Kommentar zur Bundestagswahl

Empörung als Wahlkampfstrategie

04:22 Minuten
CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz blickt in die Kamera.
Die neueste Empörung des Friedrich Merz bezieht sich auf eine Bundestagsinitiative zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches. Das sei „skandalös“ und ein „Affront“, beschied er. © IMAGO / dts
Überlegungen von Gilda Sahebi |
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Der Wahlkampf zur Bundestagswahl hat begonnen, und wieder gibt es viele einfache Botschaften, die Emotionen wecken sollen. Mittendrin: der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, der oft "empört" und "fassungslos" ist. Warum?
Friedrich Merz ist oft empört. Er ist „fassungslos“, wie in der Bundesregierung gestritten wird, er ist „fassungslos“ über die Sprachlosigkeit des Bundeskanzlers. Er ist auch gerne mal für andere fassungslos: Die ganze Welt sei „fassungslos“ darüber, was in der Bundesrepublik passiert, genauso wie die deutsche Wirtschaft „fassungslos“ sei. Die neueste Empörung des Friedrich Merz bezieht sich auf eine Bundestagsinitiative zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruches. Das sei „skandalös“ und ein „Affront“, beschied Friedrich Merz.

Emotionale Aufladung von Sachthemen

Nun könnte man annehmen, dass der CDU-Chef und Kanzlerkandidat Merz besonders empfindsam sei. Das mag sein. Das aber steckt nicht hinter der konstanten Empörung des Politikers. Für Friedrich Merz ist die moralische Entrüstung ein politisches Instrument. Sie dient der emotionalen Aufladung sachlicher Themen und damit der Polarisierung. Wie gut diese Strategie funktioniert, konnte man gerade erst wieder in den USA beobachten: Donald Trump ist der Meister der Empörung. Empörung über den politischen Gegner, über illegale Migranten, über die – in seinen Worten – radikale Linke: Die Empörung hat ihn zurück ins Weiße Haus getragen.
Die CDU unter Friedrich Merz beherrscht diese Methode gut. Im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl wird das besonders sichtbar. Beispiel Schwangerschaftsabbruch: Eine fraktionsübergreifende Gruppe von 240 Abgeordneten hat einen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht, nach dem Paragraph 218 neu geregelt werden soll. Der Schwangerschaftsabbruch soll bis zur 12. Woche rechtmäßig – also nicht mehr strafwürdig – sein. Friedrich Merz empörte sich bei einer Pressekonferenz, dass die Abgeordneten einen „gesellschaftlichen Großkonflikt“ auslösen würden. Darüber ist er, natürlich, „entsetzt“.
Zwar hat eine Sachverständigenkommission im April empfohlen, Paragraph 218 neu zu regeln. Aber Fakten haben im Polarisierungsspiel keine Bedeutung, auch das kennt man aus den USA. Man kann vom Schwangerschaftsabbruch halten, was man will. Der Gesetzesentwurf ist aber weder „skandalös“ noch ein „Affront“: Es handelt sich um einen demokratischen Vorgang, nicht mehr und nicht weniger.

Das Bürgergeld und das "sorgenfreie Leben"

Beispiel Bürgergeld: Die Bezeichnung „Bürgergeld“ müsse weg, fordert Friedrich Merz. Denn sie suggeriere ein „sorgenfreies Leben“. Der CDU-Politiker und seine Partei sprechen gerne über die sogenannten Leistungsträger auf der einen Seite und diejenigen, die diesen Leistungsträgern auf der Tasche liegen würden, auf der anderen Seite. Dass Sozialleistungsempfänger sicherlich kein „sorgenfreies Leben“ führen, geschenkt. Wie gesagt: Fakten haben keine Bedeutung.
Es ist die Erzählung, die zählt. Und die eröffnet den Graben zwischen den „Faulen“ und den „Fleißigen“. Zwischen der CDU, die Leistung belohnen wolle, und den anderen Parteien, die „Faulheit“ belohnten. Stimmt das? Nein. Aber: Es erzeugt Wut auf die „Schmarotzer“ und die, die sie schützen. Auch wenn das in Wahrheit nur Ablenkung davon sein soll, politische Alternativen anzubieten, wie eine Neuordnung des Steuersystems, in dem nicht die arbeitende Bevölkerung über Gebühr belastet wird, sondern höhere Vermögen. Darüber braucht man aber nicht zu sprechen, wenn die Empörung über „die anderen“ nur groß genug ist.

Eine geniale politische Strategie

Es ist tatsächlich eine geniale politische Strategie. Dass dabei Menschen gegeneinander aufgebracht und gespaltet werden, ist dabei ein, wie es scheint, wünschenswertes Ergebnis. Die CDU ist natürlich nicht die einzige Partei, die dieses Instrument nutzt. Aber Friedrich Merz, das muss man zugeben, ist einfach besonders gut darin, fassungslos zu sein.

Gilda Sahebi ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Ihr journalistisches Volontariat absolvierte sie beim Bayerischen Rundfunk. Die freie Journalistin hat die Schwerpunkte Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sahebi ist Autorin für die "taz" und den "Spiegel" und arbeitet auch für die ARD. Ihre Bücher „'Unser Schwert ist Liebe'. Die feministische Revolte im Iran“ und „Wie wir uns Rassismus beibringen. Eine Analyse deutscher Debatten“ erschienen 2023 und 2024 im S. Fischer Verlag.

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