Åsne Seierstad: "Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad"
Kein & Aber, 528 Seiten, 26 Euro
Unsere Lieblinge unter den Sachbüchern von 2017
Das Bücherjahr 2017 hat wieder ein reichliches Füllhorn nicht nur an Romanen, sondern auch an Sachbüchern über uns ausgeschüttet. Die Lesart-Redaktion stellt ihre Lieblinge vor, für die es sich lohnt, den Büchergutschein von Weihnachten einzulösen.
Das ganze Jahr über hat das Sachbuch-Team von Deutschlandfunk Kultur die Neuerscheinungen gesichtet. Heute kommen die Kollegen und Kolleginnen in der Lesart zusammen und ziehen Bilanz: Welches Buch hat uns ganz persönlich im Jahr 2017 am tiefsten beeindruckt?
Kim Kindermann empfiehlt:
Das Buch "Zwei Schwestern: Im Bann des Dschihad" erzählt die Geschichte zweier Mädchen aus einer somalischen Familie, die in Norwegen aufgewachsen sind und von dort nach Syrien in den Dschihad ziehen. Was geht in solchen jungen Frauen vor? Warum radikalisieren sie sich? Die norwegische Journalistin Åsne Seierstad hat detailreich recherchiert und rückt ihren persönlichen Blick ins Zentrum. Exemplarisch schildert sie, warum sich diese beiden jungen Frauen dem IS anschließen wollen. Seierstadt zeichnet das beklemmende Bild einer Familie, die nie wirklich in Norwegen angekommen ist. Die Eltern wollen nicht sehen, was sie selbst falsch gemacht haben. Die Töchter verstehen ihre eigene Islamisierung als Aufbegehren gegen die Eltern. Die Mitschüler haben die beiden Mädchen nie ganz angenommen. Und die Lehrer reagieren sprach- und hilflos auf die Radikalisierung ihrer Schülerinnen. Åsne Seierstad hat ein literarisches Sachbuch vorgelegt, dessen erzählerischem Sog man sich kaum entziehen. Ein sehr starkes Buch, das fesselt und beunruhigt.
Florian Felix Weyh empfiehlt:
"Glückliche Menschen ziehen nicht vor Gericht", schreibt Petra Morsbach in ihrem Roman "Justizpalast", und sie stellt fest: "Normale Menschen verzichten um des lieben Friedens Willen auch mal auf ihr gutes Recht. Und wenn das nicht so wäre, bräche der Rechtsstaat zusammen." Die Richterin Thirza Zorniger will Gerechtigkeit schaffen und muss erkennen, wie der Rechtsstaat knirscht und ins Wanken gerät und von Anwälten überfordert wird. Denn, so lässt Morsbach es einen Richterkollegen sagen, "wir sind die Müllabfuhr der Gesellschaft". Sie schildert das Justizwesen, das Rechtssystem und die philosophischen Grundlagen des Rechtsstaates. Man lernt – ohne es recht zu bemerken – sehr viel über dieses "Milieu der geschliffenen Schwarmintelligenz". Man begreift, wie der Rechtsstaat jenseits aller Erwartungen und Rechtsgefühle und unseres Gerechtigkeitsempfindens funktioniert: als Regelwerk, das manchmal fast mathematisch funktioniert. Das ist alles sehr gut geschildert, es ist gleichzeitig auch emotional und es hat auch eine philosophische Komponente. Ein bemerkenswerter Roman, der eigentlich ein großartiges Sachbuch ist.
Petra Morsbach: "Justizpalast"
Knaus, 480 Seiten, 25 Euro
Shelly Kupferberg empfiehlt:
Chris Kraus ist ein unglaublicher, intensiver, geradezu besessener Erzähler und Fabulierer. Das Buch "Das kalte Blut" ist Familiensaga, Geschichtsbuch und Spionagethriller in einem – vom Zarenreich durch die politischen Wirren der Russischen Revolution, durch Ersten und Zweiten Weltkrieg bis in die bundesrepublikanische Nachkriegszeit. Es handelt sich um seine eigene Familiengeschichte, die Chris Kraus über zehn Jahre lang akribisch recherchiert hat. Genauer: Die Geschichte seines Großvaters und seiner Onkel, Deutschbalten, die dann unter den Nazis große Karrieren hinlegten. Chris Kraus – geboren 1963 – fand erst nach dem Tod des Großvaters heraus, dass sein geliebter Opa ein ranghoher Nazi war und nach dem Krieg beim Bundesnachrichtendienst in viele Spionagetätigkeiten verwickelt war. Chris Kraus hat mit diesen Figuren sehr zwiespältige Charaktere geschaffen, die trotz ihrer furchtbaren Taten nicht unsympathisch werden. Das ist zwar fast eine Zumutung, die aber sehr viel mehr Wahrheit in sich trägt als holzschnittartige Schwarz-Weiß-Geschichten. Und damit hat Chris Kraus auch ein sehr mutiges Buch geschrieben. Denn nicht viele Autoren haben den Mumm, in solch tiefe Abgründe wohl gehüteter Familiengeheimnisse zu schauen und den Leser auch noch dabei so zu fordern. Eine faszinierende Lektüre.
