Endlich reden die Nachfahren der Sklaven

Von Martina Zimmermann |
Die Karibikfranzosen, viele von ihnen Nachfahren einstiger Sklaven, fühlen sich bis heute als Bürger zweiter Klasse, deren Geschichte kaum aufgearbeitet wurde. Unter anderem aber zeigt nun eine erste Gedenkaktion, dass sich das Land dieser Geschichte annimmt.
Die schwarzen Percussionisten sind ganz in Weiß gekleidet. Ihr Gesang erinnert an die Versklavung der Vorfahren, die aus Afrika über den Atlantik deportiert wurden.

Zum Gedenken an die Opfer des Sklavenhandels werfen die Akteure und Zuschauer Blüten in die Loire, genau dorthin, von wo aus einst die Sklaventransporter aufbrachen. Sie segelten von der Loire bis zum Atlantik und dann nach Afrika. Der Bürgermeister von Nantes heißt Jean-Marc Ayrault:

"Das ist das erste Memorial in Frankreich und in Europa über diese tragische Geschichte, den Sklavenhandel. Vier Jahrhunderte lang, also elf Millionen Sklaven, die von Afrika nach Amerika geschickt wurden. Nantes hat zu diesem tragischen Handel beigetragen, das entspricht etwa 550.000 Menschen, Männer, Frauen, Kinder."

Nantes war im 18. Jahrhundert die Hauptstadt des französischen Sklavenhandels. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert verschleppten Händler aus der Stadt in 1714 Expeditionen Menschen von Afrika nach Amerika und in die Karibik.

Noch heute zeugen am Kai und auf der nahen Insel Ile Feydeau herrschaftliche Häuser vom damaligen Reichtum der Reeder. Der von der Karibikinsel Guadeloupe stammende Fußballweltmeister Lilian Thuram:

"Sklaverei und Kolonialherrschaft haben die Menschen über ihre Hautfarbe definiert. Schwarz war negativ. Weiß überlegen, weil die damalige Ideologie wollte, dass es Menschen gibt, die überlegen sein sollen, weil ihre Haut heller ist als die der anderen."

Dass die Ideologie der Sklaverei bis heute Folgen hat, ist für den Fußballer klar. Als Schwarzer fühlte er sich erst, als er in Paris war:

"Als ich mit neun Jahren in die Pariser Region kam, stellte ich fest, dass meine Hautfarbe den anderen auffiel, aber auf negative Weise. Es gab damals einen Comic mit einer dummen schwarzen Kuh. Wie sie wurde ich 'Schwärzchen' genannt. Die weiße Kuh in dem Comic war sehr intelligent. Zum Glück bin ich Leuten begegnet, die mir erklärt haben, dass der Rassismus eine intellektuelle und eine politische Konstruktion ist."

2005 gründete Lilian Thuram eine Stiftung, die gegen Rassismus kämpft. Der beliebte Fußballer besucht immer wieder Schulklassen, um über Klischees aufzuklären.

"Die Stadt Nantes arbeitet ihre Geschichte mit dem Sklavenhandel heute auf intelligente Weise auf. Die jungen Leute können das Memorial besuchen und werden nicht mehr dieselben Probleme haben wie frühere Generationen: Sie werden weder in einer Opferhaltung verharren, noch ein schlechtes Gewissen haben oder Schuldgefühle wegen der Sklaverei."

"Teranga" heißt das Restaurant in der Rue Paul Bellamy. Es ist das erste afrikanische Restaurant in Nantes, das schick und modern eingerichtet ist, mit Kunstobjekten aus allen afrikanischen Ländern. Möbel und Stoffe sind in Sandfarben, die an Afrika erinnern.

Am Abend gibt es senegalesische Spezialitäten, mittags Küche aus aller Welt. Zu den Kunden gehören Beamte und Geschäftsleute aus dem Viertel. Dort hat der Pariser Ibrahima Sy seinen Traum vom eigenen Restaurant in Nantes verwirklicht. Über die Geschichte der Sklaverei und das neue Memorial wurde auch bei ihm diskutiert, erzählt der 45-jährige Franzose senegalesischer Herkunft:

"Das war ein heikles Thema und es gab viele Debatten, die Leute wollten über diesen Teil der Vergangenheit nicht mehr reden. Es brauchte Zeit, bis das Projekt gereift war und den Menschen bewusst wurde, dass der Sklavenhandel zur Geschichte von Nantes gehört. Nantes ist heute multikulturell. Aber man muss verstehen, warum es in Nantes so viele Schwarze gibt! Ich habe einen Sohn von 24 Jahren, seine Mutter ist weiß. Er kennt die Geschichte. Aber alle Mischlingskinder in Nantes und auch anderswo müssen sie kennen. Sie müssen die Vergangenheit und die Geschichte ihrer Eltern kennen und verstehen, aus welchem Grund sie von anderswo her kamen. Nur dann kann etwas Gutes herauskommen."

