Zwei Veteranen erinnern sich
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Sie einte das Ziel, die Nazis zu besiegen. Der US-Amerikaner Frank Stager und der Ex-Rotarmist Walentin Polosnjak erlebten das Kriegsende in Deutschland. Nach 1945 gerieten die Großmächte in den Kalten Krieg. Das beeinflusste auch die zwei Soldaten.
Greenhills, ein Vorort von Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio. Ein kleines Einkaufszentrum, eine Bibliothek, ein Freibad, eine Wäscherei. Kleine Straßen mit zweistöckigen Reihenhäusern aus Holz. Eins wie das andere. Bauarbeiter weisen mir den Weg zum Haus Nummer 7. An der Tür hängt ein Zettel: Klingel kaputt, bitte klopfen.
Ein knochiger Mann mit schütterem weißem Haar öffnet die Tür, in Jeans, das Hemd über dem T-Shirt. Er deutet auf einen Polstersessel.
"Ich bin eben erst nach Hause gekommen", sagt er. "Ich war in der Stadt. Auf dem Rückweg habe ich ein paar Donuts gekauft und bei meinem Kumpel vorbeigeschaut. Wir haben zusammen gefrühstückt."
Sein Freund wurde neben ihm erschossen
Frank Stager ist 92 Jahre alt. Als 18-Jähriger wurde er in die US-Armee einberufen und in den Zweiten Weltkrieg geschickt.
"Ich bin auf einer Farm aufgewachsen", erzählt er. "Meinem Vater, meiner Mutter und meinen Schwestern habe ich gesagt: Ich komme wieder. Vielleicht nicht in einem Stück, aber ich komme zurück. Ich kam in die 83. Infanteriedivision. Wir absolvierten ein Training, dann wurden wir Richtung Bremerhaven verschifft. Dort begannen die Deutschen, Bomben auf uns zu werfen."
Das war bereits gegen Ende des Krieges. Der D-Day, die Landung der Alliierten Truppen in der Normandie im Sommer 1944, die Tausenden Soldaten das Leben kostete, war Frank Stager erspart geblieben. Aber auch er hat Schreckliches erlebt. Sein Freund wurde direkt neben ihm erschossen.
"Einige Deutsche glaubten immer noch, dass Hitler noch einmal Aufwind bekommen würde. Er redete ja immer noch vom Sieg. Aber die deutschen Soldaten hatten nichts mehr zu essen, die Leute hatten keine saubere Kleidung mehr. Denn unsere Luftwaffe machte gute Arbeit bei der Zerstörung von Gebäuden. Und so fingen sie an aufzugeben. Hitler verlor ja eine Schlacht nach der anderen. Die Russen schlugen ihn."
An der Ostfront war die Wehrmacht seit 1943 in der Defensive. In der Sowjetarmee kämpften aber nicht nur russische Soldaten, sondern auch viele Weißrussen, Ukrainer, Georgier, Armenier und viele andere Angehörige des Vielvölkerstaates Sowjetunion.
"Wir waren zum Hass auf Deutsche erzogen"
Einer von ihnen war Walentin Polosnjak. Heute ist er 96 Jahre alt und lebt in Moskau. Mit seinem dicken Schnurrbart und dem vollen Haar wirkt er jünger. Poloznjak ist gerade zur Reha in einem Sanatorium in Moskau, das nur Kriegsveteranen behandelt. Seine Frau ist bei ihm. Gemeinsam haben sie ein kleines Zimmer mit Küche und Bad.
"Ich bin in Weißrussland geboren", erzählt er. "Ich wurde im August ‘42 einberufen und in die Fliegerschule geschickt." Da war er 18.
"Im Frühjahr ‘43 kam ich an die Front", erinnert er sich. "Wir dachten, wir würden fliegen, aber es gab keine Flugzeuge. Und so kamen wir zur Infanterie. Wir fühlten unsere Verantwortung. Wir waren zu Hass auf die Deutschen erzogen worden, so wie die zu Hass auf uns, auf Kommunisten, auf Komsomolzen, auf Juden. Das war ein gegenseitiger tierischer Hass."
Immer wieder zusammengeflickt
In der heutigen Ukraine wurde er das erste Mal verwundet: "Von einem deutschen Unteroffizier. Die Deutschen hatten dort eine Verteidigungslinie, wir griffen an, er floh, ich lief über die Straße, da drehte er sich noch mal um, traf mein Bein. Ich fiel, meine Kameraden hoben mich auf. Ich glaube, ich habe den Mann getötet, der auf mich schoss."
Poloznjak wurde immer wieder zusammengeflickt. Unter dem Kommando von Marschall Schukow kämpfte er sich durch Weißrussland und durch Polen. Er gehörte zu denen, die das Konzentrationslager Majdanek befreiten. Und er schaffte es bis nach Berlin. Mittlerweile befehligte er selbst Soldaten.
