Energiearmut in Deutschland

Kein Geld, kein Strom

Ein schwarzer Stecker vor einer weißen 220-Volt-Steckdose aufgenommen am Dienstag (19.09.2006) in Hamburg.
Kein Geld für Strom: Hundertausenden Menschen in Deutschland wird jedes Jahr der Strom abgestellt. © picture-alliance / dpa / Sebastian Wimann
Von Anja Nehls |
In rund 350.000 deutschen Haushalten geht jedes Jahr das Licht aus, weil die Stromrechnung nicht bezahlt wurde. Die Gesetzeslage ist eindeutig: Wer seinem Energieversorger mindestens 100 Euro schuldet, muss mit einer Stromsperre rechnen. Doch oft kann den Betroffenen geholfen werden.
Am Beratungstisch von Bettina Heine in der Schuldnerberatungsstelle Charlottenburg-Wilmersdorf sitzen nicht nur Menschen, die den Ratenvertrag für die neue Couch, das Auto oder die Handy Rechnung nicht mehr bezahlen können. Immer häufiger kommen in letzter Zeit auch Berlinerinnen und Berliner, die ihre Stromrechnung nicht mehr begleichen können:
"Die sich dann mit einem Campingkocher und Kerzen eben für eine Zeit über Wasser halten oder eben behelfen, über die, die dann eben woanders unterkommen oder unterkommen müssen, bis hin zu denen, die dann eben in der Drucksituation das dann eben möglich machen, dass dann die Beträge bezahlt werden, also das haben wir alles in der Beratung."

Stromschulden – oft nur eine Forderung von vielen

Bettina Heine versucht, diesen Menschen so gut es geht zu helfen. Sie bemüht sich darum, Aufschub oder Ratenzahlung zu vereinbaren und aufzuzeigen, wie man den Stromverbrauch senken kann. Meistens sind die Stromschulden nur eine Forderung unter vielen, aber sie haben eine gewisse Signalwirkung. Wer den Strom nicht mehr bezahlen kann, hat meistens auch Mietschulden und damit ganz schnell existenzielle Probleme. Betroffen sind ganz unterschiedliche Menschen: Selbstständige, bei denen das Geschäft nicht mehr läuft, Hartz IV-Empfänger, Rentner, die auf einmal krank geworden sind, aber auch junge Erwachsene, die eine WG gegründet haben und ihre Ausgaben nicht im Blick haben. Bettina Heine kennt viele Gründe, warum Betroffenen der Strom abgestellt wird:
"Also gar nicht wo die Überlegung dahin geht, Strom muss auch noch mitbezahlt werden, das wird dann oft vergessen. Wir haben aber auch bei den Senioren Situationen, wo unter Umständen durch Altgeräte ein sehr hoher Stromverbrauch vorhanden ist. Defekte Zähler hatten wir auch schon. Wodurch es dann auch zu hohen Rückforderungen kommt. Und dann ist es in diesem Fall sehr schwierig, die Stromversorgung aufrecht zu erhalten."

Nicht waschen, nicht duschen, nicht kochen

Allein im vergangenen Jahr wurde knapp 18.000 Berlinern aufgrund von unbezahlten Rechnungen der Strom abgestellt. Das sind 15 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Zunahme käme aber lediglich durch eine Fristenänderung im Mahnverfahren zustande, sagt der Berliner Grundversorger Vattenfall. Bundesweit waren über 350.000 Haushalte vorübergehend ohne Strom. Für viele Betroffene ist das eine furchtbare Situation:
"Man kann nicht waschen, duschen, pflegen, kochen, man ist psychisch sehr belastet in dem Zustand." "Ich habe keinen Festnetzanschluss, ich habe keinen Computer, also Arbeitssuche ist von mir zuhause aus sowieso komplett gestrichen. Ich kann auch nicht mehr kochen, also keine frischen Gerichte mehr, gar nichts mehr. Und Wurst wird innerhalb eines Tages schlecht, wenn man keinen Kühlschrank hat." " Ich kann ein bisschen aushalten, aber die Kinder sind jung, eines ist vier, der andere ist neun. Und da kann ich es ihnen nicht zumuten ohne Strom und ohne warmes Wasser. Das ist nicht machbar." "Geburtstagsparty konnten wir hier nicht machen. Weil wie soll ich hier eine Geburtstagsparty ausrichten ohne Strom? Ich kann nicht kochen, ich kann keinen Kuchen backen. Licht gibt es auch nicht."

