Schacht Konrad soll es richten
Viel mehr radioaktiver Müll als prognostiziert muss in Deutschland entsorgt werden. Das würde eine größere Auslastung für das bisher einzige in Deutschland genehmigte Endlager bedeuten, das einstige Eisenerzbergwerk Konrad bei Salzgitter.
Tief unter der Erde blendet der Fahrer die Lichter auf. Im offenen Geländewagen geht es rasant durch das alte Eisenerzbergwerk Schacht Konrad bei Salzgitter. Über 40 Kilometer erstreckt sich das Wegenetz unter Tage. Markierungen links und rechts der staubigen Fahrbahn weisen den Weg durch das Dämmerlicht. Für das ungeübte Auge sind es kryptische Zeichen. Immer tiefer windet sich der Tunnel in das Felsgestein.
"Wir fahren jetzt zur Einlagerungsstrecke Nord. Das ist die Strecke, die neu aufgefahren wurde, um die Abfälle von Schacht 2 in die Einlagerungskammern zu bringen."
Monika Hotopp spricht für den Betreiber von Schacht Konrad, das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Der Sitz der Behörde ist Salzgitter. Hotopp trägt wie alle Kumpel und Besucher in Konrad einen Helm samt Schutzanzug, um den Hals baumelt die Grubenlampe. Rund 1.000 Meter tief im Bergwerk geht es nun zu Fuß weiter durch das unterirdische Labyrinth aus Tunneln, Schächten und Katakomben. Ein Radlader zwängt sich an der Wandergruppe vorbei, die Scheinwerfer theatralisch aufgeblendet.
130 Tonnen schwer, 14 Meter lang ist die Tunnelbohrmaschine. Vier Monate allein hat es gedauert, das Gerät in seine Einzelteile zerlegt durch den Förderkorb hinunterzuschaffen. Am Einsatzort in der Tiefe wurde es wieder zusammengesetzt. Alle Fahrzeuge, Maschinen und Installationen hier unten mussten durch dieses Nadelöhr. Wo sich das lärmende Ungetüm mit stählernen Zähnen in den Fels meißelt, soll eines Tages Atommüll mit geringer Wärmeentwicklung für alle Zeiten sicher verwahrt werden.
Seit 1977 will der Bund hier in Schacht Konrad ein Endlager für rund 90 Prozent der radioaktiven Abfälle errichten. In Rede stehen keine Castoren mit Brennelementen, sondern etwa Trümmerteile und Schutt von abgerissenen Atomkraftwerken, belastete Kleidungsstücke und Werkzeuge. Strahlenmüll fällt auch in Krankenhäusern, radiologischen Praxen und Forschungseinrichtungen an. Es sind Abfälle, die zwar viel Volumen ausmachen, von denen aber vergleichbar wenig Strahlung ausgeht. Die Gefahr steckt vor allem in den zehn Prozent hochradioaktiver Abfälle. Sie stehen für mehr als 99 Prozent der sogenannten Gesamtaktivität.
"Wir befinden uns hier in einer der zukünftigen Einlagerungskammern. Die Einlagerungskammer ist noch nicht ganz fertig, aber wir rechnen damit, dass sie zeitnah fertiggestellt ist", ...
...sagt Monika Hotopp- und die BfS-Sprecherin setzt jetzt eine Miene auf, die offenkundig Zuversicht ausdrücken soll. "Zeitnah", das ist gleichwohl ein dehnbarer Begriff. Bereits 1975 prüften Experten erstmals die Stollen auf ihre Tauglichkeit, erzählt Hotopp bei der Auffahrt im Förderkorb. Zwei Jahre später wurde Schacht Konrad zum Endlager erkoren. Das Bergwerk war kurz zuvor stillgelegt worden, weil sich das Erz aus Niedersachsen mit seinem vergleichbar geringen Eisenanteil auf dem Weltmarkt nicht behaupten konnte.
Es folgte ein umfangreiches Planfeststellungsverfahren. Umweltverbände, Anwohner und benachbarte Kommunen klagten dagegen. Ursprünglich sollte das Endlager bereits 1986 in Betrieb gehen. Doch erst 2007 waren die letzten Klagen abgewiesen. Seither laufen die Bauarbeiten. Jeweils 150 Kumpel dürfen sich unter Tage aufhalten. Geschuftet wird rund um die Uhr im Schichtbetrieb.
