"Es ist extrem wichtig, schnell umzuschalten und zu akzeptieren"
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In der Freiheit beschränkt zu sein, ist eine große psychische Belastung. Das sagt Marc Wallert, der vor 20 Jahren eine Entführung überlebte. In seinem Buch „Stark durch Krisen“ reflektiert er diese Erfahrung – und präsentiert seine Schlüsse daraus.
Christian Rabhansl: Es ist der Horror, dabei hätte es eigentlich so schön sein sollen. Noch mal Urlaub mit den Eltern machen, rauskommen aus dem Jobstress, da liegen Sie also nach dem letzten Tauchgang mit Cocktails im Sonnenuntergang – und dann plötzlich Schüsse.
Es stehen bewaffnete Männer hinter ihnen, mit Raketenwerfer über der Schulter, Sie müssen in ein kleines Boot klettern und während Ihnen ganz allmählich dämmert, dass Sie gerade entführt werden, da fahren Sie auf das offene Meer, mitten in die Nacht.
Es ist 20 Jahre her, dass Mark Wallert das erlebt hat, gemeinsam mit seinen Eltern Renate und Werner Wallert und mit anderen Touristen. Er hat die Entführung überlebt, seine Eltern auch, und heute arbeitet Marc Wallert als Trainer, als Krisentrainer, als Resilienz-Trainer – und er hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben: "Stark durch Krisen" heißt es, und darüber habe ich mit ihm gesprochen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, die wichtigsten ersten Schritte sind eigentlich Akzeptanz und Hoffnung. Das klingt ziemlich gut, aber ehrlich gesagt: Sie sitzen also in diesem winzigen überfüllten Boot zwischen schwer bewaffneten Rebellen – mir wäre da jetzt Akzeptanz und Optimismus nicht gerade in den Kopf gekommen. Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Marc Wallert: Mir ist dasselbe durch den Kopf gegangen wie allen anderen auf dem Boot – und ich glaube, auch vielen Menschen heute in der aktuellen Situation –, dass man sich erst mal natürlich fragt: Warum gerade jetzt? Warum gerade ich? Man hadert ein Stück weit mit seinem Schicksal und malt sich auch aus, was wäre gewesen, wenn.
Bei uns war das die Situation auf dem Boot: Wir hätten eigentlich den Nachttauchgang noch gemacht an diesem Ostersonntag, wären also eigentlich unter Wasser gewesen, als die Entführer gekommen sind. So war es aber nicht.
Und es ist extrem wichtig, möglichst schnell umzuschalten und zu akzeptieren, dass das, was geschehen ist, schon geschehen ist, damit man reinkommt ins Handeln, um das Beste aus der Situation zu machen, wie sie ist – und nicht seine Energie mit den Gedanken an die geschehene Vergangenheit zu verwenden.
Rabhansl: Das klingt so gut. Aber haben Sie das geschafft auf dem Boot in dieser Situation?
Wallert: Ich habe es in der Situation tatsächlich relativ schnell geschafft, und der Gedanke, der mir recht schnell in den Kopf gekommen ist, ist die Frage: Was kann ich möglicherweise aus dem, was da gerade passiert, was kann ich daraus lernen für mein Leben?
Ich habe auch zu dieser Zeit in meinem Job nach einer neuen Orientierung gesucht, in meinem Leben hatte ich so eine Art Sinnkrise zu dieser Zeit. Ich war Unternehmensberater in Luxemburg, auch sehr erfolgreich, aber doch auf der Suche nach einem tieferen Sinn in meiner Arbeit und meinem Leben.
Und dort habe ich das Leben letztlich um einen Wink des Schicksals gebeten. Für mich war dann auf dem Boot einfach die Frage: Könnte das, was gerade passiert, vielleicht so ein Wink des Schicksals sein, aus dem ich für mein Leben lernen kann? Da hatte ich immer noch Angst, das ist völlig klar in der Situation, ich hatte aber auch ein Gefühl von Neugier und war ein Stück weit auch gespannt auf das, was passieren wird und was ich daraus vielleicht lernen kann.
Bilder von einer Zukunft machen
Rabhansl: Das klingt fast unglaublich. - Sie haben ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht geahnt, was passieren würde, dass Sie also von den Entführern übers Meer bis auf eine philippinische Insel verschleppt werden, dass Monate der Ungewissheit im Dschungel vor Ihnen liegen, 140 Tage Entführung, bewacht von Rebellen und Kindersoldaten. Die hatten Gewehre, die hatten Macheten. Sie stellen im Buch so ein Resilienzmodell vor, so verschiedene Faktoren, die da helfen können. Was hat Ihnen Halt gegeben?