Stromversorger müssen Härtefälle schonen

Dabei müssen die Stromversorger eigentlich soziale Kriterien berücksichtigen, bevor sie den Saft abdrehen, sagt Michael Efler von DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus. Das regele die Stromgrundversorgungsverordnung, erklärt Efler:
"Sie müssen einfach nachfragen bei den Kunden: Sie haben jetzt nicht bezahlt? O.k, wir würden normalerweise jetzt eine Sperre androhen aber vorher fragen wir nochmal: In welcher familiären Situation sind Sie? Haben Sie vielleicht mehrere kleine Kinder zuhause? Haben Sie Familienangehörige, die Sie pflegen? Oder ein Dialysegerät zuhause? Was weiß ich. Also alles Dinge, aufgrund derer halt ein erhöhter Energiebereich oder eine höhere soziale Härte vorliegt."
Dieses Vorgehen würde in der Praxis jedoch fast nie umgesetzt, beklagt Michael Efler. Beim Berliner Grundversorger Vattenfall wird die Sperre ab 100 Euro Stromschulden angedroht, dann wird ein zweites Mal gemahnt und daraufhin ein Sperrtermin angekündigt. Gut vier Wochen nach der ersten Drohung wird der Strom abgestellt. Es gebe bei Vattenfall durchaus einen gewissen Ermessenspielraum. Aber nur wenn zu sehen sei, dass der Schuldner seine Stromschulden auch ernsthaft abbaue, sagt Stefan Hönemann von Vattenfall:
"Das ist wahrscheinlich wie bei allen anderen Unternehmen auch, dass jemand sagt, es gibt einen besonderen Grund, warum ich jetzt nicht bezahlen kann. Das ändert juristisch an der Tatsache, dass derjenige bezahlen muss, erstmal nichts. Aber wenn Sie sich überlegen, dass auch bei allen Lebenslagen, für die man Unterstützung bekommt, da werden auch bestimmte Bescheinigungen und Begutachtungen und Atteste und sowas verlangt. Wenn man das mal ernsthaft durchspielt, was das für ein Aufwand wäre, den dann auch alle anderen bezahlen. Und wer legt denn wie fest, wie die Notlage denn sein muss? Das wird nicht funktionieren."

Frankreich als Vorbild

Das gehe durchaus, widerspricht Michael Efler. In Frankreich zum Beispiel muss sich der Stromversorger das Absperren genehmigen lassen. Jeder Fall werde einzeln geprüft. Die 2014 in Berlin gegründeten Berliner Stadtwerke sollten als kommunales Unternehmen auf Stromsperrungen verzichten, wünscht sich DIE LINKE. Darüber hinaus steht der derzeitige private Grundversorger Vattenfall im Wettbewerb mit dem Landesbetrieb Berlin Energie um die Betreibung des Berliner Stromnetzes, so Michael Efler:
"Das ist unser Ziel, dass Berlin Energie das Berliner Stromnetz betreibt. Und dann würden wir natürlich auch mit Berlin Energie besprechen, dass Stromsperren im Grunde nicht sein sollen und dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, sie zu vermeiden."
Eine Möglichkeit dafür wäre, die Energiekosten im Harz IV-Regelsatz stärker zu berücksichtigen. In Berlin sei das besonders wichtig, so Efler. Berlin ist die Hauptstadt der Hartz IV-Empfänger und hat die höchste Armutsquote in Deutschland. Der Energiekostenanteil liegt im Hartz IV-Regelsatz von etwas über 400 Euro bei ungefähr 30 Euro. Doch dieser Betrag reicht inzwischen nicht mehr, sagt auch Thorsten Kasper vom Verbraucherzentrale Bundesverband:
"Es ist grundsätzlich das Problem, dass die Strompreise jetzt seit Jahren regelmäßig steigen. Spätestens zum 1.1., wenn die Umlage für die erneuerbaren Energien wieder in den Strompreis reingerechnet wird. Das ist ein steter Aufwärtstrend. Und es ist tatsächlich eine Forderung des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, dass die staatlichen Sozialleistungen schneller und regelmäßig die steigenden Strompreise berücksichtigen und entsprechend angepasst werden."
Die Androhung einer Stromsperre sollte aber unbedingt ernst genommen werden, mahnt Torsten Kasper. Wer rechtzeitig Kontakt mit dem Stromanbieter aufnimmt, kann unter Umständen eine Ratenzahlung vereinbaren. Leistungsempfänger können vom zuständigen Amt ein Darlehen für eine Zwischenfinanzierung erhalten. Solange nicht bezahlt ist, habe der Anbieter grundsätzlich das Recht den Strom abzustellen.

