Jenseits von Fukushima
Die Katastrophe von Fukushima jährt sich zum dritten Mal. Die Bewohner der Gegend machen aus der Not eine Tugend und bauen auf ehemaligen Reisfeldern Solarkraftwerke. Daneben loten Experten aus, ob auch Wasser- und Windkraft Japans Energieversorgung sicherstellen können.
Die Präfektur Fukushima ist Bauernland. Nur wenige hundert Meter hinter dem Zaun, der die Sperrzone um das geborstene Kraftwerk umgibt, gehen Landwirte ihrer angestammten Arbeit nach. Zurzeit wird "Negi" geerntet, Porree oder Lauch, wie man in Deutschland sagt. Der Boden ist fett, die Ernte gut, der Ertrag nahe null. Zwar wird jede Kiste auf Verstrahlung geprüft, aber das Ergebnis ist beinahe schon egal. Es reicht, wenn "Fukushima" draufsteht, dann kauft es keiner mehr. Viele Bauern sind weggezogen, einige sind trotzig geblieben. Kenro Okumura zum Beispiel, ein Mann mit Mission:
"Ich betreibe hier eine Versuchsanlage mit Solarplatten. Die Idee ist, das verseuchte Land innerhalb der Sperrzone für die Produktion von Sonnenenergie zu nutzen. Man darf da zwar nichts anbauen, aber Strom an sich ist ja nicht schmutzig. Wenn wir ihn verkaufen, können wir überleben. Meine Versuchsanlage hier liegt ja gerade mal einen Kilometer außerhalb der Sperrzone. Ich baue unter den Solarpanels auch noch Gemüse an. Ich will herausfinden, welches im Schatten der Platten am besten gedeiht."
2030 soll Japan zu 100 Prozent "grünen Strom" produzieren
Die Landgemeinde, auf der Bauer Okumura wirtschaftet, ist berühmt in Japan. Minamisoma hat einen streitbaren Bürgermeister, der keine Scheu hat, sich mit der Kernkraftlobby und der Regierung in Tokio anzulegen. Dem es außerdem gelungen ist, dem Exodus Einhalt zu gebieten. Von den ehemals 75.000 Einwohnern waren nach der Katastrophe nur 10.000 übrig geblieben. Während andere Orte in der Nähe des Kraftwerks bis heute Geisterstädte sind, ist Minamisoma mit 65.000 Bürgern schon bald wieder so dicht bewohnt wie früher. Das liege an der entschlossenen Rathauspolitik, sagt Mayumi Shooji, die Abteilungsleiterin für Erneuerbare Energien:
"Noch im Jahr 2011, kurz nach der Katastrophe, haben wir beschlossen, den Wiederaufbau unter das Motto zu stellen: Minamisoma sagt sich los von der Kernkraft. Bis zum Jahr 2020 werden wir 60 Prozent unseres Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien beziehen, bis 2030 100 Prozent. Davon werden vier Fünftel Sonnenenergie sein, den Rest liefert ein Windpark."
Das ist mehr als ein Versprechen. Überall auf Privathäusern und Fabrikhallen glitzern Fotovoltaik-Platten in der Sonne. Aber natürlich reicht das nicht. An der Meeresküste, die der Tsunami 2011 verwüstet hat, soll ein großes Solarkraftwerk entstehen. Die Flächen dafür sind vorhanden. So bitter es ist: Es sind die Reisfelder jener Bauern, die vor drei Jahren ums Leben gekommen waren. Minamisoma allein hatte 636 Tote zu beklagen.
Sonne ist die wichtigste Energiequelle
Was in den Katastrophengebieten aus der Not eine Tugend gemacht hat, wurde andernorts aus wirtschaftlichem Kalkül betrieben. Schon hat Japan das ehemalige Vorbild Deutschland bei der Nutzung der Sonnenenergie überholt. Kyocera zum Beispiel, ein Mischkonzern, der in Deutschland vor allem durch Drucker und Kopiergeräte bekannt ist, hat bei Solaranlagen in Japan einen Marktanteil von 20 Prozent bei Privatkunden und 40 Prozent in der Industrie. Firmensprecher Ichiro Ikeda sieht eine rosige Zukunft für die Branche:
"Wir nehmen an, dass sich die Nachfrage nach Sonnenenergie vor allem aus der Industrie drastisch steigern wird. Weil Japan wenig geeignete Bodenflächen hat, wollen viele Unternehmer die Anlagen auf ihren Lagerhäusern oder Fabrikhallen installieren."
