Wo endet das Wachstum? Alle Folgen der Reihe hören Sie im Podcast der Weltzeit. Wir berichten unter anderem aus Barcelona, Ecuador, Bolivien, und Belgien.
Auto-Obergrenze erreicht
Anfang 2018 hat Singapur das Autowachstum beendet. Die Zahl von 575.000 Fahrzeugen soll langfristig sogar sinken. Neuzulassungen gibt es nur nach Abmeldung. Die Lizenzen kosten viel und finanzieren den günstigen öffentlichen Nahverkehr und das neue Denken.
Stellen Sie sich vor: Die Bürgermeister von Hamburg, Berlin und Köln würden beschließen, es sind genug Autos auf den Straßen, für die kommenden drei Jahre verbieten wir jede Neuzulassung. Gut für die Umwelt – aber vermutlich politischer Selbstmord. Solche Rücksichten sind der autoritären Regierung Singapurs fremd. Es gab denn nicht einmal Proteste, als der Zulassungsstopp verkündet wurde.
Nur wenn ein altes Fahrzeug stillgelegt wird, darf ein neues angemeldet werden. "CoE" heißt das Zauberwort – Certificate of Entitlement. Aber selbst wenn eine Zulassung frei wird, appelliert der Stadtstaat in Fernsehspots an seine Bürger:
"Brauchst Du wirklich ein Auto? Fahre doch Rad, U-Bahn oder gehe zu Fuß."
Natürlich ist es vernünftig, in einem Stadtstaat mit wenig Platz und knapp sechs Millionen Einwohnern den Autoverkehr zu regulieren. Vernunft – da werden vor allem Eltern zustimmen – ist nur mit Appellen schwer zu erreichen. Und die autoritäre Regierung Singapurs behandelt ihre Bürger kaum anders als unmündige Kinder, die man ständig erziehen muss.
Auto-Einnahmen gehen in Öffentlichen Nahverkehr
"Fünf Ferraris in nur fünf Minuten", schwärmt ein Carspotter auf Singapurs Straßen über die teuren Autos. Ja, die Singapurer sind verrückt nach Luxusfahrzeugen – vielleicht gerade, weil die Regierung es ihnen sehr schwer macht, eines zu fahren. Bis zu 80.000 Dollar kostet allein das Zulassungsdokument, die "CoE". Gilt dann für zehn Jahre, und wer sie erneuern will, zahlt jedes Jahr zehn Prozent Altautozuschlag. Wohl der Hauptgrund, warum man auf Singapurs Straßen vorwiegend neue, teure, blitzende Kisten sieht – gewienert jeden Morgen um sechs vom Hausmädchen.
Außerdem wird – je nach Straße und Tageszeit – eine elektronisch erfasste Maut fällig. Damit kann man außerdem in Parkhäuser fahren und am Monatsende wird alles vom Konto abgebucht. Verglichen mit anderen Weltmetropolen ist der Verkehr in Singapur selbst zur Stoßzeit geradezu flüssig.
Einnahmen durch Autos gehen fast ausnahmslos in den öffentlichen Nahverkehr. Ein Weltklassenahverkehr, der das Auto gänzlich überflüssig macht, so hat das Premierminister Lee Hsien Loong formuliert.
"Unser Ziel ist nicht nur, mehr Busse und Züge einzusetzen. Wir wollen einen derart erstklassigen öffentlichen Nahverkehr in Singapur haben, dass die Menschen überhaupt kein Bedürfnis mehr haben, Auto zu fahren. Gleichzeitig verteuern wir das Autofahrern durch hohe Zulassungsgebühren, Parkplatzkosten, Mautgebühren. Und wir wollen das Fahrrad fördern, das nicht nur billig ist, sondern umweltverträglich."
Fast jeder Singapurer würde denn auch zustimmen, dass man in dem 5,6-Millionen-Stadtstaat nicht wirklich ein Auto braucht.
Aber Auto ist natürlich nicht nur eine Frage von brauchen – sondern von Status und Image. Was knapp und teuer ist, ist eben auch begehrenswert. 575.000 Autos sind es derzeit in Singapur – ein Kfz auf zehn Einwohner, in Deutschland ist die Autodichte etwa fünfmal so hoch.
Image-Wechsel: Cool ist, wer kein Auto hat
Durch den dreijährigen Zulassungsstopp soll der Bestand gewissermaßen eingefroren werden – möglichst sogar sinken. Weil vielen hoffentlich die Lust vergeht, nach der Abmeldung eines alten Autos ein neues zuzulassen. Weshalb die Regierung nicht nur an die Vernunft appelliert, sondern auch Kampagnen für eine Imagekorrektur des Autos gestartet, erklärt Paul Barter, Infrastrukturexperte an der Universität Singapur.
"Das Narrativ verändert sich, die Regierung verpflichtet sich dem Motto 'Auto light'. Es ist noch nicht ganz klar, wie das funktionieren wird – aber die Regierung ist entschlossen, das Image von Autobesitz zu verändern. Also: Es ist cool, kein Auto zu haben – das ist das neue Narrativ. Nicht: Ich kann mir kein Auto leisten, sondern ich verzichte ganz bewusst. Auto ist nicht länger Status. Kein Auto ist Status, erfolgreiche Menschen brauchen kein Auto. Und das ist ja eine Diskussion, die wir in anderen reichen Industrienationen auch haben. Wir entkoppeln Autobesitz und Mobilität. Im Gegenteil: Auto ist Stau, Stillstand, schmutzige Luft."