Wallert: Mir hat unter anderem Halt gegeben, in dieser Zeit, immer wieder daran zu glauben, mir Bilder zu machen von einer Zukunft, dass es gut ausgehen wird. Und ich habe mir das sehr plastisch ausgemalt. Ich habe mir während der Entführung immer ausgemalt, wie es sein würde, wenn ich zum Beispiel nach meiner Freilassung meinen Bruder wieder sehe, der noch in Deutschland war, wie ich ihn in die Arme schließe, wie wir zusammen auf die Freiheit wieder anstoßen werden.
Und diese positiven Bilder sind etwas ganz Wichtiges, das ist so, das hilft Menschen in schwierigen Lagen. Auch heute zum Beispiel, viele Menschen, die sich über die Zukunft Gedanken machen in Corona-Zeiten, also schon vorwegzunehmen, dass man einmal auf die Krise zurückblicken kann. Und Optimismus ist einer der ganz hilfreichen starken und sehr gut nachgewiesenen Schutzfaktoren der Resilienz. Und das Schöne ist, man kann das ein Stück weit tatsächlich lernen.
Rabhansl: Man kann Optimismus lernen, haben Sie eine Übung für uns?
Wallert: Ja, eine sehr schöne Übung ist zum Beispiel, an Tagen – egal, wie schwierig sie sind – sich immer wieder vor Augen zu führen, zum Beispiel abends vor dem Zubettgehen, was waren denn die drei Dinge am Tag, für die ich trotz der Lage dankbar sein kann.
Wir haben das tatsächlich auch gemacht, als wir als Geiseln, - wir waren 21 Geiseln -, im Dschungel saßen, da haben wir eine Gebetsrunde gehabt. Wir haben auch gebetet natürlich für ein schnelles Ende. Wir haben aber auch immer wieder gedankt, reihum, - was ist das, was heute gut oder zumindest nicht ganz so schlecht war.
Und da kamen Dinge zusammen. Wir waren dankbar, dass wir noch leben, wir waren dankbar, dass über unsere Freilassung verhandelt wird. Und wir haben auch dafür gedankt, wenn wir an dem Tag wirklich ausreichend zu essen und zu trinken hatten. Das ist sehr wirkungsvoll, weil man den Fokus auf das Positive richtet und damit rauskommt aus der Negativschleife, sich also immer wieder um die eigentliche Krise zu drehen, und den Fokus aufmacht für das, was eben auch noch gerade ganz gut ist.
Alltag in den neuen Gegebenheiten gestalten
Rabhansl: Sie haben jetzt selber schon mehrfach die Brücke zur aktuellen Corona-Krise geschlagen. Ich war da ein bisschen vorsichtig, aber wir haben vor unserem Interview telefoniert, und da habe ich gesagt: Na ja, kann man das wirklich vergleichen, jetzt zu Hause auf dem Sofa sitzen müssen und entführt sein? Sie haben gesagt, das kann man vergleichen. Haben Sie Tipps – ähnlich, wie Sie es damals geschafft haben als Gruppe von Geiseln, keinen Lagerkoller zu kriegen –, heute keinen Lagerkoller auf dem Sofa zu kriegen?
Wallert: Ja. Es ist tatsächlich in vielen Dingen unterschiedlich, was wir damals erlebt haben und was man heute erlebt, aber in vielen Dingen auch sehr gleich, nämlich diese unsichere Lage. Menschen wissen nicht, wie lange es dauert, und sind auf unbestimmt lange Zeit erst mal bewegungseingeschränkt, zu Hause, ob im Homeoffice oder eben auch in der Quarantäne.
Und da droht tatsächlich das, was uns auch gedroht hat, nämlich der Lagerkoller, dass einem schlichtweg irgendwann die Decke auf den Kopf fällt. In der Freiheit beschränkt zu sein, ist eine große psychische Belastung. Was dort unbedingt wichtig ist, ist, sich von Anfang an erst mal auf eine lange Zeit einzustellen, weil es schwierig ist, wenn man davon ausgeht, dass es morgen vorbei ist – den Fehler haben einige von uns damals auch gemacht –, und dann ist es so, dass die Zeit, die Frist, die man sich erhofft hat, vielleicht nach einer Woche verstrichen ist und man immer noch da sitzt, dann fällt man in ein tiefes Loch. Das vorwegzunehmen, ist einmal ganz wichtig, und sich auch eine längere Zeit einzustellen.