"Nachts am 30. April waren wir fast am Brandenburger Tor", erinnert er sich. "Da hatte ich kaum noch Männer, nur noch zwölf oder 15 von mehr als 60. Wir nahmen noch irgendein Gebäude ein. Es wurde Nacht. An unserer Stelle zogen andere weiter. Da war für mich der Krieg zu Ende. Und dann wurde erklärt: Die deutschen Truppen sind bereit zu kapitulieren. Wir sollten nicht mehr weiterschießen."
Weil er etwas Deutsch konnte, wurde Polozjnak in die sowjetische Kommandantur in Berlin-Karlshorst abgeordnet. Dort blieb er einige Jahre.
"Ich wollte zu meiner Familie nach Hause"
Den US-Amerikaner Frank Stager verschlug es mit seiner Truppe nach Süddeutschland, in die Nähe von Karlsruhe. Dort war er dafür zuständig, Passierscheine für die Schweiz und für Italien auszustellen.
"Ich wollte nach Hause und meiner Familie helfen", sagt er. "Denn mein Vater musste sich um die Farm kümmern, und zusätzlich hat er an einer Schule gearbeitet, als Verwalter. Ich wollte alle wiedersehen."
Doch er musste noch bis 1947 warten. Dann bekam er die Gelbsucht.
"Ich sah aus wie eine Zitrone", erzählt er. "Die Ärzte schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Ich kam in ein Krankenhaus in Stuttgart. Danach wurde ich aus der Armee entlassen. Ich kam nach Hause und überraschte meine Eltern. Ich habe dann aber beschlossen, eine Ausbildung zu machen, denn der Staat hat sie bezahlt. Und ich habe dann für den Bundesstaat Ohio im Bereich Versicherungsansprüche gearbeitet. 34 Jahre lang. Dort habe ich auch meine Frau kennengelernt. Wir haben drei Kinder: zwei Mädchen und einen Jungen. Meine Frau ist an Brustkrebs gestorben."
Ein Foto ihrer Hochzeit steht auf dem Beistelltisch. Daneben, gerahmt, Fotos der Kinder und Enkel. Frank Stager lebt von rund 1300 US-Dollar im Monat, die bekommt er vom Staat.
"Das reicht dicke für mich", sagt er. "Ich kaufe Lebensmittel ein, ich gehe nicht oft aus, ich trinke zu Hause, es ist zu teuer, in Bars zu gehen. Und ich bin froh, zu Hause zu sein. Und nicht in zwei oder drei Teilen. Aber mein Alter macht meinen Beinen zu schaffen. Ich kann nicht mehr so gut tanzen. Also, fordern Sie mich jetzt nicht auf!"
Generation insgesamt soll Anerkennung bekommen
In den USA leben noch rund 300.000 Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Um die Erinnerungen der Kriegsteilnehmer zu bewahren, hat das American Veterans Center in Washington Tausende von ihnen befragt und die Gespräche in Videos und Tondokumenten festgehalten. Tim Holbert, Geschäftsführer des Zentrums, hat selbst viele dieser Interviews geführt.
"Viele von ihnen möchten einfach, dass man sich an sie erinnert", sagt er. "Nicht unbedingt an sie persönlich, es geht ihnen darum, was ihre Freunde geleistet haben, die Generation insgesamt. Besonders jetzt, wo nur noch so wenige von ihnen leben, möchten sie, dass die Menschen sich daran erinnern, was ihrer Generation im Zweiten Weltkrieg passiert ist."
Das American Veterans Center beschäftigt sich auch mit den Veteranen all der anderen Kriege, die die USA nach 1945 geführt haben: in Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan zum Beispiel. Aber den Weltkriegsveteranen komme in den USA eine besondere Rolle zu, meint Holbert.
"Das Interesse nicht mehr so brennend"
"Der Zweite Weltkrieg gilt immer noch als eine Zeit, in der die Amerikaner in einem Maße zusammenstanden, wie wir das nie wieder erlebt haben. Deshalb ist er so wichtig für die amerikanische Geschichte: Weil sich damals Menschen aus allen Bevölkerungsschichten hinter einem Ziel vereinten - den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen."
Allerdings, sagt Holbert, lasse das Interesse der amerikanischen Gesellschaft am Zweiten Weltkrieg allmählich nach.
"In den 1990er-Jahren, zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, war das Interesse an dem Thema sehr groß. Zu der Zeit wurden auch große Hollywood Filme wie "Der Soldat James Ryan" gedreht. Damals gab es eine große Bewegung für die Nationale Gedenkstätte für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs, die 2004 in Washington eröffnet wurde. Heute ist das Interesse nicht mehr so brennend wie in früheren Jahren."
Russlands politische Führung fördert das Gedenken
In Russland ist das umgekehrt. Dort lebten im vergangenen Jahr nur noch rund 75.000 Weltkriegsveteranen. Doch das öffentliche Interesse an dem Thema wächst. Die politische Führung fördert das Gedenken. Für Präsident Wladimir Putin ist der Sieg über den Faschismus 1945 fester Bestandteil einer manipulierten Geschichtsschreibung, der zufolge die tausendjährige Geschichte Russlands eine Geschichte von Siegen sei.
