Keine Angst vor der Atomkraft
Während in Deutschland auf dem Weg zur Energiewende viel Kohle verfeuert wird, nutzt Finnland ohne Berührungsangst die Kernkraft. Außerdem forschen die Finnen an Kraftstoffen aus natürlichen Ressourcen.
Derrick Kamele zeigt auf ein großes rotes Gebäude mit Beton-Kuppel. Unter diesem Dach soll künftig der dritte Reaktorblock des Atomkraftwerkes Olkiluoto Strom erzeugen. Ein zentraler Baustein in der finnischen Energie- und Klimapolitik - soll er doch ein Sechstel des Strombedarfs in Finnland decken und so den Anteil der fossilen Energieträger deutlich reduzieren.
Aber das Mammut-Projekt Olkiluoto 3 ist aus dem Ruder gelaufen. Die Baugerüste stehen seit neun Jahren, ein Ende ist nicht in Sicht. Die finnische Betreiberfirma TVO und der französische Atom-Konzern Areva überziehen sich mit Klagen. Und so kümmert sich der Ingenieur Derrick Kamele nun um Touristen und Journalisten, statt um Schaltkreise.
Über tausend Räume hat das neue Reaktor-Gebäude an der finnischen Westküste. Noch liegen viele Plastikplanen am Boden, Maschinen sind mit rot-gelben Warnbändern versehen - "Nicht anfassen!" - aus den Wänden ragen in Kopfhöhe dicke Kabelstränge. Ein Helm ist unverzichtbar - auch für Derrick Kamele, der wegen der Wärme und den vielen Stufen etwas ins Schwitzen gerät, als er den Kühl-Kreislauf erklärt.
Das Wasser aus der Ostsee kühlt über Wärmetauscher das Reaktor-Wasser, aber radioaktives Wasser kann nicht austreten, schiebt der Ingenieur schnell hinterher. Alles sei sicher - nicht so wie in Fukushima, dessen Technik noch aus den 60er Jahren stammte. Hier in Olkiluoto 3 wird ein Druckwasserreaktor der neuesten Baureihe "EPR" eingesetzt - vor ein paar Jahren sollte er noch die Rückkehr der Kernkraft weltweit einläuten. Dann die Katastrophe 2011. Danach mussten auch in Finnland die Sicherheitskonzepte überarbeitet werden:
"If hydrogen is in this room. It can cause an explosion. The floor can prevent electronic charges."
Der Boden hier wirkt antistatisch, erklärt Ingenieur Kamele. Das ist wichtig, damit elektronisch aufgeladene Kleidung keine Funken schlägt. Falls sich Wasserstoff im Gebäude bildet, könnte es sonst zu Explosionen kommen, wie in Fukushima.
Olkiluoto 3 mutiert zu einer der teuersten Baustellen der Welt
Nur die höchsten Sicherheitsstandards werden von der finnischen Betreiberfirma TVO akzeptiert. Der Hersteller Areva will auf der anderen Seite ein Musterbeispiel für einen Hightech-Reaktor abliefern, damit auch andere Länder wieder in die Kernkraft investieren. Das Resultat: Rasant steigende Kosten. Die lagen ursprünglich bei drei Milliarden Euro - nun gehen Schätzungen von über acht Milliarden aus. Olkiluoto 3 mutiert so zu einer der teuersten Baustellen der Welt.
Die Pläne für einen vierten Reaktor auf der kleinen Halbinsel im Westen des Landes sind somit vorerst in der Schublade verschwunden. Das bringt die finnische Regierung in Bedrängnis, ist der Ausbau der Atomkraft doch der wichtigste Hebel, um die EU-Klimaziele zu erreichen. Immerhin ist das Endlager voll im Plan:
"Dann gehen wir diesen Tunnel entlang und Sie setzen Ihre Helme auf. Sicherheit geht vor."
Meint Merja Heinonen und setzt ihren eigenen gelben Helm auf. Die Frau Ende 40 führt Besucher durch die Endlager auf dem Gelände des Atomkraftwerkes Olkiluoto. Etwas ganz normales in Finnland - auch Schulklassen kommen regelmäßig. Insgesamt sind es pro Jahr etwa 15.000 Interessierte. Berührungsängste mit der Atomkraft gibt es kaum. So verlief auch die Suche nach einer Lagerstätte sehr pragmatisch: Direkt neben den Meilern - in 400 Metern Tiefe - sollen ab 2022 die ersten abgekühlten Brennstäbe eingelagert werden. Für die Ewigkeit umgeben von Granitgestein. Als erstes Land der Erde hätte Finnland dann ein Endlager für hochradioaktiven Müll. Für die mittel- und schwachradioaktiven Abfälle gibt es schon heute eine finale Lagerstätte.
Ein kleiner Transporter rollt über die fünf Meter breite unterirdische Straße.
"Das ist ein Transporttunnel. Durch den werden einmal im Monat die radioaktiven Abfälle gefahren."
