"Enorme Integrationsleistung"
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat die Bedeutung der vor 60 Jahren unterzeichneten Charta der Heimatvertriebenen als "Brücke" in die BRD gewürdigt. Der dort erklärte Verzicht auf Rache sei ein "bemerkenswerter Akt" gewesen.
Klaus Pokatzky: Acht Millionen Vertriebene lebten 1950 in der Bundesrepublik, noch einmal vier Millionen aus Ostpreußen und Schlesien etwa in der DDR - und von denen floh später ein großer Teil ebenfalls gen Westen. Nachdem am 5. August 1950 in Stuttgart-Bad Cannstadt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet worden war, wurde sie von Hunderttausenden Vertriebenen bei Kundgebungen in Stuttgart und in anderen westdeutschen Städten begrüßt. Hier zentrale Sätze aus der Charta in historischen O-Tönen:
"Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedanken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat."
"Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, dass auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können."
"Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas."
Pokatzky: Am Telefon begrüße ich nun den Historiker Hans-Ulrich Wehler - guten Tag, Herr Wehler!
Hans-Ulrich Wehler: Guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: War die Charta wirklich ein ehrliches Bekenntnis zu einem geeinten Europa und ein auch wirklich ehrlich gemeinter Gewaltverzicht, also Verzicht darauf, die Ostgebiete mit Gewalt zurückzuerobern?
Wehler: Es hält sich natürlich in den Vertriebenenverbänden und in den Führungsgremien, in denen ja außerordentlich viele Nationalsozialisten untergekrochen waren - das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen -, und die Verbände haben sich auch 60 Jahre nach dem Ende des Krieges dieser angebräunten Vergangenheit ihrer Führungsgremien noch nicht gestellt. Man muss sich schon klarmachen, dass das ein bemerkenswerter Akt ist sozusagen, nach einer kurzlebigen Vergangenheit dieses Angebot zu machen sozusagen, ohne Rache, ohne Vergeltung sich in Europa einzugliedern. Das schloss natürlich nicht aus - und das haben wir ja bis vor Kurzem immer wieder auf den Vertriebenenversammlungen erlebt -, dass man an Rückkehr, die wiedergewonnene Heimat und so weiter erinnerte.
Aber wenn man das jetzt mal in der historischen Perspektive sieht, ist das Entscheidende, dass die Regierung Adenauer sich vor eine Alternative gestellt sah, entweder die Wunde offen zu halten und immer und immer wieder Rückkehr der deutschen Ostgebiete, Entschädigung für die Vertriebenen zu fordern, oder einen Schlussstrich zu ziehen und zu sagen, intern, in den Kabinettssitzungen, wir werden da keinen Quadratmeter wiedergewinnen und wir müssen alles tun, diese Flüchtlinge, die nun in dem neuen deutschen Staat Westdeutschland gelandet waren, zu integrieren. Und das ist im Grunde genommen eine der großartigsten Leistungen der alten Bundesrepublik, dass diese Integration von so vielen Menschen in relativ kurzer Zeit gelungen ist.
Pokatzky: Es gibt zwei Zitate, die ich jetzt Ihnen ganz kurz vorhalten möchte, die ganz weit auseinanderliegen. Otto Schily, damals Bundesinnenminister, hat zum 50. Geburtstag der Charta die weitreichende Bedeutung gewürdigt, weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzogen habe, für die 50er-, 60er- und Folgejahre. Jetzt sagt zum, ja, im Vorausblick auf den 60. Geburtstag der frühere Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, Micha Brumlik, die Charta sei eine im Geist von Selbstmitleid getragene völkisch-politische Gründungsurkunde, mit der die junge Bundesrepublik quasi in Geiselhaft genommen worden sei. Also zwei völlig unterschiedliche Pole - liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitten?
Wehler: Nein, ich bin der Meinung, dass die historische Wahrheit bei Schily liegt, und ich halte das für ziemlich groben Unfug, was Brumlik da erzählt. Man muss sich vergegenwärtigen, die Vertreibung, der Krieg sind gerade wenige Jahre vorbei, während der Vertreibung, während der Flucht sind zwei Millionen Menschen umgekommen unter zum Teil grauenhaften Umständen, das ist jedermann damals noch präsent. Und da wird diese Charta formuliert, die im Grunde genommen, wenn man das sozusagen jetzt ganz im Kontext der damaligen Zeit sieht, verzichtet auf massive Forderungen wie Wiedergewinnung oder Zurückerstattung und sich sozusagen klar und eindeutig äußert: Wir werden versuchen, durch unsere Arbeit in einem hoffentlich - das ist ja nicht verboten, das zu hoffen - einem wiedervereinten Europa sozusagen unseren angemessenen Platz zu finden.