Im Moskauer Veteranensanatorium ist Essenszeit. Walentin Polosnjak geht in den Speisesaal. Besucher dürfen nicht mit hinein. Auf dem Korridor sitzt ein junger Mann. Wjatscheslaw Narskij ist 23 Jahre alt und vernachlässigt gerade sein Regiestudium. Stattdessen widmet er sich "patriotischer Arbeit", wie er es nennt. Er zeichnet Interviews mit russischen Weltkriegsveteranen auf. Eine alte Frau kommt auf ihn zu.
Kriegsveteranen bekommen nun Zulagen
"Wjatscheslaw, wissen Sie, an Tisch 14 in der Stolovaja, da gibt es einen Veteranen, der ist sehr gesprächig", sagt sie. "Er hat uns sogar Zeitungsartikel gezeigt, über sich selbst in den Kriegsjahren."
Wjatscheslaw verspricht, in den nächsten Tagen bei dem Herrn vorbeizuschauen.
"Die Veteranen freuen sich sehr, wenn sie nicht vergessen werden, wenn sie Besuch bekommen", erzählt er. Wir haben schon mehr als 350 Erinnerungen aufgezeichnet."
In Russland war die Fürsorge für die Weltkriegsveteranen – anders als in den USA - in den 90er-Jahren dramatisch gesunken. Damals war die Sowjetunion gerade auseinandergebrochen, die Wirtschaft lag am Boden, der Staat zahlte über Monate keine Renten. Mittlerweile hat sich das geändert, und die Kriegsveteranen bekommen sogar noch Zulagen.
Ex-Rotarmist Poloznjak: "Ich habe wirklich keine Geldnot"
Bei Walentin Poloznjak sind sie besonders hoch, weil er nach dem Krieg noch 30 Jahre in der Sowjetarmee blieb.
"Ich bekomme ungefähr 80.000 Rubel", sagt er. "Das reicht für mich. Meine Frau zum Beispiel kriegt 20.000. Ich bekomme das Vierfache. Ich habe wirklich keine Geldnot. Ich brauche nur ein ruhiges Leben."
Poloznjak interessiert sich mit seinen 96 Jahren weiterhin für Politik, verfolgt die Nachrichten vor allem im Staatsfernsehen. Dort sind immer wieder russische Regierungsvertreter zu sehen, die gegen die USA wettern und dabei auch behaupten, die USA würden den Anteil Russlands beziehungsweise der Sowjetunion am Sieg über Hitler-Deutschland kleinreden.
Poloznjak treibt das um: "Unter den Jugendlichen herrschen jetzt viele Zweifel, weil jeder diesen Krieg anders darstellt und die Geschichte nahezu in ihr Gegenteil verkehrt. So, als hätten die Russen fast gar nicht am Krieg teilgenommen, und die Amerikaner hätten alles erledigt."
Verständnis für unterschiedliche Sichtweise
Tim Holbert vom American Veterans Center in Washington hat Verständnis für diese verklärte Sicht des Sowjetveteranen.
"Die Opfer in den Reihen der Sowjetarmee waren immens", sagt er. "Die Intensität des Kriegs an der Ostfront kann man nicht übersehen. Ich denke, das muss jeder anerkennen. Und es liegt in der Natur des Menschen, vor allem die eigene Rolle zu betrachten. Jeder tut das."
Der US-Veteran Frank Stager aus Ohio kann und will dazu nichts sagen. Er redet generell nicht gern über die Kriegserlebnisse. Vor Jahren war sein Sohn mit ihm im Kino: in Steven Spielbergs "Der Soldat James Ryan". Die Anfangsszene zeigt, wie die alliierten Soldaten in ihren Landungsbooten an einem Strand in der Normandie teils komplett niedergeschossen wurden.
US-Veteran Stager: "Ich möchte das vergessen"
Stager konnte das nicht mit ansehen, er verließ das Kino.
"Wir wurden auch beschossen, aber ich trug eine Stahlplatte zum Schutz", sagt er. "Ich möchte das vergessen. Und ich bin froh, dass es Deutschland jetzt wirklich gutgeht. Das tut es doch, nicht wahr? Ich würde gerne noch einmal dorthin zurückkehren und sehen, wie Deutschland aufgebaut ist. Es war ja alles kaputt gebombt."
Im Sanatorium in Moskau steht mittlerweile eine Flasche Cognac auf dem Tisch. Walentin Poloznjak war nach dem Krieg noch mehrfach in Deutschland.
"Lübeck, Wismar, Weimar, Rostock, Rügen, Stralsund, Anklam, Heringsdorf… Hier gibt es Konzerte, Filmvorführungen", erzählt er. Eine Lautsprecherdurchsage kündigt das Abendprogramm an: An diesem Tag gibt es einen Film.
"Ich habe mich auch mit deutschen Veteranen getroffen", sagt er. "Wir haben zusammengesessen. Wir haben auseinandersortiert, wer woran Schuld war. Haben gesagt, dass uns leidtut, was passiert ist, dass wir bewahren wollen, was wir haben, und dass wir auf das Gute hoffen."