Komplikationen verzögerten die Errichtung durch die Baufirma DBE gleichwohl immer wieder: Es gibt Probleme mit Wassereinbruch, bei der Sanierung der alten Stollen und bei der Stabilisierung des betagten Mauerwerks der Förderschächte. Die Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern ist ein mittelbares Tochterunternehmen der vier großen Energiekonzerne. Die DBE hält in Deutschland ein Monopol für den Bau von Endlagern, abgesichert durch einen kaum kündbaren Vertrag mit der Bundesregierung. Privilegien, die noch aus der Zeit vor der Privatisierung stammen, als die DBE ein bundeseigenes Unternehmen war. Als die DBE vor einigen Monaten von einer geplanten Inbetriebnahme des Endlagers im Jahr 2022 sprach, stellte das BfS als Betreiber klar, dass dieser Termin "nicht belastbar" sei. Damals sagte Wolfram König, der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz, diesem Sender:
"Es ist letztendlich die Herausforderung, dass wir - man nennt es - "im Bestand bauen", also eine alte Schachtanlage zu einem Endlager umbauen. Übrigens etwas, was man heute in dieser Weise sicherlich nicht mehr verfolgen würde."
Und Deutschlands oberster Strahlenschützer mit Parteibuch von den Grünen fügte mit einem salomonischen Lächeln hinzu:
"Ich möchte mich nicht in die Reihe eingliedern, die in den vergangenen Jahrzehnten immer mit Versprechungen schon am Start waren, bis wann wir ein betriebsbereites Endlager - sei es für hochradioaktive Abfälle, sei es für schwach- und mittelradioaktive Abfälle - vor Ort besitzen. Weil ich glaube: Wir haben genug Erfahrung, zu wissen, dass es eine hochkomplexe Aufgabe ist. Das, was wir sicherstellen müssen, ist, dass unsere Schrittabfolgen konsequent verfolgt werden und dabei eben nicht nur - wie in der Vergangenheit leider zu viel erfolgt - man sich auf die technisch-wissenschaftliche Seite stürzt, sondern gleichzeitig auch guckt, wie man die Bevölkerung mitnimmt, in dem Prozess."
Unterdessen an der Oberfläche: Ludwig Wasmus bewirtschaftet 50 Hektar Ackerland über dem künftigen Endlager Schacht Konrad. Weizen, Mais und Zuckerrüben. Wasmus hat den Hof von seinem Vater geerbt. Er hält ein paar Hühner zur Selbstversorgung. Doch die Naturidylle wird durch den Nachbarn empfindlich gestört.
"Wir blicken hier direkt auf den Förderturm von Schacht Konrad I, der hier ja denkmalsgeschützt in der Gegend herumsteht. Also, wir ackern quasi bis zum Zaun! Als Landwirt fühle ich mich eigentlich als geborener Atomkraftgegner, denn verseucht werden mit diesen atomaren Abfällen und dem, was aus Atomkraftwerken rauskommt, werden unsere Felder. Und das ist Initial genug, sich dagegen einzusetzen."
Wasmus spricht auch für die lokale Bürgerinitiative, die atomkraftkritische Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad. Im März 2008 scheitert die Stadt Salzgitter mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die geplante Einlagerung des strahlenden Mülls. Im Jahr darauf weisen die Karlsruher Richter auch die Beschwerde eines Landwirts ab und macht so den Weg für das Endlager wohl endgültig frei. Konrad-Gegner wie Wasmus können das bis heute nicht verstehen:
"Wir haben natürlich auch für unsere nachfolgenden Generationen klagen wollen. Und das ist uns vor Gericht verwehrt worden. Die haben uns bestätigt, dass wir kein Recht auf Nachweltschutz haben, Und somit ist in diesem ganzen Verfahren nicht über die Sicherheit von Schacht Konrad entschieden worden, sondern über unsere Klagerechte. Und das ist der eigentliche Skandal bei dieser ganzen juristischen Aufarbeitung."