Aber ich kann nur sagen, dieses Reden über diese Charta, das verblasst völlig, wenn man sich klar macht, dass das Kabinett Adenauer den Lastenausgleich auf den Weg bringt, durch den eine Sondersteuer für alle die, die im Westen sozusagen ihren Besitz behalten hatten, die in ganz kurzer Zeit 180 Milliarden aufbringen, und da konnte aufs Ganze gesehen - statistisch ist das so - den Flüchtlingen und Vertriebenen zwischen 20 und 25 Prozent ihres früheren Vermögens und Einkommens erstattet werden und man konnte mit einer unendlich großen Zahl von Aufbaudarlehen und Hilfen ihnen unter die Arme greifen.
Pokatzky: Ich spreche mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die heute vor 60 Jahren in Stuttgart verkündet wurde. Herr Wehler, wie weit richteten sich die Forderungen der Charta - es gab ja auch ganz konkrete Forderungen an die westdeutsche Gesellschaft auch, in der die Vertriebenen ja lange Jahre, bevor sie dann also 25 Prozent ihres Besitzes erstattet bekamen, ein Fremdkörper waren?
Wehler: Das Leben der Flüchtlinge und Vertriebenen kann man sich gar nicht sozusagen eingeschränkt und miserabel genug vorstellen. Sie wurden in Kellern, Dachgeschossen, Baracken, die aus der Kriegszeit übrig geblieben waren untergebracht. Und was wir so das Wirtschaftswunder nennen, hängt ganz wesentlich - das haben gute Wirtschaftshistoriker inzwischen gezeigt - damit zusammen, dass etwa 24 Prozent des westdeutschen Arbeitskräftepotenzials von diesen Millionen Flüchtlingen gestellt wurden, die zu einer hohen Mobilität bereit waren und aus dem Dorf, wo sie provisorisch untergebracht waren, bereit waren, endlose Kilometer zum nächsten Arbeitsplatz zu reisen und dort zu niedrigen Löhnen zu arbeiten, weil sie ja buchstäblich alles brauchten.
Also, das ist auch eine Wiederaufbauleistung der Vertriebenen, die muss man sozusagen gegen die schreckliche Rhetorik, derer sich die Vertriebenenfunktionäre noch immer bedienten, zur Geltung bringen. Und wie immer man das beurteilen mag, es ist der Bundesrepublik gelungen, Charta hin oder her, diesen Integrationsprozess so zu beschleunigen, dass sozusagen die schrecklichen Unterschiede am Anfang nivelliert wurden.
Pokatzky: Hat die Charta damit so eine Art Grundgesetz gespielt, eine Art Grundgesetz der Vertriebenen in Deutschland, das ihnen dann auch geholfen hat, sich zu integrieren, und akzeptiert zu werden von der länger ansässigen Bevölkerung?
Wehler: Also unter politisch-taktischen Gründen - der Ausdruck Grundgesetz stammt ja wohl aus der Charta auch selber -, die Charta bietet den Politikern die Möglichkeit, immer wieder zu sagen, wenn rabiate Forderungen der Vertriebenenfunktionäre geäußert wurden - und man muss sich dran erinnern, dass ein sehr exponierter Mann, der unter den Nationalsozialisten eine wundervolle Rolle gespielt hatte, wie Theodor Oberländer als Vertriebenenminister im Kabinett, zeitweilig tätig war, dass der Verkehrsminister Seebohm ein lauthals für die Vertriebenen sprechender Minister war -, da gab es immer die Möglichkeit zu sagen, ja, aber die Charta legt auch die Vertriebenen darauf fest, in einer friedlichen Bundesrepublik sozusagen ihren Platz zu finden.
Denn die Charta enthält eben nicht rabiate Forderungen und sie hat nicht die Bundesrepublik darauf verpflichtet, sozusagen trotz des rhetorischen Ungewitters, was manchmal aus den Kreisen der Vertriebenenfunktionäre war, sozusagen eine rabiate Rückgewinnungspolitik, eine revisionistische Politik zum Beispiel gegenüber Polen und der Tschechoslowakei zu betreiben. Und wenn ich mir überlege, wie jetzt bei dem geplanten Vertreibungszentrum die Forderung, 60 Jahre nach dem Krieg möchten sich doch endlich die Verbände über die sozusagen nationalsozialistische Vergangenheit vieler ihrer Führungspersönlichkeiten einmal kritisch äußern und das einer sozusagen neutralen Historikerkommission übertragen, mit welcher Widerwilligkeit darauf reagiert wird, da sieht man, dass das immer noch ein wunder Punkt ist, der endlich so geklärt werden muss wie die Vergangenheit des Bundeskriminalamtes oder des Verfassungsschutzes.