Und das geschieht längst. Neu sind solarbetriebene Gewächshäuser, die in der Landschaft stehen wie gigantische Quallen, und Teppiche aus Solarpanels auf dem Meer. Vor der Südspitze der Insel Kyushu entsteht eine schwimmende Anlage, die 70 Megawatt produzieren soll, genug für eine Kleinstadt.
Entwicklungspotential ist vorhanden. Von 1999 bis 2011 wurden in Japan nur drei Gigawatt installiert, allein im Jahr 2013 kamen nach Expertenschätzungen fünf bis sieben Gigawatt hinzu. Damit ist die Sonnenenergie mit Abstand die wichtigste unter den erneuerbaren Energiequellen, auch wenn die - mit weniger als zwei Prozent Anteil an der japanischen Gesamtversorgung – insgesamt noch keine große Rolle spielen.
Es steht eine beeindruckende Vision am Horizont, genau genommen hinterm Horizont. 143 Windräder, jedes 100 Meter hoch, schwimmen auf dem Meer. Vom Land aus sind sie kaum zu erkennen, weil sie 20 bis 40 Kilometer vor der Küste von Fukushima dümpeln. Die riesigen Rotoren leiten ihren Strom an drei schwimmende Umspannwerke. Durch dicke Kabel am Meeresboden fließt die Energie an Land, wo sie ins Verteilernetz der ehemaligen Kernkraftwerke eingespeist wird. Das weltgrößte Windkraftwerk erzeugt einen Gigawatt Strom, mehr als ein Atommeiler und 17 mal so viel wie der deutsche Nordsee-Windpark "Alpha Ventus".
Professor Takeshi Ishihara von der Tokyo Universität ist begeistert von diesem Projekt - auch wenn es bisher fast ausschließlich auf dem Papier steht.
"Es gibt gar keine Alternative zum Standort im Meer, wenn man beständigen, starken Wind nutzen will. Vor der Küste der Präfektur Fukushima weht der Wind 1,7 mal stärker als an Land, was aber im Vergleich zu landgestützten Windkraftwerken das Fünffache an Strom bringt."
Offshore-Anlagen werden zunächst vom Staat finanziert
Natürlich kennt der Ingenieur vergleichbare Anlagen, er war in Bremerhaven und Cuxhaven zur Ortsbesichtigung. Nur: Im Wattenmeer sind die Masten im Meeresboden verankert. Wegen der steil abfallenden Festlandsockel müssen Windmühlen an den japanischen Küsten schwimmen lernen. Das Meer dort ist bis zu 150 Meter tief. Vertäut werden die Windräder nur, damit sie ihren Standort nicht verändern können. Professor Ishihara koordiniert die Zusammenarbeit von zehn einheimischen Großkonzernen. Unter anderem sind Mitsubishi, Hitachi und Nippon Steel im Boot. Anders als bei Solarpanels oder Windrädern für den Hausgebrauch bedarf eine "Offshore Wind Farm" der Expertise, aber auch der Finanzkraft großer Unternehmen:
"Die Kosten für eine Windfarm auf dem Meer sind zwei- bis dreimal so hoch wie auf dem Land, und auch der Strom wird anderthalb bis zweimal so viel kosten. Aber die Preise werden über die Jahre heruntergehen, ähnlich wie bei den Anlagen in Europa."
Zwar wird der Testlauf aus Staatsmitteln finanziert. Umgerechnet 165 Millionen Euro stammen aus dem Wiederaufbaufonds für die Katastrophengebiete. Der Windpark soll auch Ersatz für Arbeitsplätze schaffen, die seit März 2011 in der Atomindustrie weggefallen sind. Doch die staatsfinanzierte Testphase läuft nur bis 2015. Für die Zeit danach, so klagt Professor Ishihara, gebe es keine konkrete Planung. Zwar hat die Regierung grundsätzlich entschieden, dass der Windpark 2018 in Betrieb gehen soll, aber niemand weiß, wie bis dahin genügend Windräder produziert, die Standorte dafür festgelegt, zahllose Berechnungen angestellt und tausende logistische Probleme gelöst werden sollen. Besonders wichtig sei die Zustimmung der Fischer, sagt Professor Ishihara.
"Wir stehen im ständigen Dialog mit ihnen, weil wir ohne ihr Einverständnis nicht bauen können. Deswegen testen wir zum Beispiel, ob es möglich ist, an den Trossen der Windräder Muscheln oder Fischreusen anzubringen, so dass auch die Fischer einen Gewinn aus dem Windpark ziehen."