Das erste genehmigte Endlager
Die Schachtanlage Konrad ist das erste und bislang einzige nach geltendem Atomrecht genehmigte Endlager. Die Pläne dafür stammen noch aus den 70er- und 80er-Jahren. Sie stehen im Widerspruch zu jenem Endlagerkonzept, das die Bundesregierung unter dem Eindruck der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima für den hochaktiven deutschen Strahlenmüll vorsieht: Der soll nämlich so gelagert werden, dass er sich im Notfall an die Oberfläche zurückholen lässt. In Schacht Konrad dagegen würden die Behälter mit dem strahlenden Inventar für alle Zeiten unwiederbringlich einbetoniert. Der Konrad-Betreiber BfS kann für diese Vorgehensweise allerhand fachliche und sicherheitsphilosophische Gründe anführen. Noch einmal Wolfram König vom Bundesamt für Strahlenschutz:
"Tiefe geologische Schichten werden gesucht, weil man auf der einen Seite möglichst eine große Barriere zwischen den Abfällen und der Biosphäre bauen will, und gleichzeitig möglichst so tief, dass man an der Stelle keine Rohstoffe später sucht, wenn man nicht mehr weiß, dass dort Abfälle lagern. Wir haben mit den Stoffen etwas in die Welt gesetzt, was nicht wieder aus der Welt zu schaffen ist. Wir müssen also einen Weg finden, sie so sicher zu lagern, dass andere Generationen sich nicht mehr darum kümmern müssen."
Bewegung zeichnete sich zuletzt auch im Umgang mit den gefährlichsten Altlasten ab. Nach monatelangem Tauziehen hatten sich Bund, Länder, CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNE im Juli 2013 mit dem sogenannten Endlagersuchgesetz darauf geeinigt, dass die Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Atommüll von vorne beginnen soll. Nachdem sich frühere Regierungen jahrzehntelang allein auf den niedersächsischen Salzstock Gorleben konzentriert hatten, sollen nun Alternativen, zum Beispiel in geographisch anderen Regionen und geologisch anderen Gesteinsformationen geprüft werden. Eine Fachkommission mit 33 Mitgliedern soll bis Ende 2015 Grundlagen und Kriterien für die Suche ausarbeiten und dann Bundestag und Bundesrat zur Empfehlung vorlegen. Auch Atomkraftgegner wie Wismus sind eingeladen, bei Anhörungen ihre Ansichten zum Verfahren kundzutun. Alles im Fluss, alle im Gespräch: Droht dem Widerstand nun der Absturz in die Bedeutungslosigkeit?
"Bis jetzt sehe ich da nix an Neustart!", ...
...kommentiert der Anti-Atom-Veteran Ludwig Wasmus trocken.
"Ich finde, das ist auch wieder der falsche Weg. Man fängt wieder an über Standorte zu reden. Wenn man einen wirklichen Neustart wollen würde, müsste man alle Arten Atommüll, die es gibt, in diese Diskussion aufnehmen. Man kann eine offene Diskussion nur führen, wenn man tatsächlich alle Projekte auf Null setzt und komplett, mit allen Arten Müll, von vorn beginnt!"
Davon kann jedoch keine Rede sein, sagt Ursula Schönenberger. Die Politikwissenschaftlerin ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad. Sie sitzt jetzt im Wohnzimmer von Bauer Wasmus auf dem rustikalen Sofa, eine dampfende Tasse Kaffee vor der Nase. Konrad-Gegner wie Schönenberger sehen in der betagten Schachtanlage Konrad die gleichen Fehler am Werk, wie sie im benachbarten Atommüll-Lager Asse II bei Wolfenbüttel gemacht wurden. "Absaufen" nennt der Bergmann, was der Asse droht. Täglich sickern rund 12 Kubikmeter salzhaltiges Grundwasser aus dem umgebenden Fels in die Schachtanlage ein. Es wird erst in Behältern gesammelt, dann über Tage gepumpt. Mit schwerem Gerät und Spezialbeton füllen die Bergleute Hohlräume, um der Asse Zeit zu kaufen. Zeit für die sogenannte "Probephase".
Hinter meterdicken Schleusen werden derzeit zwei der dort zur Einlagerung genutzten Kammern angebohrt, um den Zustand der Fässer mit dem Atommüll zu erkunden. Von 1965 bis 1992 wurde die Anlage im Auftrag des Bundesforschungsministeriums betrieben und offiziell als Forschungsbergwerk bezeichnet. In dieser Zeit wurden dort rund 126.000 Fässer und Gebinde mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen eingelagert. Ursula Schönenberger:
"Wir sehen ja gerade in dem Atommülllager Asse, wie unglaublich technisch schwierig es ist und werden wird, Atommüll aus einem havarierten Lager zurückzuholen, das nicht rückholbar vorgesehen ist. Und ich halte es für schlechterdings auch wissenschaftlich untragbar, dass man diese Erfahrung, die man in der Asse gemacht hat, nicht auf Schacht Konrad überträgt. Man sagt zum Beispiel heute, man sollte keinen Atommüll in ein altes Bergwerk reinverbringen, sondern das immer neu auffahren. Konrad ist ein altes Bergwerk. Es gibt ganz viele Punkte, die heute nicht mehr genehmigungsfähig wären."
