Endlich bemerkt: Die klassischen Symptome der Dekadenz
"Mir erscheint die westliche Gesellschaft zuweilen recht permissiv" sagte Innenminister Schily in einem Interview. Aufmerksamkeit fand die Bemerkung kaum, was vielleicht auch daran liegt, dass der Begriff "permissiv" außer Gebrauch gekommen ist.
Der letzte, der ihn regelmäßig verwendete, war Franz Josef Strauss und der hätte das Wort sicher aus dem Lateinischen ableiten können: Permissivität im Sinne von "alles erlaubend", eine permissive Gesellschaft als die, in der jeder nach Gutdünken tun und lassen kann, was er will, ohne verbindliche Normen, ohne klare Identität. Nun gehörte Strauss bei Lebzeit zu den Lieblingsfeinden Schilys und man fragt sich, wieso der nun eine Schlüsselvokabel des politischen Gegners verwendet. Der Antwort kommt man näher, wenn man auf den Zusammenhang des Interviews schaut: da ging es um den islamischen Terrorismus und die Neigung des Westens, allzu naiv und nachgiebig auf diese Bedrohung zu reagieren: "Unsere Kultur muss sich ... behaupten wollen", sagte Schily, wer sich nicht behaupten könne, der sei "dekadent".
Auch das ist ein Begriff, den man aus dem Mund eines Sozialdemokraten lange nicht gehört hat. Der Vorwurf von "Dekadenz" gilt als typisch konservative Rhetorik. Dafür gibt es gute Gründe. Die Wahrnehmung von Dekadenz im Sinn des Verfalls kultureller Standards gehört zu den Stärken des Konservatismus, der sich die Verteidigung von Tradition und Moral angelegen sein lässt. Allerdings ist der Konservatismus in Deutschland keine Größe, mit der man rechnen müsste und wo er auftritt, tut er das kleinlaut und möchte sich kaum die Blöße der Rückständigkeit geben. Aber vielleicht ist diese Wahrnehmung schon nicht mehr aktuell, vielleicht stehen wir am Anfang eines Prozesses, bei dem auch die Linke auf das Arsenal der Kulturkritik zurückgreift, weil die Verhältnisse sich wandeln, weil die gesellschaftliche Lage mittlerweile so problematisch erscheint.
Vielleicht ist dann auch nicht das fehlende Aufsehen bei Schilys Äußerung das bemerkenswerte, sondern das schweigende Einverständnis mit der Diagnose. Und dieses Einverständnis könnte wiederum zurückgehen auf die Offensichtlichkeit der Tatbestände. Der Begriff Dekadenz ist zwar seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlich, aber die Sache selbst wurde seit der Antike immer wieder beschrieben. Ob es sich um biblische oder griechische oder römische Autoren handelt, in einem waren sich alle einig: der Verfall ist die Folge lang anhaltenden Wohllebens, wenn man so will die Kehrseite des Erfolgs, den eine Gesellschaftsordnung mit ihrer Durchsetzung und wachsendem Reichtum erreicht hat. Die einfachste Erklärung für Dekadenz ist deshalb Verlust der Anspannung, der Anspannung, die in der Phase des Aufstiegs nötig war, um sich zu behaupten. Solche Anspannung geht einher mit Formwillen und Strenge der sozialen Ordnung. Wenn das Ziel erreicht ist, erlischt die Anspannung, der Formwille erlahmt und die Strenge löst sich auf, wird im Namen irgendeiner "Liberalität" immer wieder in Frage gestellt. Die Unterschiede zwischen den Klassen und zwischen den Geschlechtern werden eingeebnet, oft verbunden mit dem Zerfall der Familie und Geburtenschwund. Das Gemeinschaftsbewusstsein zerrinnt und irgendwann leuchtet die Notwendigkeit, das Ganze nach Innen wie nach Außen zu schützen, kaum noch jemandem ein.
Es ist nicht schwer, das alles in unserer Situation wiederzufinden. Wenn man den Kollaps des Sozialstaats, die Demographie und die Scheidungsraten, die Bildungs- und Erziehungsmängel, die sprunghafte wachsende Kriminalität und die Pariarolle der Bundeswehr nicht für sich betrachtet, sondern als Teil eines Gesamtbildes, so hat man alle klassischen Symptome von Dekadenz. Dass das so lange nicht beim Namen genannt wurde, hat mit den angenehmen Seiten der Dekadenz zu tun. Der einzelne lebt gut, man verlangt ihm wenig ab, der Schlendrian ist ein allgemeiner. Das Unbehagen wächst nur allmählich, die Warner werden belächelt wegen ihrer pessimistischen Sicht oder gefürchtet wegen der drastischen Maßnahmen, die sie fordern.
Darüber sind wir jetzt hinaus. Peter Hahne, der ZDF-Korrespondent, hat ein Buch über das Ende der Spaßgesellschaft geschrieben, das auf seine Weise das Thema Dekadenz behandelt. Hahne bevorzugt klare Konturen, einfache Erklärungen und einleuchtende Vorschläge. Das hat ihm in den großen Feuilletons nur gönnerische oder verächtliche Kommentare eingetragen. Aber das Publikum ist unbeirrt und kauft sein Buch. Hahne und Schily stehen in verschiedenen politischen Lagern, aber in dem Punkt bahnt sich ein parteiübergreifender Konsens an: Dekadenz ist etwas, das bekämpft werden muss, und der Entschluss zum Kampf ist der entscheidende erste Schritt. Der rumänische Aphoristiker Cioran hat gesagt, Dekadenz sei, wenn wir nicht mehr fragen, was können wir tun, sondern nur noch fragen, was geschieht mit uns. Also: Was können wir tun?
Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, Historiker u. Studienrat, lebt in Göttingen. Er schreibt u.a. für die Beilage "Das Parlament" und veröffentlichte zahlreiche Bücher.
Auch das ist ein Begriff, den man aus dem Mund eines Sozialdemokraten lange nicht gehört hat. Der Vorwurf von "Dekadenz" gilt als typisch konservative Rhetorik. Dafür gibt es gute Gründe. Die Wahrnehmung von Dekadenz im Sinn des Verfalls kultureller Standards gehört zu den Stärken des Konservatismus, der sich die Verteidigung von Tradition und Moral angelegen sein lässt. Allerdings ist der Konservatismus in Deutschland keine Größe, mit der man rechnen müsste und wo er auftritt, tut er das kleinlaut und möchte sich kaum die Blöße der Rückständigkeit geben. Aber vielleicht ist diese Wahrnehmung schon nicht mehr aktuell, vielleicht stehen wir am Anfang eines Prozesses, bei dem auch die Linke auf das Arsenal der Kulturkritik zurückgreift, weil die Verhältnisse sich wandeln, weil die gesellschaftliche Lage mittlerweile so problematisch erscheint.
Vielleicht ist dann auch nicht das fehlende Aufsehen bei Schilys Äußerung das bemerkenswerte, sondern das schweigende Einverständnis mit der Diagnose. Und dieses Einverständnis könnte wiederum zurückgehen auf die Offensichtlichkeit der Tatbestände. Der Begriff Dekadenz ist zwar seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlich, aber die Sache selbst wurde seit der Antike immer wieder beschrieben. Ob es sich um biblische oder griechische oder römische Autoren handelt, in einem waren sich alle einig: der Verfall ist die Folge lang anhaltenden Wohllebens, wenn man so will die Kehrseite des Erfolgs, den eine Gesellschaftsordnung mit ihrer Durchsetzung und wachsendem Reichtum erreicht hat. Die einfachste Erklärung für Dekadenz ist deshalb Verlust der Anspannung, der Anspannung, die in der Phase des Aufstiegs nötig war, um sich zu behaupten. Solche Anspannung geht einher mit Formwillen und Strenge der sozialen Ordnung. Wenn das Ziel erreicht ist, erlischt die Anspannung, der Formwille erlahmt und die Strenge löst sich auf, wird im Namen irgendeiner "Liberalität" immer wieder in Frage gestellt. Die Unterschiede zwischen den Klassen und zwischen den Geschlechtern werden eingeebnet, oft verbunden mit dem Zerfall der Familie und Geburtenschwund. Das Gemeinschaftsbewusstsein zerrinnt und irgendwann leuchtet die Notwendigkeit, das Ganze nach Innen wie nach Außen zu schützen, kaum noch jemandem ein.
Es ist nicht schwer, das alles in unserer Situation wiederzufinden. Wenn man den Kollaps des Sozialstaats, die Demographie und die Scheidungsraten, die Bildungs- und Erziehungsmängel, die sprunghafte wachsende Kriminalität und die Pariarolle der Bundeswehr nicht für sich betrachtet, sondern als Teil eines Gesamtbildes, so hat man alle klassischen Symptome von Dekadenz. Dass das so lange nicht beim Namen genannt wurde, hat mit den angenehmen Seiten der Dekadenz zu tun. Der einzelne lebt gut, man verlangt ihm wenig ab, der Schlendrian ist ein allgemeiner. Das Unbehagen wächst nur allmählich, die Warner werden belächelt wegen ihrer pessimistischen Sicht oder gefürchtet wegen der drastischen Maßnahmen, die sie fordern.
Darüber sind wir jetzt hinaus. Peter Hahne, der ZDF-Korrespondent, hat ein Buch über das Ende der Spaßgesellschaft geschrieben, das auf seine Weise das Thema Dekadenz behandelt. Hahne bevorzugt klare Konturen, einfache Erklärungen und einleuchtende Vorschläge. Das hat ihm in den großen Feuilletons nur gönnerische oder verächtliche Kommentare eingetragen. Aber das Publikum ist unbeirrt und kauft sein Buch. Hahne und Schily stehen in verschiedenen politischen Lagern, aber in dem Punkt bahnt sich ein parteiübergreifender Konsens an: Dekadenz ist etwas, das bekämpft werden muss, und der Entschluss zum Kampf ist der entscheidende erste Schritt. Der rumänische Aphoristiker Cioran hat gesagt, Dekadenz sei, wenn wir nicht mehr fragen, was können wir tun, sondern nur noch fragen, was geschieht mit uns. Also: Was können wir tun?
Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, Historiker u. Studienrat, lebt in Göttingen. Er schreibt u.a. für die Beilage "Das Parlament" und veröffentlichte zahlreiche Bücher.