich mich erst einmal in die Küche gesetzt, um mich zu beruhigen und da klingelt es bei uns an der Tür und dann standen da sieben bis an die Zähne bewaffnete Polizisten vor der Tür. Ich habe gedacht: Was ist denn jetzt los? Und der eine sagte dann noch: 'Wir haben gehört, Sie haben ein Problem mit einem Parkplatz.' Und dann habe ich gefragt, ob er mich für dumm verkaufen will. Dieser Mensch vom Ordnungsamt hatte scheinbar das Gefühl, es bestehe Gefahr für Leib und Leben meinerseits, also, ich würde mir etwas antun wollen."
Die Situation mit dem Polizisten lässt sich klären, aber die Wut bleibt.
"Mich hat erschrocken, dass ich mich selber nicht mehr beruhigen konnte. Wenn man wütend ist, aus dem Gefühl heraus, man wird nicht gehört", sagt Beatrice. "Und dann hat mir ein Freund von dem Wutkraft-Seminar erzählt und da habe ich gedacht, das ist scheinbar ein großes Thema für mich, wenn ich mich nicht mehr beruhigt kriege, dann wird es gefährlich für mich und auch für meine Umwelt. Ich war wirklich drauf, könnte man fast schon sagen, weil mich das so tief verletzt hat, was da passiert ist."
Das Seminar hat Beatrice geholfen, einen anderen Blick auf ihre Wut zu bekommen, die Emotion nicht mehr als etwas Schlechtes zu sehen.
"Wir hatten eine Übung, da sollten wir im Geiste die Wut vor uns hinsetzen und danach haben wir den Platz getauscht, haben uns an den Platz unserer Wut gesetzt und haben als Wut auf uns geguckt", erzählt sie. "Und die Wut sollte uns auch noch etwas schenken und die hat mir so Boxhandschuhe geschenkt in meiner Vorstellung. Und ich habe die Wut dann auch aufgemalt mit ihren Boxhandschuhen und die war so ganz rot und rund. Um sie herum waren aber auch so leuchtende Kreise. Also, die Wut führt auch dazu, dass man sichtbar wird. Dass man da ist. Dass man präsent ist."
Diese Energie will sie in Zukunft für sich nutzen:
"Dass ich nicht mich im stillen Kämmerlein um mich selber drehe und immer wütender werde, sondern dass ich gucke, welcher Handlungsimpuls kommt mir jetzt, was kann ich tun. Und damit ist erst einmal das, wofür die Wut gut ist, aus mir raus."
Hinter der Depression steckt oft unterdrückte Wut
"Ich finde, das ist eben auch wichtig. Bei der Wut ist eigentlich sehr viel Haltung da, sehr viel Spannung da, da ist Energie da und das macht den meisten Menschen Freude", sagt Verena Kast.
Wer sich dagegen die Wut verbietet, hat nicht selten mit Depressionen zu kämpfen. Der Schweizer Psychologieprofessorin ist das bei ihrer Arbeit sehr häufig begegnet:
"Wenn man mit depressiven Menschen arbeitet, merkt man, dass man als Therapeut, als Therapeutin sehr viel Wut spürt. Also man geht davon aus, dass dieser Mensch sich ungeheuer anpasst und davon ganz viel von dem, was er möchte und denkt, im Hintergrund hat. Und das kann depressiv machen. Also geht man wieder dahin, was darf denn jetzt eigentlich alles nicht mitleben? 'Wie erleben Sie es, wenn es Ihnen jetzt nicht gelingt, in einer Situation aufzustehen und zu sagen, ich finde, es wäre jetzt eigentlich wichtig, dass wir das miteinander bedenken?' Und es gibt dann auch eine leise Freude dran: 'Ach so, es gibt diesen energiegeladenen Anteil in mir.'"
Zumal Forschungsergebnisse ja auch zeigten, dass chronisch unterdrückte Wut beispielsweise im Rahmen einer Depression auch die Anfälligkeit für Herzkreislauferkrankungen erhöht, ergänzt René Hurlemann. "Weil sie sich eigentlich durch permanent erhöhte Stresslevels auszeichnet und das ist für den Organismus überhaupt nicht günstig."
Starke Wut muss ausagiert werden. Das sagen mir alle Expertinnen und Experten. Die Frage ist immer nur, wie das sozialverträglich gelingen kann. Hilft es beispielsweise in sogenannten Wuträumen auf Sperrmüll einzudreschen oder im Wald Bäume anzuschreien?