Mit einer Prepaid-Karte Strom aufladen

"Vom Prinzip sind die Sperren zeitlich nicht befriste. Solange die Voraussetzungen vorliegen, kann die Sperre andauern. Das heißt, sie kann nicht nur eine oder zwei Wochen, sie kann auch monatelang andauern. Sobald man bezahlt hat, hat man wieder das Recht angeschlossen zu werden. Dann wird es noch eine gewisse Zeit dauern, bis der Versorger, der Stromlieferant jemanden schickt und das Kabel wieder anklemmt. Und dann hat man wieder den Strom."
Vorausgesetzt, man hat zusätzlich zu den Stromkosten 162 Euro bezahlt, die Vattenfall allein für das Ab- und wieder Anstellen berechnet. Im Schnitt müssen die säumigen Haushalte 32 Tage ohne Strom auskommen. Um so etwas zu vermeiden, gibt es bereits Lösungen. Für Menschen, die ihren Stromverbrauch schlecht kontrollieren könnten, gebe es die Möglichkeit, den Strom per Prepaid-Karte zu bezahlen und quasi aufzuladen, erklärt Bettina Heine von der Schuldnerberatung Charlottenburg-Wilmersdorf:
"Man hat da Modellprojekte, wo praktisch Wohnungen mit solchen Prepaid-Zählern ausgestattet werden. Wo dann durch die Zahlung von bestimmten Beträgen entsprechend Strom geliefert wird, aber auch nur so viel. Aber das ist in der Ausstattung sehr teuer. Deshalb schrecken davon viele Wohnungsbaugesellschaften ab, die Wohnungen entsprechend auszustatten."

Kein Grundrecht auf Strom

Bei den Stadtwerken Jena funktioniert das System seit drei Jahren gut. Mit einer Prepaid-Karte, ähnlich wie fürs Handy, können Kunden dort an einem Automaten ihren Strom per Vorkasse kaufen. Durch das Prinzip "erst zahlen, dann nutzen" können keine neuen Schulden auflaufen und alte Forderungen in Raten abgezahlt werden. Der Einbau des Vorkassenzählers ist für die Kunden kostenlos, eingebaut wird er bei Zahlungsschwierigkeiten, oft aber auch auf Kundenwunsch. Die Kosten von rund 500 Euro pro Zähler tragen die Stadtwerke Jena. Der Strom kostet genauso viel wie ohne Vorkassenzähler. Auch die Stadtwerke Duisburg und Kamen haben ein ähnliches System. In Berlin mit besonders vielen Haushalten ohne Strom gibt es zurzeit kein vergleichbares Angebot. Weil auch die Verbraucherpreise weiter steigen, wird die Zahl der Stromschuldner vermutlich nicht sinken. 2009 lag die Kilowattstunde bei 19 Cent, jetzt sind es ca. 27 Cent. Ein Grundrecht auf Strom existiert in Deutschland nicht.
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