Jahrhunderte lang war die Geschichte des Sklavenhandels tabu in Frankreich, nicht nur in Nantes, auch in Bordeaux, La Rochelle, Saint Malo. Insgesamt siebzehn Hafenstädte verdienten am Sklavenhandel und an der Ausbeutung der Sklaven auf den Plantagen der französischen Antillen.

Wie alle französischen Städte ist auch Nantes mit seinen fast 300.000 Einwohnern heute kosmopolitisch und multikulturell: Am Graben des Schlosses der Herzöge der Bretagne gehen Einwohner aller Hautfarben spazieren. In der Fußgängerzone laden die Terrassen von Cafés und Restaurants zum Verweilen ein. Hand in Hand ein junges Pärchen - der Schwarze mit den Rastazöpfchen ist Schreiner, seine etwas hellhäutigere Freundin ist Schülerin:

"Rassismus gibt es noch immer, wenn es mich heute auch weniger betrifft. Aber meine Großeltern sind noch sehr der Denkweise verhaftet: hier die Schwarzen, dort die Weißen. Ich bin noch jung, vielleicht erlebe ich das später auch, wenn ich arbeite. Wenn meine Mutter eine Arbeit sucht oder eine neue Wohnung, bekommt sie Rassismus zu spüren. Mir ist das bisher nicht passiert."

Statistiken nach Herkunft oder Hautfarbe sind in Frankreich verboten: Der Bürger ist frei und gleich und brüderlich, Unterschiede gibt es offiziell nicht. Untersuchungen belegen allerdings, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe, einem muslimischen Namen oder einer Vorortadresse sieben bis acht Mal weniger Chancen haben, bei gleicher Qualifikation einen Job oder eine Wohnung zu finden: Diskriminierungen, die fortbestehen, obwohl inzwischen in den französischen Medien schwarze Journalisten und Moderatoren, erfolgreiche Schauspieler und Sportler zu sehen sind.

Darüber diskutiert der Informatiker Yassir Toure, Mitte vierzig, auf einer Mauer des Schlossgrabens mit Freunden. Er hat das Memorial bereits besucht:

"Das ist eine gute Sache, damit wird die Schuld der Weißen anerkannt! Das kann ein Faktor der Versöhnung sein, Weiße und Schwarze einander näher bringen."

"Lieu Unique" ist der Name des derzeit angesagtesten Ortes in Nantes. Von weitem ragt ein 38 Meter hoher Turm im Art Nouveau Stil über der ehemaligen Fabrikhalle einer Biskuitfirma - typisch für die Architektur am Anfang des 20. Jahrhunderts. Innen: Theater, Zirkus, Tanz, Konzerte, Ausstellungen, ein Spa und ein Restaurant sowie ein Café mit Liegestühlen und Ausblick auf den Kanal Saint-Felix. Wer kulturell interessiert ist, im Kulturbereich mitmischt oder einfach nur im Trend sein will, kommt hierher. Der graumelierte Arzt Yann Vidal diskutiert mit seiner Freundin über moderne Sklaverei.

"Die Sklaverei heute besteht darin, Mädchen tausend Euro dafür zu geben, dass sie Alte pflegen, wer kann davon leben? Wenn ein Mindestlohn von 1700 Euro gefordert wird, brüllen alle, das ist nicht möglich. Ich finde, es ist sehr gut, von unseren Vorfahren zu reden, den Sklaven und den Schwarzen, aber man muss auch von den Sklaven von heute reden. "

Und der Fußballweltmeister Lilian Thuram will den Blick von der Historie auf die jüngste französische Politik lenken.

"Monsieur Nicolas Sarkozy hielt nicht erst als Präsident, sondern auch schon zuvor als Minister Reden, die offen fremdenfeindlich und rassistisch sind. Der wichtigste Mann im Land konditionierte die Franzosen auf Konfrontation, auf ihre Hautfarbe, ihre Religion! Die Reden der Politiker sind rückschrittlich. Aber zur Wirklichkeit gehören auch Orte wie Nantes, wo sich zeigt, dass es eine Politik gibt, die die Geschichte bewältigt, damit wir uns gegenseitig anders betrachten können."