Heute hat der Transporter allerdings keine Fässer geladen. Sonst dürften die Besucher nicht hier sein. Sie stehen gerade an der Seite und sind erstaunt über die taghelle Beleuchtung und den grünen Pflanzen-Bewuchs an den Granitwänden. Das sei normal, erklärt die Führerin, weil auch Grundwasser tröpfchenweise einsickere.
Zusammen mit dem Licht seien das gute Bedingungen für Vegetation. Über Pumpen wird das Grundwasser aber ständig entfernt. Nasse Füße bekommt niemand.
"Ja, aber wir pumpen das ständig ab. Wir haben zwei Pumpen. Die bringen das Grundwasser an die Oberfläche."
Einen Kilometer Fußmarsch und mehrere Sicherheitstüren weiter befindet sich die Endlager-Halle für den schwach- und mittelradioaktiven Müll - zum Beispiel abgenutzte Plastikteile aus dem Atomkraftwerk. Die Lüftung dröhnt. Auf dem sonst glatten Boden sind auf der rechten und linken Seite Zylinderschächte erkennbar. Über einen Kran an der Decke werden die beton-ummantelten 200-Liter-Behälter in die Schächte eingelassen. Für Besucher sei diese Halle völlig ungefährlich, meint die Touristen-Führerin:
"Nein. Die Radioaktivität hier ist die gleiche wie oben - in der Natur. Wie die natürliche Radioaktivität. Also keine Gefahr für uns hier."
Beim Verlassen der Halle müssen trotzdem alle noch durch einen Scanner, der die Radioaktivität misst. Alarm gibt es bei keinem.
Die Kommune freut sich auch über das Endlager - es sichert Arbeitsplätze und Steuereinnahmen
Betreiber der Endlager-Stätten ist die Firma Posiva. Sie hat sich seit den 90er Jahren um das finnische Endlager in Olkiluoto beworben und im Jahr 2000 den Zuschlag erhalten. Dabei war die Halbinsel zunächst gar nicht auf der Liste für mögliche Standorte, aufgrund der Küstenlage und des einsickernden Wassers. Aber es gebe noch andere Kriterien, erklärt Unternehmenssprecher Timo Seppälä ganz offen:
"Es geht nicht darum, den besten Ort zu finden, sondern einen geeigneten Ort. Bei einem Faktor können wir allerdings keinen Kompromiss machen: Das ist die geologische Eignung - die muss sehr lange Sicherheit bieten. Aber da alle vier Orte in der Endauswahl Granitgestein hatten, also die gleiche geologische Eignung, haben andere Kriterien den Ausschlag gegeben. Zum Beispiel haben wir die Akzeptanz der lokalen Bevölkerung einbezogen. Wenn man das nicht macht, kommt man mit so einem Projekt nicht voran, da die Kommunen ein Veto-Recht haben."
Und so kam das Endlager eben nach Olkiluoto, in direkter Nachbarschaft zu den Meilern. Neben den kurzen Transportwegen war dafür vor allem die positive Haltung der Kommune ausschlaggebend. Die Zustimmung für das Endlager ist bei den Steuereinnahmen von rund einer Million Euro pro Jahr, den sicheren Arbeitsplätzen und der vergleichsweise luxuriösen Infrastruktur der Gemeinde vielleicht auch kein Wunder.
In der Gegend um Olkiluoto freuen sich die allermeisten Menschen daher über das strahlende Vermächtnis. Und auch im Rest Finnlands sieht man die Entscheidung für die Atomkraft pragmatisch. Ihr Revival wird in Finnland unter anderem damit begründet, dass das Land einfach schlechte Bedingungen für Erneuerbare Energien biete: Der lange, dunkle Winter mache Solarenergie zu einem aussichtslosen Unterfangen, für die effektive Nutzung der Windenergie liegt Finnland zu weit weg vom windreichen Atlantik - die Ostsee bietet wesentlich weniger Potenzial. Daher sollte sich die Regierung mehr auf Biomasse konzentrieren, fordert der langjährige Parteivorsitzende der Grünen, Osmo Soininvaara.
"Wir haben große Wälder hier - deshalb können wir viel mit Biomasse tun. In andere Erneuerbare - wie Wind und Sonne zu investieren, ist dagegen nicht so wirtschaftlich hier. Zwar sind die Atomreaktoren teuer, aber sie produzieren günstigen Strom. Nur beim Heizen - wir sind ja ein kaltes Land und müssen viel heizen - da sind Erneuerbare schon sinnvoll."
Zum Heizen - und für die Mobilität, den dritten großen Sektor des Energieverbrauchs. Und hier tut sich tatsächlich einiges, so sind die Finnen führend bei der Entwicklung von Renewable Diesel - ein neuer Kraftstoff, nicht zu verwechseln mit Bioethanol, den es an deutschen Tankstellen als E10 gibt.
Diesel aus Palmöl und Abfällen - ein Zukunftsmodell?