Pokatzky: Ist der heutige Tag, der 60. Geburtstag der Charta der deutschen Vertriebenen, für uns alle ein Grund zu feiern?
Wehler: Also es ist eine schreckliche Erfahrung, dass im 20. Jahrhundert die europäische Geschichte durch große Vertreibung gekennzeichnet ist. Anderthalb Millionen Griechen von den Türken vertrieben, dann wieder Türken aus dem damaligen Griechenland vertrieben, dann die unendliche Vertreibungsserie, die die deutsche Bevölkerungspolitik nach 1939/40 in Osteuropa initiiert hat, dann der Gegenschlag, der sozusagen Millionen Deutsche in den Westen getrieben hat - das ist eigentlich kein Grund zu feiern, aber ich würde zwei Dinge doch sehr betonen: Diese Charta ist nicht ein rachelustiges Dokument - "wir wollen zurück und wir wollen entschädigt werden" -, sondern sie baut eine Brücke, auf der sich auch die Vertriebenen in den neuen Staat Bundesrepublik bewegen konnten.
Und man hat einen zweiten Grund: Das ist die enorme Integrationsleistung, mithilfe des Lastenausgleichs diese acht Millionen Flüchtlinge sozusagen aus ihrem außerordentlich umstrittenen Status als Zugewanderte, Fremde, gar nicht Willkommene herauszuheben und sie in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, die ihrem Wirtschaftswunder sozusagen zum guten Teil zu verdanken hat, dass dort, ich würde sagen, ein Viertel des westdeutschen Arbeitskräftepotenzials von außerordentlich arbeitswilligen Flüchtlingen gestellt wurden. Und diese beiden Dinge zusammengenommen, finde ich, die sind schon Grund sozusagen, voller Anerkennung und auch im Bewusstsein der Leistung von der Charta der Heimatvertriebenen und vom Lastenausgleich zu sprechen.
Pokatzky: Ich bedanke mich beim Historiker Hans-Ulrich Wehler. Wir haben gesprochen über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die heute vor 60 Jahren verkündet wurde. Vielen Dank, Herr Wehler!
Wehler: Danke Ihnen auch!
"Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedanken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat."
"Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, dass auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können."
"Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas."
Pokatzky: Am Telefon begrüße ich nun den Historiker Hans-Ulrich Wehler - guten Tag, Herr Wehler!
Hans-Ulrich Wehler: Guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: War die Charta wirklich ein ehrliches Bekenntnis zu einem geeinten Europa und ein auch wirklich ehrlich gemeinter Gewaltverzicht, also Verzicht darauf, die Ostgebiete mit Gewalt zurückzuerobern?
Wehler: Es hält sich natürlich in den Vertriebenenverbänden und in den Führungsgremien, in denen ja außerordentlich viele Nationalsozialisten untergekrochen waren - das muss man sich immer wieder vergegenwärtigen -, und die Verbände haben sich auch 60 Jahre nach dem Ende des Krieges dieser angebräunten Vergangenheit ihrer Führungsgremien noch nicht gestellt. Man muss sich schon klarmachen, dass das ein bemerkenswerter Akt ist sozusagen, nach einer kurzlebigen Vergangenheit dieses Angebot zu machen sozusagen, ohne Rache, ohne Vergeltung sich in Europa einzugliedern. Das schloss natürlich nicht aus - und das haben wir ja bis vor Kurzem immer wieder auf den Vertriebenenversammlungen erlebt -, dass man an Rückkehr, die wiedergewonnene Heimat und so weiter erinnerte.
Aber wenn man das jetzt mal in der historischen Perspektive sieht, ist das Entscheidende, dass die Regierung Adenauer sich vor eine Alternative gestellt sah, entweder die Wunde offen zu halten und immer und immer wieder Rückkehr der deutschen Ostgebiete, Entschädigung für die Vertriebenen zu fordern, oder einen Schlussstrich zu ziehen und zu sagen, intern, in den Kabinettssitzungen, wir werden da keinen Quadratmeter wiedergewinnen und wir müssen alles tun, diese Flüchtlinge, die nun in dem neuen deutschen Staat Westdeutschland gelandet waren, zu integrieren. Und das ist im Grunde genommen eine der großartigsten Leistungen der alten Bundesrepublik, dass diese Integration von so vielen Menschen in relativ kurzer Zeit gelungen ist.