Singapurs langfristiges Ziel nämlich ist nicht nur weniger Autos – sondern gar keine Autos. Von Taxis und Lieferverkehr mal abgesehen, möglichst mit Elektromotor.
Prof. Kon Juk Jon von der Stadtentwicklungsbehörde sitzt auf einem Fahrradsimulator und hat eine Virtual-Reality-Brille auf der Nase. Sie gibt ihm das Gefühl durch Singapur zu radeln, allerdings in der Zukunft. Wo heute noch Autos fahren, da sieht Professor Kon breite Radwege, gesäumt von Alleebäumen, Rasenflächen mit spielenden Kindern.
"Es ist total faszinierend, da komplett einzutauchen in diese Vision: in eine Stadt ohne Autos. Eine Stadt für Fußgänger und Radfahrer. Das ist unsere Zukunft."
Jeder Singapurer in zehn Minuten im Park
Statt Planung am Reißbrett lässt man in Singapur Menschen die Zukunft virtuell erleben und fragt sie, was sie mögen und was nicht. "Smart City" heißt für Singapur vor allem: modernste Technologie nutzen für eine lebenswerte Stadt.
"Singapur ist ein lebendiges Labor, um smarte Ideen und smarte Konzepte zu entwickeln", erklärt Professor James Pomeroy. Zusammen mit der eidgenössischen technischen Hochschule Zürich arbeiten die Experten der Regierung an Zukunftskonzepten für den Stadtstaat. Energiesparen durch mehr Pflanzen, das ist eine weitere Idee. Das kühlt in der tropischen Hitze und man braucht weniger Klimaanlagen. Jeder Bauträger muss genauso viel Fläche begrünen, wie er bebaut. Folglich sind die Fassaden von Hochhäusern üppig von Pflanzen umrankt, die Dächer bewachsen, Gärten blühen auf terrassenartig angelegten Gebäuden. Kein Singapurer soll länger als zehn Minuten bis zum nächsten Park laufen müssen – auch das eine staatliche Vorgabe.
Professor Chang Jan Thai steht vor einem großen Bildschirm mit einer dreidimensionalen Luftaufnahme Singapurs. Mit einem Fingerwisch kann er Gebäude hinzufügen oder wegnehmen, Bäume einsetzen, Straßen verlegen. Er sieht, dass ein Fu?gänger von A nach B exakt 245 Meter zurücklegen muss, aber ein Rollstuhlfahrer wegen der Treppen anderthalb Kilometer. "Inakzeptabel", sagt Chang und malt dann mit der Hand einen Kreis um ein Stadtviertel, am Bildschirmrand erscheinen viele Zahlen.
"Wir sehen hier, wie viele Menschen in diesem Viertel leben. Wir sehen auch, wie hoch der Prozentsatz der Grünflächen ist, und wieviel Energie und Sauerstoff die Pflanzen dort produzieren. Das hilft uns ganz enorm bei der Stadtplanung.
Singapurs "Wohlfühldiktatur"
In der Republik Singapur regiert seit fast 60 Jahren dieselbe Partei. Die autoritäre Regierung kann anordnen, ohne Rücksichten auf Einsprüche nehmen zu müssen. Und sie kann sehr langfristig planen, ohne über Legislaturperioden nachzudenken. So entdeckt der Spaziergänger zuweilen mitten in unberührter Wildnis am Stadtrand einen nagelneuen U-Bahn-Hof ohne Gleise – weil hier in zehn Jahren ein neues Wohlgebiet erschlossen werden soll. Von Demokratie westlicher Prägung ist Singapur weit entfernt – doch die Regierung findet bei den allermeisten Bürgern große Unterstützung, schafft sie doch für ihre Bürger angenehme Lebensumstände. Eine Art "Wohlfühldiktatur".
Kein Journalist etwa regt sich auf, die Autofahrer seien die Melkkühe des Staates. Erstens käme er sicher gar nicht auf die Idee, denn die Regierung hat ihre Bürger gut erzogen und weiß am besten, was gut für sie ist. Und zweitens hätte er vermutlich nicht mehr lange einen Job im autoritären Stadtstaat. "Probleme" – so hört man hier oft – "gibt es doch vor allem dort, wo eine Regierung alle vier bis fünf Jahre wechselt." In Singapur dagegen könne die Regierung unabhängig von Wahlterminen und Stimmungen beschließen, was vernünftig sei.
Noch ist die autofreie Stadt auch in Singapur Zukunftsmusik, doch die Politik zielt durchaus darauf ab, Autofahrern das Leben schwer zu machen. Und teuer. Der Nahverkehr dagegen ein Traum. U-Bahn-Höfe mit Marmor, Glas und Edelstahl – so sauber wie andernorts Operationssäle. Außerdem billig. Und Verspätungen meldet die "Singapore Straight Times" am nächsten Tag auf der Titelseite.
Damit die U-Bahnen zu den Stoßzeiten nicht mehr nicht so voll sind, gibt es jetzt sogar eine Rush-Hour-App. Wer später nach Hause fährt, dem spendieren die Verkehrsbetriebe für die Wartezeit einen Drink in einer Bar in seiner Nähe. Und wenn er das öfter tut, irgendwann ein Abendessen zu zweit.