Die Asse liegt nur 20 Kilometer von Wasmus Hof im Dorf Bleckenstedt entfernt. Ein selbstgemaltes Schild am Ortseingang weist den Weg. Die Konrad-Gegner führen die Erfahrungen in der Asse oft und gern als mahnendes Beispiel für die fehlende Eignung von Schacht Konrad als Endlager an.
Doch nun wittern Schönenberger und ihre Mitstreiter neues Ungemach. Sie befürchten, dass im Schacht Konrad am Ende gar wesentlich mehr Müll mit geringer Wärmeentwicklung eingelagert werden könnte, als bislang geplant.
"Ich bin mir sicher, dass, wenn Schacht Konrad eines Tages in Betrieb genommen wird, versucht werden wird, auf verschiedenen Wegen, die Genehmigung zu erweitern. Und deshalb hören wir ja auch, dass es die Strategie des Betreibers und der Energiewirtschaft ist, jetzt möglichst wenig zutage treten zu lassen, was sie eigentlich alles noch gerne ändern würden. Wenn es jetzt eine wesentliche Änderung gäbe, man ein neues Planfeststellungsverfahren dafür bräuchte, dann wäre das Projekt tot."
Aus der Statistik geschummelt
Die Konrad-Gegner verweisen auf den Entwurf des nationalen Entsorgungsplans, den Bund und Länder derzeit gemeinsam abstimmen. Der Plan ist für die EU gedacht, sorgt in Deutschland für Furore. Denn die Menge des schwach- und mittelradioaktiven Atommülls, für den Schacht Konrad derzeit vorbereitet wird, könnte sich demnach schlicht verdoppeln. Schacht Konrad ist genehmigt für 300.000 Kubikmeter. Im Entwurf kalkuliert die Bundesregierung nunmehr jedoch, dass die doppelte Menge anfallen könnte. Für Atomkraftgegner kam die Nachricht, dass in Deutschland offenbar doppelt so viel Atommüll entsorgt werden muss wie bislang angenommen, nicht überraschend. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel die Abfälle aus der Urananreicherung - 100.000 Kubikmeter - als "Wertstoffe" deklariert - und somit aus der Statistik geschummelt.
Weitere rund 200.000 Kubikmeter Strahlenmüll könnten anfallen, wenn das marode Bergwerk Asse geräumt wird. Bundesumweltministerin Hendricks will nicht ausschließen, dass auch Gebinde aus der Asse im Schacht versenkt werden könnten, sollte die aufwändige Bergung eines Tages tatsächlich noch gelingen. Was sich abzeichnet, sei kein Neustart bei der Endlagersuche, sondern ein groß angelegter Betrug an den Menschen, wettert Schönenberger. Transparenz sehe anders aus.
"Wir haben es da mit Stoffen zu tun, die auch über hunderttausende von Jahren strahlen. Wir haben es mit Stoffen zu tun, die zum Teil sehr gefährlich sind. Und wir brauchen Lagerkonzepte, die diese Stoffe und die Gefährlichkeit ernst nehmen. Wir müssen das ganze Abfallproblem in den Bick nehmen! Und was nicht geht, ist zu sagen: Ich habe hier glücklicherweise ein genehmigtes Lager, nämlich Schacht Konrad - und da packe ich jetzt mal so viel rein wie geht."
Die Forderung der Konrad-Gegner: Bei verdoppeltem Einlagervolumen und einer gänzlich anderen Zusammensetzung des Materials müsste die Langzeitsicherheit neu berechnet werden, müssten zum Beispiel auch die bisher vorliegenden wasserrechtlichen Genehmigungen noch einmal auf den Prüfstand. Ihr Kalkül: Würde sich der Schacht am Ende als zu klein herausstellen, müssten zusätzliche Einlagerungsstrecken aufgefahren und das alles auch juristisch neu beantragt werden, dann könnte das bei heutiger Ausgangslage das Ende für Konrad bedeuten.