Chris Kraus: "Das kalte Blut"
Diogenes, 1200 Seiten, 32 Euro
Svenja Flaßpöhler empfiehlt:
Andreas Reckwitz erzählt von einem Paradigmenwechsel. Bis in die 1970er Jahre hinein habe das Paradigma des Allgemeinen gegolten: in der industriellen, moderne Gesellschaft galt eine nivellierte, standardisierte Mittelstandsgesellschaft als Ziel – was mein Nachbar hatte, das sollte und wollte auch ich haben. Seit den 1970er Jahren brachte die neu wachsende Schicht der universitär Gebildeten einen Wertewandel mit sich: weg vom Standard, hin zur Selbstentfaltung, zur Liberalisierung, zur Autonomie. Diese Entwicklung beschreibt Reckwitz einerseits als Befreiung, aber auch mit ihrem enormem Enttäuschungs- und Frustrationspotenzial. Vor allem aber macht Reckwitz deutlich, dass wir nicht etwa tatsächlich einzigartig seien – sondern die Singularität und Einzigartigkeit performen. Die scheinbare Einzigartigkeit werde sozial fabriziert. Besonders spannend wird Reckwitz, wenn er die Politik ins Auge nimmt. Er beobachtet links wie rechts eine "Politik des Besonderen": links im Kampf um die Anerkennung und Identität von marginalisierten Minderheiten – rechts im nationalistischen Beharren auf Identitäten. Beide Bestrebungen eint, meint Reckwitz, dass sie sich auf das Besondere besinnen: auf das Singuläre der eigenen Existenz. Reckwitz entwickelt seine provokante These der "Gesellschaft der Singularitäten" sehr konsequent. Mit ihr lassen sich die wesentlichen Phänomene, Entwicklungen und Pathologien der Gegenwart erklären. Wer unsere Zeit verstehen will, sollte unbedingt Andreas Reckwitz lesen.
Andreas Reckwitz: "Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne"
Suhrkamp, 480 Seiten, 28 Euro
Christian Rabhansl empfiehlt:
Ein Sachbuch wie ein Thriller! Für diese Reportage hat Souad Mekhennet hinter den Fronten des Dschihad recherchiert und dabei immer wieder ihr Leben riskiert. Die investigative Reporterin der Washington Post trifft Chefstrategen des IS, sie erforscht die Strategien der Rekrutierer, sie will verstehen, was den islamistischen Terror nährt. Das Ergebnis ist weit mehr als ein kluges Sachbuch. In fast intimem Tonfall verwebt Souad Mekhennet ihre Recherchen mit ihrer persönlichen Lebensgeschichte: familiäre Wurzeln in der Türkei und in Marokko, aufgewachsen und studiert in Deutschland, immer wieder ausgegrenzt. Diese Erfahrungen teilt sie mit so manchem Dschihadisten. Sie will verstehen, ohne je Verständnis für den Terror zu haben. Dabei beweist Souad Mekhennet immer wieder außergewöhnliche Courage, um den Hintermännern und den Hintergründen des Terrors nahe zu kommen. Sie beschreibt, nach welchem Muster junge Muslime in Europa angeworben werden. Wer begreifen will, wie die blinden Flecken des Westens und die Menschenrechtsverletzungen im Namen der Terrorbekämpfung den Rekrutierern des Terrors helfen, sollte Souad Mekhennet lesen. Dieses Buch beeindruckt – als IS-Reportage und als Biographie.
Souad Mekhennet: "Nur wenn Du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad"
C.H. Beck, 384 Seiten, 24,95 Euro