Das heißt zum Beispiel, dass man eben auch von Anfang an sich einen Alltag gestaltet in diesen neuen Gegebenheiten, soweit das eben möglich ist. Dazu gehört, den Tag zu strukturieren, sich also wirklich zu überlegen, was sind denn unter diesen Umständen, in der Lebensgemeinschaft, in der wir sind, die besten Arten, am Tag Arbeitszeiten einzuplanen, Freizeit einzuplanen, das nicht zu sehr zu vermischen, und – ganz wichtig – sich auch immer wieder Auszeiten zuzugestehen, und zwar jedem Einzelnen. Darüber zu sprechen, dass es wichtig ist, sich mal rauszuziehen.
Das, was normalerweise jeden Tag automatisch passiert, weil jeder ein Stück weit seiner Wege geht, das muss man einplanen. Und wenn es so ist, dass man sich mal länger einfach ins Bad begibt und die Tür schließt. Für uns war das damals, eine große Belastung, den ganzen Tag einfach zusammen zu sein für viereinhalb Monate, ohne wirklich mal einen Moment für sich zu haben.
Rollen definieren sich häufig neu
Rabhansl: Das ist ja noch ein zweiter Punkt: Sie waren mit wildfremden Menschen auf Leben und Tod auf engsten Raum zusammengesperrt. Heute haben wir paradoxerweise eine andere Situation, dass wir nämlich eigentlich viel zu wenig Kontakt zueinander haben. Dahinter steht aber so ein bisschen die Frage: Wie gehen wir miteinander um, wie viel Rücksicht nehmen wir aufeinander? Wir sehen heute Leute, die sich im Supermarkt wegen Klopapier streiten. Sie hatten damals oft nicht genügend Wasser, nicht genügend Reis, es ist Ihnen aber geglückt, solidarisch damit umzugehen. Wie schafft man das als Gruppe, unter so einem Druck so zusammenzuhalten?
Wallert: Na ja, erst mal ist es so, dass automatisch, wenn man unter schwierigen Bedingungen lebt, da kommt es immer zu Konflikten. Das gehört dazu und es ist wichtig, das auch zu wissen, das auch vorwegzunehmen und zu sagen, das wird eine schwierige Zeit. Und Konflikte sind in diesem Zusammenhang auch etwas ganz Wichtiges, das ist nämlich eine Art von team building.
Was meine ich damit? Wir haben in solchen Situationen immer wieder Menschen, die besser oder schlechter mit der Situation umgehen können. Und Rollen definieren sich dann in so einer Situation häufig auch neu. Bei mir damals war es so, ich hatte ja Urlaub gemacht mit meinen Eltern, meine Mutter kannte ich immer als starke Frau. In dieser Situation, sie war Ende 50, ist sie einfach schwierig – das ist auch nicht verwunderlich, mit Hunger, mit dem Leben im Dschungel, mit einem Guerillakrieg – klargekommen. Und da ist sie also psychisch und dann auch körperlich in eine Schwäche reingekommen, wo ich automatisch dann in eine Helferrolle reingekommen bin. Das muss sich erst mal finden und das ist auch kein einfacher Prozess, das ist aber ein ganz, ganz wichtiger, dass man dort auch vielleicht anders funktioniert, als es sonst immer einfach der Fall ist.
Nicht Opfer, sondern Überlebender
Rabhansl: Ein ganz wichtiger Satz, Herr Wallert, den habe ich nicht in Ihrem Buch gelesen, den haben Sie mir vor dem Interview gesagt: Sie empfinden sich nicht als Entführungsopfer, sondern als Entführungsüberlebender. Warum ist dieser Unterschied so wichtig?
Wallert: Mir ist der Unterschied sehr wichtig, weil immer, wenn man von Opfer spricht, dann zementiert man eigentlich einen Zustand des Problems. Und das, was ich ja hatte, war großes Glück, auch aus dieser Situation wieder herauszukommen. Also ich habe überlebt und das zum Glück auch unbeschadet. Und ich habe auch aus dieser Situation sehr, sehr viel gelernt für mein Leben, wie man mit Stress umgeht, wie man mit Umbrüchen, mit Lagerkoller und mit ganz ähnlichen Phänomenen umgeht. Das hilft mir.
Und deswegen gehe ich heute sogar so weit und sage: Ich wünsche so eine Erfahrung mit Sicherheit niemandem und ich wünsche auch niemandem, heute in dieser Corona-Krise zu sein. Ich habe nur festgestellt, man kann dadurch auch sehr, sehr viel lernen. Und ich bin mir auch sicher, dass wir nach der Corona-Krise auch zurückblicken werden auf eine Zeit, in der auch etwas entstanden ist, etwas Positives, was ohne diese Erfahrung nicht entstanden wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.