Pokatzky: Es gibt zwei Zitate, die ich jetzt Ihnen ganz kurz vorhalten möchte, die ganz weit auseinanderliegen. Otto Schily, damals Bundesinnenminister, hat zum 50. Geburtstag der Charta die weitreichende Bedeutung gewürdigt, weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzogen habe, für die 50er-, 60er- und Folgejahre. Jetzt sagt zum, ja, im Vorausblick auf den 60. Geburtstag der frühere Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, Micha Brumlik, die Charta sei eine im Geist von Selbstmitleid getragene völkisch-politische Gründungsurkunde, mit der die junge Bundesrepublik quasi in Geiselhaft genommen worden sei. Also zwei völlig unterschiedliche Pole - liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitten?
Wehler: Nein, ich bin der Meinung, dass die historische Wahrheit bei Schily liegt, und ich halte das für ziemlich groben Unfug, was Brumlik da erzählt. Man muss sich vergegenwärtigen, die Vertreibung, der Krieg sind gerade wenige Jahre vorbei, während der Vertreibung, während der Flucht sind zwei Millionen Menschen umgekommen unter zum Teil grauenhaften Umständen, das ist jedermann damals noch präsent. Und da wird diese Charta formuliert, die im Grunde genommen, wenn man das sozusagen jetzt ganz im Kontext der damaligen Zeit sieht, verzichtet auf massive Forderungen wie Wiedergewinnung oder Zurückerstattung und sich sozusagen klar und eindeutig äußert: Wir werden versuchen, durch unsere Arbeit in einem hoffentlich - das ist ja nicht verboten, das zu hoffen - einem wiedervereinten Europa sozusagen unseren angemessenen Platz zu finden.
Aber ich kann nur sagen, dieses Reden über diese Charta, das verblasst völlig, wenn man sich klar macht, dass das Kabinett Adenauer den Lastenausgleich auf den Weg bringt, durch den eine Sondersteuer für alle die, die im Westen sozusagen ihren Besitz behalten hatten, die in ganz kurzer Zeit 180 Milliarden aufbringen, und da konnte aufs Ganze gesehen - statistisch ist das so - den Flüchtlingen und Vertriebenen zwischen 20 und 25 Prozent ihres früheren Vermögens und Einkommens erstattet werden und man konnte mit einer unendlich großen Zahl von Aufbaudarlehen und Hilfen ihnen unter die Arme greifen.
Pokatzky: Ich spreche mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die heute vor 60 Jahren in Stuttgart verkündet wurde. Herr Wehler, wie weit richteten sich die Forderungen der Charta - es gab ja auch ganz konkrete Forderungen an die westdeutsche Gesellschaft auch, in der die Vertriebenen ja lange Jahre, bevor sie dann also 25 Prozent ihres Besitzes erstattet bekamen, ein Fremdkörper waren?
Wehler: Das Leben der Flüchtlinge und Vertriebenen kann man sich gar nicht sozusagen eingeschränkt und miserabel genug vorstellen. Sie wurden in Kellern, Dachgeschossen, Baracken, die aus der Kriegszeit übrig geblieben waren untergebracht. Und was wir so das Wirtschaftswunder nennen, hängt ganz wesentlich - das haben gute Wirtschaftshistoriker inzwischen gezeigt - damit zusammen, dass etwa 24 Prozent des westdeutschen Arbeitskräftepotenzials von diesen Millionen Flüchtlingen gestellt wurden, die zu einer hohen Mobilität bereit waren und aus dem Dorf, wo sie provisorisch untergebracht waren, bereit waren, endlose Kilometer zum nächsten Arbeitsplatz zu reisen und dort zu niedrigen Löhnen zu arbeiten, weil sie ja buchstäblich alles brauchten.
Also, das ist auch eine Wiederaufbauleistung der Vertriebenen, die muss man sozusagen gegen die schreckliche Rhetorik, derer sich die Vertriebenenfunktionäre noch immer bedienten, zur Geltung bringen. Und wie immer man das beurteilen mag, es ist der Bundesrepublik gelungen, Charta hin oder her, diesen Integrationsprozess so zu beschleunigen, dass sozusagen die schrecklichen Unterschiede am Anfang nivelliert wurden.