Vorwurf: Netzmonopolisten speisen den sauberen Strom nicht ein
Der Zeitplan der Regierung ist mehr als ehrgeizig. Doch das Projekt als solches bleibt attraktiv. Sonst würden die beteiligten Konzerne kaum bereit sein, umgerechnet vier bis fünf Milliarden Euro dafür beiseite zu legen. Für den Professor ist Wind die ideale Energiequelle. Japans Küstenlinie ist länger als die der USA. Theoretisch, so hat er ausgerechnet, könnte das Land 1.570 Gigawatt Strom aus Offshore-Windparks erzeugen, achtmal mehr als alle Kraftwerke zusammen. Aber mit Rücksicht auf den Naturschutz, die Interessen der Fischer und der Schifffahrt sei nur etwa ein Drittel des Strombedarfs mit Windkraft zu decken. Noch fehlt eine Entscheidung aus Tokyo:
"Das Potenzial für Windkraft in Japan ist fünfmal so hoch wie die momentan weltweit durch Wind erzeugte Energie. Aber der Staat hat noch nicht entschieden, welchen Anteil Windenergie an der Gesamtversorgung bekommen soll. Wir brauchen eine Zielmarke. In den USA liegt sie bei 20 Prozent, in Großbritannien bei 30. Weil Windenergie zehnmal effizienter ist als Solarenergie und 100 mal mehr bringt als Biomasse, schlage ich vor, dem Beispiel der Briten zu folgen: 30 Prozent."
Ein Problem, das auch in Japan virulent ist, kennt die "Fukushima Wind Farm" nicht. Auf der nördlichen Insel Hokkaido zum Beispiel klagen die Betreiber landgestützter Windräder darüber, dass die Netzmonopolisten den sauberen Strom gar nicht erst einspeisen, weil angeblich die Kapazitäten der Kabel nicht ausreichen. Professor Ishihara:
"Anders als in Hokkaido sind in Fukushima die Netzleitungen ja schon vorhanden. Wir können die Infrastruktur der alten Kernkraftwerke nutzen."
Es blubbert im Land. Überall in Japan treten heiße Quellen zutage. Kein Wunder. Japan liegt auf dem pazifischen Feuerring. Wo sich drei tektonischen Erdplatten aneinander reiben, entstehen Erdbeben, Vulkane, aber auch natürliche Thermalbäder. Seit Jahrtausenden nutzen Japaner die Erdwärme, um sich im heißen Wasser zu entspannen. "Onsen" heißt die Kultur, für die das Land berühmt ist. Doch warum man die Energie aus dem Erdinneren kaum zur Energiegewinnung nutzt, ist ein Rätsel. Dr. Sachio Ehara, Direktor des Geothermischen Instituts und vormals Professor an der Kyushu-Universität:
"Wir wurden immer ausgebremst. Die Kosten seien zu hoch, die Quellen lägen in Naturschutzgebieten usw. Vor allem war und ist es die Lobby der Onsen-Betreiber, die Angst hat, wir könnten ihnen das Wasser abgraben. Dabei ist so ein Fall in 45 Jahren nicht vorgekommen."
Seit ein deutscher Ingenieur vor 100 Jahren ein Verfahren entwickelt hat, die Gluthitze im Erdinneren mittels Wasserdampf und Turbinen in nutzbare Energie zu transformieren, hat es auch in Japan immer wieder Versuche gegeben, die Erdwärme zu nutzen. Heute gibt es Geothermie-Kraftwerke an 17 Standorten – gebaut zwischen 1966 und 1999. Die Gesamtleistung liegt bei 550 Megawatt, was sozusagen einem halben Atomreaktor entspricht.
Obwohl Japan über Erdwärme in Hülle und Fülle verfügt, trägt sie zur Energiebilanz des Landes gerade mal 0,3 Prozent bei. Dabei hat Japan nach den USA und Indo-nesien das drittgrößte Potenzial für Geothermie - und auch die Technik. Japanische Konzerne fördern Erdwärme in Island, obwohl sie fünfmal mehr davon unter den eigenen Inseln haben.
"Die Regierung hat immer auf Atomstrom gesetzt. Dessen Anteil am Energiemix sollte bis 2030 sogar auf 50 Prozent steigen. Für erneuerbare Energie gab es einfach kein Geld. Erst nach dem Unfall von Fukushima bekamen wir positive Signale. Vor einem Jahr haben sie das Naturschutzgesetz geändert, so dass wir mit Zustimmung der lokalen Bevölkerung endlich wieder Testbohrungen vornehmen können."