Im Wort stehe jetzt auch die niedersächsische Landesregierung, sagt Schönenberger. Schließlich habe diese eine Überprüfung, ob Schacht Konrad noch dem Stand von Wissenschaft und Technik entspreche, in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Nicht ohne Grund, vermutet Schöneberger, will die Bundesregierung eine Erweiterung des Endlagers erst nach der Inbetriebnahme prüfen - also voraussichtlich nicht vor dem Jahr 2022. Dann nämlich hätten Niedersachsens grüner Umweltminister Stefan Wenzel und die niedersächsischen Aufsichtsbehörden nicht mehr viel zu sagen. Nach dem erst letztes Jahr verabschiedeten Gesetz zur Endlagersuche werden die Genehmigungen rund um Konrad fortan durch das neu geschaffene Bundesamt für kerntechnische Sicherheit erteilt. Und das ist dem Bundesumweltministerium unterstellt.
"Da gibt es eine Genehmigung, die ist auf ganz genau definierte Mengen von Radionukliden und chemischen Stoffen festgelegt. Da werden wir keine Abstriche zulassen!"
Entgegnet der so gescholtene Umweltminister. Stefan Wenzel betont, dass die Bundesregierung erstmals offen und schonungslos berechnet habe, welche Mengen an Atommüll künftig möglicherweise entsorgt werden müssen. Früher seien Fakten und Sachzwänge geschaffen worden, die dann Desaster wie in der Asse zur Folge gehabt hätten.
"Der Nebel lichtet sich langsam, sage ich mal. Eine Abfallbilanz, die wirklich vollständig ist und alle Daten enthält, die man braucht, gibt es noch immer nicht. Vor allem stört mich, dass der Eindruck erweckt wird, dass man es hier nur mit Kubikmeter-Zahlen zu tun hat, ohne sich genau anzugucken, was ist das eigentlich für ein Teufelszeug, was wir da für Jahrtausende, für Jahrmillionen sicher lagern müssen."
Alle Fakten zum Volumen und zur Art des in Deutschland anfallenden Atommülls müssten nun auf den Tisch, fordert Wenzel. Und Niedersachsens Umweltminister warnt angesichts der neuen Zahlen vor "hemdsärmeligen Versuchen", Schacht Konrad zu erweitern. Wo die zusätzlichen rund 300.000 Kubikmeter Atommüll schließlich eingelagert werden, müsse die Kommission klären.
"Ich begrüße Euch alle zur Mahnwache! Ich finde es toll, dass Ihr immer wieder kommt! Und es ist war, dass unsere Generation die treibende Kraft ist in dem Anti-Atom-Kampf."
Die Zeit drängt so oder so, meinen auch Anwohner der Asse wie Eleonore Bischoff. In der idyllischen Altstadt von Wolfenbüttel, nur ein paar Kilometer vom maroden Bergwerk entfernt, fordern sie Taten statt Versprechungen: Bischoff von der Wolfenbütteler Atom-Ausstiegs-Gruppe und ein Dutzend ergrauter Mitstreiter aus befreundeten Bürgerinitiativen. Die parteiübergreifende Zustimmung im Bundestag zur sogenannten "Lex Asse" führen die Veteranen auch auf ihre beharrlichen Proteste zurück. Dieses Sondergesetz hat das ausdrückliche Ziel, die Fässer aus dem maroden Atommüll-Lager so schnell und so sicher wie möglich herauszuholen. Bei ihrem Antrittsbesuch im März hatte Barbara Hendricks die Erwartungen in der Region gleichwohl gedämpft. Die Bundesumweltministerin von der SPD hält die Bergung der schwach- und mittelradioaktiven Abfälle aus der Asse noch für möglich - jedoch frühestens in 20 Jahren. Bischoff und viele ihrer Mitstreiter haben das als Affront gewertet.
"Es ist nicht unser Müll, das müssen wir klarstellen. Es ist der Müll der Bundesregierung. Wenn man sagt: Ab ´33 wird das rausgeholt, dann ist von den Leuten, die da jetzt im Amt sind, keiner mehr im Amt. Und kann auch keiner mehr belangt werden."
