Wo niemand den Hut ziehen muss
Um seine Untertanen während der aufgeheizten Stimmung der Französischen Revolution mild zu stimmen, schenkt Karl Theodor seinen Untergebenen einen Park, der die Standesgrenzen überwinden darf. Was er zu den Surfern und Nacktbadern sagen würde, die sich heutzutage dort tummeln, darüber darf spekuliert werden.
Als im Sommer des Jahres 1789 die beunruhigende Nachricht nach Bayern drang, in Paris habe eine aufgebrachte Menge die Bastille erstürmt, da bewies Kurfürst Karl Theodor den Münchnern schnell, wie gut sie es mit ihm hatten und schenkte ihnen eines seiner ausgedehnten Jagdgebiete am Ufer der Isar.
"Nachdem seine churfürstliche Durchlaucht gnädigst gesonnen ist diese schönste Anlage der Natur dem Publikum in seinen Erholungs-Stunden nicht länger vorzuenthalten, so haben Höchstderselbe dem General Major von Thompson die Herstellung der öffentlichen Spaziergänge und Anlegung eines allgemeinen Englischen Gartens gnädigst übertragen."
So steht es in der Urkunde vom 13. August des Jahres 1789. Es ist der Geburtstag des ersten angelegten Volksgartens der Welt. Der Gründer, Kurfürst Karl Theodor, stammte aus Mannheim, das damals als eine der modernsten Städte Europas galt. Entsprechend ungern hatte der Kurfürst sein Erbe im rückständigen München angetreten. Um die verkrusteten bayerischen Strukturen zu reformieren, holte er sich den Amerikaner Benjamin Thompson an die Seite, einen Tausendsassa, der als Politiker, Erfinder, Sozialreformer und Militär Furore machte. Thompson, von Karl Theodor bald zum Grafen Rumford geadelt, wurde der eigentliche "Vater" des Englischen Gartens. Michael Degle von der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen:
"Zeitzeugen berichten, dass es für die einfachen Stände in München nicht so einfach möglich war, einfach mal so einen Spaziergang, wie man sich es heute vorstellt, zu machen. Und das war Rumfords Idee, dort vor den Toren Münchens einen Volksgarten zu erschaffen. Auch als eine Möglichkeit, dass alle Stände sich hier im Englischen Garten treffen."
Jeder soll gleich viel wert sein
Die von Thompson begonnene Planung des Parks übernahm schon bald Friedrich Ludwig von Sckell, der im Auftrag des Kurfürsten nach England gereist war und dort die neue Art der Landschafts- und Gartengestaltung studiert hatte. War bisher die "französische" Gartenarchitektur mit ihren geometrischen Linien und Formen prägend gewesen, trat nun in ganz Europa der "englische Garten" den Siegeszug an.
"Alles erscheint Natur, so glücklich ist die Kunst versteckt."
Bäume in lichten Gruppen, sanfte Hügel, Bächlein, die sich durch Blumenwiesen schlängeln - alles ist im Englischen Garten genau am richtigen Platz. Scheinbar "von Natur aus", in Wahrheit jedoch als Ergebnis kunstvoller Planung, auf dem Papier und vor Ort. Um den Wegen ihren "natürlichen" Verlauf zu geben, marschiert Skell durch das Gelände, in der Hand einen Stock, dessen eiserne Spitze den spontan gewählten Pfad auf den Boden markiert.
"Der Natur entsprechend" - das gilt auch für die Umgangsregeln im Park: Niemand muss hier vor dem anderen den Hut ziehen, so hat es der Kurfürst eigens angeordnet; jeder soll gleich viel wert sein in diesem Garten des Münchner Volkes.
Und das ist er auch heute noch. Rund 10.000 Menschen täglich vergnügen sich in diesem fast vier Quadratkilometer großen Park. Sie gehen spazieren, gönnen sich im Biergarten am Chinesischen Turm eine Maß, paddeln im Boot auf dem Kleinhesseloher See herum oder sonnen sich auf den Wiesen rund um das Monopteros-Tempelchen, teils bekleidet, teils - zur Empörung der einen, zur Freude der anderen - auch splitterfasernackt.
Züchtiger, aber nicht weniger aufregend geht es bei den Surfern zu, die sich auf dem reißenden Eisbach produzieren - direkt neben dem Schild "Surfen und Baden verboten - Vorsicht Lebensgefahr!" Und keine Polizei schreitet ein. Was wohl der Kurfürst zu alldem sagen würde! Vielleicht würde er auf das alte bayerische Prinzip verweisen: Leben und leben lassen. Die Liberalitas Bavariae - im Englischen Garten ist sie noch zu finden.