Methangas im Nankai-Graben
Den traditionellen Gegnern aus der politisch gut vernetzten Onsen-Szene wurde klar gemacht, dass Erdwärme-Bohrungen in Tiefen von zweieinhalb Tausend bis dreitausend Meter vorstoßen. Thermalquellen liegen viel weiter oben. Auch für große Industrieunternehmen wird Erdwärme jetzt interessant. Zum einen, weil die gesetzlichen Bestimmungen gelockert wurden, zum anderen, weil Einspeisevergütungen nun auch für Strom aus Geothermie gezahlt werden. Denn die Investitionen in Erdwärme-Kraftwerke sind erheblich. Gleichwohl gibt Professor Ehara zu bedenken:
"Die Regierung hat die Kosten für fossile Brennstoffe, Atomkraft und Geothermie immer auf einen Zeitraum von 15 Jahren kalkuliert. Da waren wir zwei- bis dreimal teurer. Jetzt haben wir die Laufzeit auf 40 Jahre berechnet. Ich war selbst überrascht. Bei 40 Jahren Nutzung ist Strom aus Erdwärme nicht teurer als der aus anderen Quellen - und bei 100 Jahren bedeutend billiger."
Auch im Vergleich zu Wind und Sonne, sagt Ehara. Der größte Vorteil der Erdwärme sei, dass sie rund um die Uhr zur Verfügung steht und nicht importiert werden muss. Ideal für eine stabile Grundversorgung mit sauberer, nachhaltiger Energie.
"Allein im Seegebiet des östlichen Nankai-Grabens haben wir so viel Methangas entdeckt, dass man damit den jetzigen Verbrauch an importiertem Flüssiggas für 12 bis 13 Jahre decken könnte. Wenn man andere Fundstellen dazu nimmt, verfügt Japan über Methangas-Vorkommen für rund 100 Jahre."
Das ist eine Option für die Zukunft. Yoshihiro Masuda von der Tokyo-Universität leitet ein Forschungsprojekt, das noch keine Ergebnisse haben kann, weil es noch zu neu ist. Aber immerhin: Sein Team hat im Jahr 2008 als erstes auf der Welt Methangas aus dem Permafrostboden am Nordpolarmeer gefördert. Und - auf der Suche nach einer eigenen Brennstoffquelle für Japan - weiter geforscht.
Methangas entsteht bei niedrigen Temperaturen und hohem Druck. 1000 Meter unter dem Meeresspiegel herrschen genau diese Bedingungen. Aber nicht überall. Japanische Forscher haben rund um Nippons Inseln 225 Stellen kartographiert, wo die Wahrscheinlichkeit hoch ist, auf Methangasfelder zu stoßen, die auszubeuten sind.
Nachdem Testbohrungen an Land im vergangenen Jahr erfolgreich waren, sind weitere Untersuchungen des Meeresbodens für 2014 angekündigt. Wie bei jeder neuen Energie ist aller Anfang teuer. Noch spielt Erdöl eine große Rolle, weil es so leicht zu transportieren ist. Erdgas muss erst verflüssigt werden, wenn es auf Schiffen befördert werden soll, was die Sache teurer macht. Methangas ist eine ganz neue Quelle, die erst erschlossen werden muss. Aber sie hat den Vorteil, nicht importiert werden zu müssen.
Premierminister Abe hält an Kernkraft fest
Am Ende wird die Politik entscheiden, aus welchen Quellen Japan seine Energie beziehen wird: aus Sonne und Wind, aus Erdwärme oder Methangas. Premierminister Abe will unbedingt an der Kernkraft festhalten und so bald wie möglich wieder AKW ans Netz bringen. Aber nicht alle. Der Anteil von 30 Prozent, den die Atomkraft bis zur Katastrophe von Fukushima an der japanischen Energieversorgung hatte, soll nicht mehr gesteigert, sondern auf etwa 20 Prozent abgesenkt werden.
Trotzdem gibt es dagegen selbst in seiner eigenen Partei, den Liberaldemokraten, Widerstand. Einer seiner Vorgänger, der noch immer populäre Jun'ichiro Koizumi, verlangt den sofortigen Ausstieg. Eine einflussreiche Gruppe um den stellvertretenden Generalsekretär der LDP, Taro Kono, sucht einen Mittelweg:
"Natürlich ist ein sofortiger Ausstieg möglich. Zurzeit nutzen wir ja gar keine Kernenergie. Aber um den Ausstieg politisch durchzusetzen, braucht man einen mehrheitsfähigen Vorschlag. Wir müssen jetzt beschließen, dass kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut wird und alle Reaktoren nach 40 Jahren stillgelegt werden. Dann sind wir im Jahr 2050 raus aus der Atomenergie."