Pokatzky: Hat die Charta damit so eine Art Grundgesetz gespielt, eine Art Grundgesetz der Vertriebenen in Deutschland, das ihnen dann auch geholfen hat, sich zu integrieren, und akzeptiert zu werden von der länger ansässigen Bevölkerung?
Wehler: Also unter politisch-taktischen Gründen - der Ausdruck Grundgesetz stammt ja wohl aus der Charta auch selber -, die Charta bietet den Politikern die Möglichkeit, immer wieder zu sagen, wenn rabiate Forderungen der Vertriebenenfunktionäre geäußert wurden - und man muss sich dran erinnern, dass ein sehr exponierter Mann, der unter den Nationalsozialisten eine wundervolle Rolle gespielt hatte, wie Theodor Oberländer als Vertriebenenminister im Kabinett, zeitweilig tätig war, dass der Verkehrsminister Seebohm ein lauthals für die Vertriebenen sprechender Minister war -, da gab es immer die Möglichkeit zu sagen, ja, aber die Charta legt auch die Vertriebenen darauf fest, in einer friedlichen Bundesrepublik sozusagen ihren Platz zu finden.
Denn die Charta enthält eben nicht rabiate Forderungen und sie hat nicht die Bundesrepublik darauf verpflichtet, sozusagen trotz des rhetorischen Ungewitters, was manchmal aus den Kreisen der Vertriebenenfunktionäre war, sozusagen eine rabiate Rückgewinnungspolitik, eine revisionistische Politik zum Beispiel gegenüber Polen und der Tschechoslowakei zu betreiben. Und wenn ich mir überlege, wie jetzt bei dem geplanten Vertreibungszentrum die Forderung, 60 Jahre nach dem Krieg möchten sich doch endlich die Verbände über die sozusagen nationalsozialistische Vergangenheit vieler ihrer Führungspersönlichkeiten einmal kritisch äußern und das einer sozusagen neutralen Historikerkommission übertragen, mit welcher Widerwilligkeit darauf reagiert wird, da sieht man, dass das immer noch ein wunder Punkt ist, der endlich so geklärt werden muss wie die Vergangenheit des Bundeskriminalamtes oder des Verfassungsschutzes.
Pokatzky: Ist der heutige Tag, der 60. Geburtstag der Charta der deutschen Vertriebenen, für uns alle ein Grund zu feiern?
Wehler: Also es ist eine schreckliche Erfahrung, dass im 20. Jahrhundert die europäische Geschichte durch große Vertreibung gekennzeichnet ist. Anderthalb Millionen Griechen von den Türken vertrieben, dann wieder Türken aus dem damaligen Griechenland vertrieben, dann die unendliche Vertreibungsserie, die die deutsche Bevölkerungspolitik nach 1939/40 in Osteuropa initiiert hat, dann der Gegenschlag, der sozusagen Millionen Deutsche in den Westen getrieben hat - das ist eigentlich kein Grund zu feiern, aber ich würde zwei Dinge doch sehr betonen: Diese Charta ist nicht ein rachelustiges Dokument - "wir wollen zurück und wir wollen entschädigt werden" -, sondern sie baut eine Brücke, auf der sich auch die Vertriebenen in den neuen Staat Bundesrepublik bewegen konnten.
Und man hat einen zweiten Grund: Das ist die enorme Integrationsleistung, mithilfe des Lastenausgleichs diese acht Millionen Flüchtlinge sozusagen aus ihrem außerordentlich umstrittenen Status als Zugewanderte, Fremde, gar nicht Willkommene herauszuheben und sie in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, die ihrem Wirtschaftswunder sozusagen zum guten Teil zu verdanken hat, dass dort, ich würde sagen, ein Viertel des westdeutschen Arbeitskräftepotenzials von außerordentlich arbeitswilligen Flüchtlingen gestellt wurden. Und diese beiden Dinge zusammengenommen, finde ich, die sind schon Grund sozusagen, voller Anerkennung und auch im Bewusstsein der Leistung von der Charta der Heimatvertriebenen und vom Lastenausgleich zu sprechen.
Pokatzky: Ich bedanke mich beim Historiker Hans-Ulrich Wehler. Wir haben gesprochen über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen, die heute vor 60 Jahren verkündet wurde. Vielen Dank, Herr Wehler!
Wehler: Danke Ihnen auch!