Schon seit den 80er Jahren setzte sich in Nantes der Karibikfranzose Octave Cestor für den Bau eines Memorials ein. Er organisierte Ausstellungen und Kolloquien über die Geschichte der Stadt und des Sklavenhandels:

"Frankreich hatte es immer schwer, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Wir aus Nantes zeigen den Franzosen, dass es möglich ist. Man muss die Geschichte objektiv betrachten. Wir wollen keine Buße, keine Reue, keine Anklage. Aber ohne Aufarbeitung kommt die Vergangenheit in Formen von Gewalt schmerzlich hervor. Unsere Jugend muss stolz auf sich sein können."

Wenn Frank Cololea mit seinen Freundinnen und Freunden durch die Strassen spaziert, erregt die Gruppe Aufsehen: Die Schwarzen tragen ein schwarzes T-Shirt, auf dem weithin sichtbar in großen weißen Buchstaben steht: "Anti-negrophobe Brigade":

"Wir bekämpfen Rassismus gegen Schwarze. In Frankreich verurteilt man im allgemeinen Rassismus. Aber es gibt einen besonderen Rassismus, der in Frankreich vielleicht am stärksten verankert ist: der Rassismus gegen Schwarze, der zur Sklaverei geführt hat. Wie definiert man Sklaverei? Alle Formen von Sklaverei gleichsetzen zu wollen, bedeutet, die Europäer und besonders Frankreich zu entlasten von den unbeschreiblichen Verbrechen, die sie begangen haben. Man kann nicht ein Verbrechen, das bestellt, gebilligt und verantwortet wurde von der Kirche, vom Staat, von der Regierung, ein ganzes System zum Beispiel gleichsetzen mit der Ausbeutung von Hausangestellten!"

Die 18-jährige Schülerin Chloé Jacob, die auf der Schlossmauer von Nantes ihre Mittagspause verbringt, beobachtet Rassismus sogar in ihrer Klasse. Sie ist dafür, dass Sklavenhandel und Kolonialgeschichte genauso anerkannt werden wie etwa der Holocaust.

"Manche wollen dieses Bild von Frankreich nicht. Für sie kann Frankreich so etwas nicht getan haben. Sie machen sich was vor. Man muss die Augen aufmachen, das ist wie Deutschland mit den Juden. Die Deutschen haben anerkannt, Fehler begangen zu haben. Ich denke, man muss daran erinnern, was Frankreich getan hat und die Familien würdigen, die darunter gelitten haben."

Über ein Viertel aller Karibikfranzosen, die auf Martinique oder Guadeloupe zur Welt kamen, leben heute in Frankreich, über eine halbe Million im Großraum Paris, das sind inzwischen mehr als in den Überseedepartements Martinique oder Guadeloupe zusammen. Für Octave Cestor ist die nächste Etappe im Kampf der Schwarzen der Bau eines Memorial in Paris. Schließlich habe der König von Frankreich den Sklavenhandel genehmigt, sagt er, und der saß in Paris. Dabei gehe es ihm nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft seiner Kinder in Frankreich:

"Ich träume davon, dass wir wie die USA eines Tages einen schwarzen Präsidenten haben. Ich möchte schwarze Bürgermeister. Aber davon sind wir in Frankreich noch weit entfernt. Die Hautfarbe darf kein Grund für Unterschiede sein. Es gibt eine einzige Rasse, den Menschen, und jeder muss seine Chance bekommen. Tatsächlich aber verrichten Schwarze heute die niedrigsten Beschäftigungen. Es muss auch in den oberen Schichten aussehen wie auf den Straßen."

Angesichts der Etappenziele im Kampf auf Anerkennung gehört es heute zum guten Ton, von einem "neuen schwarzen Selbstbewusstsein" zu sprechen. Fußballweltmeister Lilian Thuram meint dazu:

"Ich weiß nicht, was ein schwarzes Selbstbewusstsein sein soll. Hat Bewusstsein eine Hautfarbe? Es gab schon immer Menschen, die gegen Ungerechtigkeiten Überlegungen anstellen! Seit Anfang der Sklaverei gab es Schwarze, die gegen die Sklaverei gekämpft haben, genauso gab es Weiße, die gegen die Sklaverei gekämpft haben. Ich glaube, immer mehr Menschen stellen Fragen über die Gesellschaft: Welchen Blick hat sie auf die Menschen mit schwarzer Hautfarbe? Das ist sehr wichtig. Aber Sie wissen, dass es auch Schwarze gibt, die nicht überlegen. Deshalb sage ich: Es ist keine Frage der Hautfarbe, sondern es gibt Menschen, die nachdenken, damit die Gesellschaft sich wandelt und gerechter wird. Mit der Hautfarbe hat das nichts zu tun!"

Links auf dradio.de:

"Solch ein Diskurs nährt den Rassismus" - Französischer Ex-Nationalfußballer Thuram kritisiert Politik in seiner Heimat
Lilian Thuram
Lilian Thuram© dpa/EPA/Atef Safadi
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