Endlich, Nietzsche ist tot!
Mit diesen "Erinnerungen" liegt eines der seltsamsten und zweideutigsten Porträts der deutschen Geistesgeschichte vor. Der Theologe Franz Overbeck, ein Freund Nietzsches, belegt den irre gewordenen Philosophen immer wieder mit subtilen Herabsetzungen.
Wie kein anderer hat der Theologe Franz Overbeck (1837-1905) den Zusammenbruch Friedrich Nietzsches aus der Nähe erlebt. Anfang Januar 1889 reiste er nach Turin, wo er den zum Gott gewordenen Freund tobend und delirierend am Klavier fand. Er brachte ihn zurück nach Basel und übergab ihn dem "hiesigen Irrenspital".
"Nun ist er endlich gestorben", lautete sein Stoßseufzer, als im August 1900 die leiblichen Reste Nietzsches seinem Geist nachfolgten. Da war der Kampf um das Nachleben des wirkungsmächtigsten Philosophen der Moderne bereits voll im Gang. Nur in diesem Zusammenhang ist der Freundesdienst zu verstehen, den Overbeck mit seinen posthum im Jahr 1908 veröffentlichten "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche" leistete. Als einer der wichtigsten Texte der Wirkungsgeschichte des Philosophen wurden sie jetzt neu aufgelegt, ergänzt um einen luziden Essay von Heinrich Detering.
Overbecks Schrift ist das Gegenteil der Hammerphilosophenverherrlichung, wie sie damals im Schwange war – eine schmerzlich kritische Würdigung, gerichtet gegen das von der Schwester geleitete Weimarer Archiv, gegen die Apologeten und Apostel, die die Lufthoheit im Reich des Übermenschen beanspruchen und Nietzsche zur Galionsfigur einer nationalistisch-rassistischen Gegenmoderne machen wollen. Ungeachtet des Titels "Erinnerungen" liegt Overbeck allerdings nichts ferner als Anekdoten. Seine Aufzeichnungen sind diskret, und seine Erlebnisse führt er nur insofern ins Feld als sie helfen, das Bild von Leben und Werk zurechtzurücken.
Die Modernität Nietzsches benennt Overbeck in prägnanten Formeln: Seine Schriften seien "gleichsam unterwegs geschrieben"; ihr Leser müsse sich auf die "verschiedenen Sprachen" verstehen. Er weist auf die Theatralität Nietzsches hin, der "eine Kulisse nach der anderen aus seinem Dekorationsmagazin hervorgezogen" habe. Und er entwickelt ein subtiles Verständnis für seine Paradoxien: der Décadent, der sich zum Überwinder und Übermenschen stilisiert, der Kranke, der die Gesundheit feiert, der Rhetoriker, der eine rhetorische Bildungskultur attackiert und Wagner wegen dessen bluffender Artistik verachtet, obwohl er doch selbst große philosophische Oper macht. In diesen Zusammenhang gehört Overbecks beklemmende Vorstellung, auch die Geisteskrankheit könnte bloß simuliert sein.
So sehr er Nietzsches "geniale kritische Begabung" schätzte – die dionysisch-ekstatischen Züge in den späten Schriften irritierten den nüchternen Gelehrten. Er glaubt Nietzsche nicht die tänzerische "Leichtigkeit", nicht die "Heiterkeit", nicht die Affektation des "Vornehmen". Immer wieder muss man die zeitgenössische Nietzsche-Vergötzung mitdenken, um die subtilen Herabsetzungen richtig verstehen zu können. Mit diesen "Erinnerungen" liegt nun wieder eines der merkwürdigsten, ambivalentesten Porträts der deutschen Geistesgeschichte vor.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Franz Overbeck: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und einem Essay von Heinrich Detering
Berenberg Verlag, Berlin 2011
156 Seiten, 20 Euro
"Nun ist er endlich gestorben", lautete sein Stoßseufzer, als im August 1900 die leiblichen Reste Nietzsches seinem Geist nachfolgten. Da war der Kampf um das Nachleben des wirkungsmächtigsten Philosophen der Moderne bereits voll im Gang. Nur in diesem Zusammenhang ist der Freundesdienst zu verstehen, den Overbeck mit seinen posthum im Jahr 1908 veröffentlichten "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche" leistete. Als einer der wichtigsten Texte der Wirkungsgeschichte des Philosophen wurden sie jetzt neu aufgelegt, ergänzt um einen luziden Essay von Heinrich Detering.
Overbecks Schrift ist das Gegenteil der Hammerphilosophenverherrlichung, wie sie damals im Schwange war – eine schmerzlich kritische Würdigung, gerichtet gegen das von der Schwester geleitete Weimarer Archiv, gegen die Apologeten und Apostel, die die Lufthoheit im Reich des Übermenschen beanspruchen und Nietzsche zur Galionsfigur einer nationalistisch-rassistischen Gegenmoderne machen wollen. Ungeachtet des Titels "Erinnerungen" liegt Overbeck allerdings nichts ferner als Anekdoten. Seine Aufzeichnungen sind diskret, und seine Erlebnisse führt er nur insofern ins Feld als sie helfen, das Bild von Leben und Werk zurechtzurücken.
Die Modernität Nietzsches benennt Overbeck in prägnanten Formeln: Seine Schriften seien "gleichsam unterwegs geschrieben"; ihr Leser müsse sich auf die "verschiedenen Sprachen" verstehen. Er weist auf die Theatralität Nietzsches hin, der "eine Kulisse nach der anderen aus seinem Dekorationsmagazin hervorgezogen" habe. Und er entwickelt ein subtiles Verständnis für seine Paradoxien: der Décadent, der sich zum Überwinder und Übermenschen stilisiert, der Kranke, der die Gesundheit feiert, der Rhetoriker, der eine rhetorische Bildungskultur attackiert und Wagner wegen dessen bluffender Artistik verachtet, obwohl er doch selbst große philosophische Oper macht. In diesen Zusammenhang gehört Overbecks beklemmende Vorstellung, auch die Geisteskrankheit könnte bloß simuliert sein.
So sehr er Nietzsches "geniale kritische Begabung" schätzte – die dionysisch-ekstatischen Züge in den späten Schriften irritierten den nüchternen Gelehrten. Er glaubt Nietzsche nicht die tänzerische "Leichtigkeit", nicht die "Heiterkeit", nicht die Affektation des "Vornehmen". Immer wieder muss man die zeitgenössische Nietzsche-Vergötzung mitdenken, um die subtilen Herabsetzungen richtig verstehen zu können. Mit diesen "Erinnerungen" liegt nun wieder eines der merkwürdigsten, ambivalentesten Porträts der deutschen Geistesgeschichte vor.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Franz Overbeck: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und einem Essay von Heinrich Detering
Berenberg Verlag, Berlin 2011
156 Seiten, 20 Euro