Verantwortung für künftige Generationen: Die Umweltgruppen stößt sie in ein moralisches Dilemma. Denn mit der unverzüglichen Bergung der Fässer fordern sie zugleich die Errichtung eines Zwischenlagers, in das der zurückgeholte Asse-Müll gebracht werden könnte. Die Suche nach einem geeigneten Standort dafür sei überfällig, meint auch Regina Bollmeier. Gern auch woanders als in ihrer Gemeinde, sagt die Bürgermeisterin.
"Wir haben über viele Jahre ein richtig schlechtes Image hier aufgedrückt bekommen. Und das wird uns noch lange Jahre begleiten. Wenn wir obendrein auch noch gebeutelt werden mit einer Zwischenlagerung: für so eine Region wie unsere wäre das ein bisschen sehr viel! Und ich denke mir, dieses Leid kann man sich vielleicht noch mit anderen teilen."
Aus der Perspektive des Naturwissenschaftlers kein wahrscheinliches Szenario, vermutet Rainer Gellermann. Als Experte in der Strahlenschutzkommission des Bundes mischt er sich immer wieder auch in die politische Debatte um die Asse und ihre Altlasten ein.
"Am Anfang wurde der Region hier kundgetan, dass man ein Zwischenlager für einen Zeitraum von 40 Jahren bauen müsste. Inzwischen ist, glaube ich, allen Beteiligten klar, dass ein solcher Zeitraum nicht ausreicht. Damit wird der Region hier etwas vorgegaukelt, denn es wird auch im Jahr 2070 kein Endlager geben. Denn es sucht ja noch niemand danach."
Zwischenlager entwickeln sich zu Endlagern
Der streitbare Physiker ist überzeugt: Die Suche nach der bestmöglichen Lösung wird im politischen Prozess zunehmend als Vorwand genutzt, um Entscheidungen aufzuschieben. So entwickelten sich Zwischenlager schleichend zu Endlagern, beobachtet er.
"Die Asse ist ein sehr gutes Lehrstück! Sie lehrt uns, dass ein rein technischer Ansatz, wie er in den 60er-, 70er-Jahren hier verfolgt worden ist, aber was die Bevölkerung nicht mitgenommen hat, offensichtlich in unseren Zeiten nicht mehr funktioniert. Es zeigt aber auf der anderen Seite auch, dass die Politik im Augenblick keine Lösung hat, für das von ihr thematisierte Problem der Langzeitsicherheit. Und das macht mir als Strahlenschützer schon Sorge."
Eine Sorge, die viele in der Region teilen - der versprochene Neustart bei der Suche nach einem Lager für hochradioaktive Abfälle ist für sie nur ein Teil des komplexen Problems. Überfällig sei auch die Debatte, was aus den 126.000 Fässern Atommüll aus der Asse werden soll - sollten sie überhaupt noch zu bergen sein. Fakt ist: Wer Konrad infrage stellt, sollte sich im Klaren sein, was dann mit den vielen tausend Kubikmetern Abfällen geschehen soll, die derzeit obertägig in zum Teil schon rostenden Behältern lagern, die nicht dafür gedacht sind, die Sicherheit für Jahrzehnte zu gewährleisten.
"Ich habe meinen Enkelsohn hier und ich möchte, dass der in einer vernünftigen Umgebung aufwachsen kann, wo nicht ein Inventar rumsteht, von dem niemand weiß, wo es auf Dauer verbleiben soll."
Wir sind zurück in Bleckenstedt am Schacht Konrad. Auf dem Sofa schwelgen die Anti-Atom-Veteranen Ursula Schönenberger und Ludwig Wasmus in Erinnerungen an drei Jahrzehnte des kreativen Widerstands gegen die Endlagerpläne. Annähernd drei Milliarden Euro wird das Projekt Konrad gekostet haben, falls es in acht Jahren vollendet werden sollte. Das ist die aktuelle Schätzung. Für alle Beteiligten, vermutet Ursula Schönenberger, steht viel auf dem Spiel.
"Das ist der einzige Anker, den die Atomindustrie hat. Es gibt ein immenses Atommüll-problem, das täglich größer wird. Und es gibt letztlich nichts, was die Energiewirtschaft hat oder auch die öffentliche Hand, die in Karlsruhe und Jülich die Anlagen betreibt - außer Schacht Konrad! Und es geht jetzt von deren Seite aus: Scheuklappen vor, Augen zu und durch! Da haben wir was, da können wir wenigstens einen Teil des Mülls verstecken. Und da wollen wir auf keinen Fall dran rühren und eine wissenschaftlich seriöse Debatte darüber führen."