Renewable Diesel kann im Gegensatz zu E10 nicht nur beigemischt werden, sondern den herkömmlichen Kraftstoff zu 100 Prozent ersetzen. Nur eine Handvoll Firmen weltweit produziert Renewable Diesel bisher. Dazu zählt auch das halbstaatliche finnische Unternehmen Neste Oil. Ihr Produkt besteht zur einen Hälfe aus Palmöl und zur anderen aus Abfällen - zum Beispiel Fetten aus der Tier- und Fischverarbeitung. Doch der Weltmarkt für Tierfette ist begrenzt, sagt Petri Lehmus, Vizedirektor für Forschung und Entwicklung bei Neste Oil:
"Wir sind schon einer der größten Abnehmer von Tierfetten weltweit. Natürlich ist noch Luft nach oben. Im Moment arbeiten wir in der Forschungsabteilung daran, dass wir auch Tierfette niedrigerer Qualität benutzen können. Damit würde die verfügbare Menge an Rohstoffen steigen."
Denn bisher produziert man bei Neste Oil gerade einmal zwei Millionen Tonnen Renewable Diesel pro Jahr. Um die Produktion steigern und gleichzeitig den Anteil des ethisch umstrittenen Palmöls verringern zu können, forscht man im Labor von Neste Oil bereits an der zweiten Generation des erneuerbaren Kraftstoffs.
Dabei sollen Algen und Mikroben das Öl produzieren, dass dann zu Kraftstoff weiterverarbeitet wird. Mikrobiologin Miia Laamanen erklärt das Verfahren:
"Unser Prozess beginnt mit verschiedenen Rohmaterialien aus cellulosereichen Fasern. Wir konzentrieren uns im Wesentlichen auf Stroh und andere landwirtschaftliche Abfälle. Der Zucker muss aus den Fasern gelöst werden, sonst kommen unsere Mikroben da nicht ran. Also müssen wir das Stroh-Substrat ein bisschen verändern, um Zucker-Moleküle zu erhalten, die unsere Mikroben essen können."
Auf diese Weise gefüttert, setzen die Mikroben innerhalb einiger Tage reichlich Fett an, das ihnen anschließend im wahrsten Sinne abgepresst wird. Aus dem Öl wird dann Diesel raffiniert. Was wie Science Fiction klingt, ist inzwischen schon nahezu marktreif: Demnächst will Neste Oil mit dem Bau einer ersten größeren Produktionsanlage beginnen.
Finnland will unabhängiger von ausländischen Energielieferungen werden
Einen ganz ähnlichen Weg gehen die Chemiker von UPM - ebenfalls ein finnisches Unternehmen. Bei UPM benutzt man Holz als Biomasse, um Diesel herzustellen. Eine erste Fabrik soll noch dieses Jahr die Produktion aufnehmen. Marko Snellman, zuständig für den Bereich Bio-Kraftstoffe, erläutert die Vorteile der UPM-Methode:
"Das wird die weltweit erste Bio-Raffinerie, die Renewable Diesel aus Holz herstellt. Der Vorteil von Holz ist, dass man keine Lebensmittel benutzen muss. Daher ist es ein wirklich nachhaltiges Rohmaterial."
Dass die neuartigen Bio-Kraftstoffe gerade in Finnland entwickelt werden, hat mit politischen Zielsetzungen zu tun: Das Land sieht sich als Musterschüler Europas und will die EU-Vorgabe, bis 2020 zehn Prozent des Kraftstoff-Verbrauchs aus erneuerbaren Quellen zu decken, sogar übertreffen - in Finnland sollen es 20 Prozent sein. Für die Vorreiter der Technologie bei UPM und Neste Oil ergibt das so etwas wie eine Absatz-Garantie - egal zu welchem Preis sie den Sprit produzieren. UPM-Manager Snellman hofft daher, dass die Politik auf dem eingeschlagenen Kurs bleibt:
"Aus unserer Sicht ist eine stabile und verlässliche Gesetzgebung entscheidend. Nur so können wir über Investitionen in weitere Bio-Raffinerien in der Zukunft entscheiden. Wir brauchen stabile Rahmenbedingungen, um unser Geschäft auszubauen."
Ob Kraftstoffe aus nachwachsenden Materialien oder der Ausbau der Atomkraft - letztlich dient beides dem Ziel von Energie-Sicherheit und Autarkie. Die Finnen wollen in Zukunft weniger abhängig von Energielieferungen aus dem Ausland, vor allem aber weniger abhängig von Russland sein. Mangels eigener Ressourcen haben sie sich dabei gegen Kohle und für Atomkraft entschieden - und nehmen dafür auch die Gefahren in Kauf, die AKWs mit sich bringen. Typisch finnisch, sagt Osmo Soininvaara von den Grünen:
"Das ist ein sehr pragmatisches Land. Wahrscheinlich ist sogar die Mehrheit der Leute gegen Atomenergie. Aber für sie ist das kein großes Thema mehr, im Gegensatz zu früher. Auch nach Fukushima sagen die Leute: Wir haben keine großen Wellen. Was in Fukushima passiert ist, kann hier nicht passieren. Aber etwas anderes könnte passieren."