"Christ sein heißt Mensch sein"
Die Einrichtung römisch-katholischer Diözesen wird in Russland nicht gern gesehen. Die russisch-orthodoxe Kirche reagiert allergisch darauf, wenn dort missioniert wird. Vor 25 Jahren entstanden dennoch zwei Apostolische Administraturen, die in je zwei Bistümer umgewandelt wurden.
Clemens Pickel: "Wann wir als katholische Kirche in Russland auf eigene Füße kommen, kann ich nicht sagen. Ich bin Realist, nicht Pessimist, Realist, und muss sagen, so wie sich das Leute vom Westen her vorstellen, so wird es hier nie werden, denke ich. Also wir werden nicht die in Anführungszeichen ausreichende Zahl von Priestern haben. Also wir können nicht einen Verwaltungsapparat hier aufbauen, der in anderen Ländern der Welt für Kirche normal ist. Wir müssen das bisschen Kraft, was wir haben, auf Russisch würde man sagen an die Front werfen oder auf Deutsch an die Basis schicken."
Clemens Pickel ging 1990 als Priester nach Tadschikistan. Ein Jahr später übernahm der heute 54-jährige gebürtige Sachse die Gemeinde in der Kleinstadt Marx an der Wolga. 2002 berief ihn der Papst zum Bischof mit Sitz in Saratow.
Clemens Pickel: "Wir leben jetzt in Freiheit, aber es geht trotzdem schwer. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass in diesem flächenmäßig großen Bistum, was viermal so groß ist wie Deutschland, zurzeit 44 katholische Priester tätig sind. Also stellen sie sich vor, ganz Deutschland mit 11 Priestern. Das ist unsere Diasporasituation."
Etwa ein halbes Prozent der russischen Bevölkerung bekennt sich zum katholischen Glauben. Die Gemeinden sind klein und liegen oft hunderte Kilometer auseinander. Das Bistum Saratow reicht vom Nordkaukasus bis nach Kasan und von der ukrainischen Grenze bis an den Ural. Unter diesen Bedingungen sind geistliche Gemeinschaften eine wichtige Stütze für die Priester. Mutter-Theresa-Schwestern etwa tun im Bistum ihren Dienst, Karmelitinnen, auch Schwestern der Gemeinschaft Papst Johannes XXIII. Ihr gehört die aus Südtirol stammende Alberta Declara an. In Elista, Hauptstadt der autonomen Republik Kalmückien, hat sie ein kleines Zentrum für junge Menschen mit Behinderungen aufgebaut.
Russlanddeutsche prägten die katholischen Gemeinden
Alberta Declara: "Als wir hergekommen sind, gab es eine andere auch politische Situation, freier, muss man sagen und man konnte einfacher leben und auch arbeiten. Jetzt ist das Gesetz sehr streng geworden. Und die Leute sind ein bisschen geschlossener geworden gegenüber den Ausländern."
Der Wendepunkt war das Jahr 2014, nach der Krim-Annexion, als die Europäische Union Sanktionen gegen Russland verhängte. Firmen und Organisationen, die personell oder finanziell vom Ausland unterstützt werden, erleben seitdem noch schärfere Kontrollen als bisher schon. Auch katholische Gemeinden und Einrichtungen der Caritas sind davon betroffen, denn sie können nur existieren, weil es ausländische Förderer gibt. Eine weitere staatliche Disziplinierungsmethode besteht darin, ausländischen Mitarbeitern die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nicht zu verlängern. Auch katholische Priester waren schon unter den Betroffenen.
Clemens Pickel: "Die andere Erfahrung ist, dass hier in Russland vieles viel langsamer geht als in Deutschland. Und das bringt uns unter Druck. Also zum Beispiel im Verhältnis zu Hilfswerken, die gern Projekte unterstützen, aber die auch Ergebnisse sehen wollen. Nicht nur ‘ne Abrechnung oder ‘n Bericht, sondern Zahlen, also menschliche Zahlen: wieviel Jugendliche, wieviel Leute am Sonntag und so weiter. Und das geht alles ganz langsam."
Ursprünglich prägten Russlanddeutsche die katholischen Gemeinden. Viele haben das Land aber verlassen, die Gemeinden mussten schon drei Auswanderungswellen verkraften. Und sie verändern sich auch in sozialer Hinsicht. Seit der Rubel verfällt, nimmt die Armut zu. Immer häufiger ist Nothilfe gefragt. Das beobachtet auch Pauline Sommer, die in den 1980er Jahren mit ihrer deutschstämmigen Familie von Kasachstan nach Marx übersiedelte und dort der Gemeinschaft der Eucharistie-Schwestern beitrat.
"Wenn jemand kommt und bittet um Geld oder sowas, dann sagen wir nicht sofort, gut, da hast du das Geld, mach was du willst mit dem, wir schauen immer. Wir fahren zu den Familien, schauen wirklich, welche Umstände da sind, wenn es kranken Kinder sind, wenn wirklich keine Lebensmittel, dann auch wenn die Eltern nicht so gut sind oder nicht ehrlich, wir helfen doch, weil es für die Kinder auch wichtig ist, dass sie groß wachsen, ja."
Katholiken würden Gläubige anwerben
Es gibt aber auch Lichtblicke. Kommunale Behörden schätzen die soziale Arbeit der Caritas, die sich mit Unterstützung aus Deutschland immer mehr professionalisiert. Auch das Verhältnis zur russischen orthodoxen Mehrheitskirche entspannt sich. Lange wurde den Katholiken Proselytimus vorgeworfen, also das Abwerben von Gläubigen. Seit dem Treffen von Papst Franziskus und Patriarch Kirill habe sich die Stimmung deutlich verändert, sagt Bischof Clemens Pickel.
"Wenn ich einlade und die kommen oder wenn wir uns treffen am Rande von ‘ner anderen großen Veranstaltung, die mehr politischen Charakter hat, aber wir als Geistliche sind da eingeladen, dann kommt es schnell zu ganz einfachen Gesprächen, ohne irgendwelche diplomatischen Hintergedanken und so weiter. Spürbar besser."
Das ändert allerdings nichts am Kernproblem der katholischen Kirche, das sie nach 70 Jahren Kommunismus in gewisser Weise mit der Orthodoxie teilt.
Clemens Pickel: "Wir hier in Russland spüren ganz deutlich, wie schlimm das ist, wenn überhaupt keine Tradition da ist, also wenn Eltern und Großeltern mit Kirche nichts am Hut hatten. Dann ist es also für diese dritte oder vierte Generation unheimlich schwer, die Kurve zu kriegen."
Aus einem Vierteljahrhundert Leben in Russland zieht Bischof Clemens Pickel eine sehr persönliche Schlussfolgerung.
"Ich bin nach Russland gekommen, um Leuten zu helfen, Gott zu begegnen. Nicht um ‘ne Struktur wieder aufzubauen. Alle Ansprüche, die Hilfswerke oder der Vatikan an mich stellen: Ich kann nicht allen Ansprüchen gerecht werden. Und will‘s auch nicht. Christ sein heißt Mensch sein."