"Wie sollte sich meine unerquickliche Ausgangssituation durch das Anschreien eines Baumes verändern? Also was soll dann der Baum machen?", fragt Heidi Kastner. "Das ist vielleicht eine Methode, gegen unbelebte Objekte vorzugehen, wenn man selber spürt, dass es notwendig ist, dass man einmal Luft rauslässt, bevor man ins vernünftige Denken kommen kann und in eine Lösung. Dann kann es ein Ventil sein, das aber auch ad hoc eingesetzt werden sollte. Wut, die wirklich so heftig ist, dass sie nach abreagieren schreit, kann ich nicht für den Urlaub konservieren und sie dort in gebuchten Räumen an Sperrholzmöbeln abreagieren."
Verena Kast geht in solchen Situationen einfach laufen, sagt sie. "Weil ich einfach finde, beim Laufen kommt man wieder zu sich, man ist ja nicht mehr bei sich, wenn man so wütend ist. Und beim Laufen kommt man irgendwie wieder in Kontakt mit sich selber und wird dann sehr klar darüber, was muss ich jetzt tun."
Die Angst vor der Wut überwinden
Boris, der Handwerker aus Brandenburg, bereitet uns bei sich noch einen Kaffee zu. Die Bohnen werden von einer alten Mühle gemahlen, an die er eine Handbohrmaschine angebaut hat.
Eine von vielen seiner kleinen Konstruktionen und Erfindungen. Als Quelle seiner Kreativität sieht er mittlerweile seine Wut. Seine Einstellung zu der Emotion hat sich völlig geändert:
"Also, ich denke oft in Bildern. Und ich hatte den Eindruck, meine Wut ist ein Border Collie, ich sitze da viel zu dicht vor, so richtig mit der Nase im Pelz. Und das ist zottig und die Krallen sind gefährlich und die Zähne, das stinkt auch ein bisschen und ich denke immer so: Das mag ich nicht! Aber so mit fünf Meter Abstand wird das etwas ganz anderes. Die wartet wie so ein Border Collie: 'Los gib mir Aufgaben!' Die jibbelt rum und hat Lust, etwas zu tun. Und wenn es keine Aufgaben gibt, dann macht die Unfug, dann langweilt die sich."
Die Angst vor der Wut überwinden. Auch mir war die Begegnung erst einmal unangenehm. Das geht aber fast jedem so, wie mir Neuroforscher René Hurlemann erklärt:
"Das ist ja gerade die Sozialfunktion von Wut. Und alles, was den Menschen Angst macht, ist etwas, was sie gerne tabuisieren, was sie wegschließen wollen, womit sie sich nicht so intensiv beschäftigen wollen. Gerade das ist unter Umständen etwas, wo man aber eigentlich ganz gut ansetzen könnte, um Wut einfach besser zu verstehen. Und vor allem auch die Hintergründe von Wut besser zu verstehen, also Kränkung beispielsweise."
"In dem Moment, wo ich weiß, wo meine Wut herkommt, kann ich dafür Verantwortung übernehmen und entscheiden, damit umzugehen", sagt Beatrice. "Wenn ich das nicht mache und das unbewusst ist, dann passieren solche Sachen, dass man eben hochschießt und dass es dann eben auch im Falle der Wut sehr zerstörerisch werden kann."
Beatrice und Boris haben mir gezeigt, wie viel der aktive Umgang mit Wut in Bewegung bringen kann. Es ist wichtig, sich der Emotion bewusst zu sein. Dann kann man sie auch für sich nutzen.
"Einfach zu sagen: 'Hey, das ist einfach die Kraft, die Leben mitbringt, ganz viel'", sagt Boris. "Und auch, dass ich mir das mehr zugestehe, wenn ich jetzt wirklich eine andere Meinung habe, dass ich auf den Tisch hauen kann, also so, dass ich für mich einstehe."
"Genau", stimmt Beatrice zu. "Das ist ja ein Gefühl, was einen in die Aktivität bringt, dem auch nachzugeben und sich selbst einfach auch erlauben, wütend sein zu dürfen. Und wenn man dann eben nicht gemocht wird, dann ist es so. Und wenn man trotzdem gemocht wird, noch besser. Man kann nicht, damit einen alle mögen, nicht wütend werden. Das ist Quatsch. Das bringt nichts."