Warum Blogger die Literaturkritik bereichern
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Simon Sahner schreibt online über Literatur. Er ärgert sich über Aussagen seiner österreichischen Kollegin Sigrid Löffler, die Literaturkritik im Internet mit Kritik von Amateuren gleichsetze. Ein derartiges Pauschalurteil sei nicht zulässig.
Hat die traditionelle Literaturkritik ausgedient? Sind Rezensionen nur noch "Empfehlungsschreiben", um den Verkauf von Büchern zu fördern? Wie hat das Internet die Literaturkritik verändert? Mit diesen Fragen zieht derzeit ein scharfzüngiges Buch der US-amerikanischen Kritikerin Philippa Chong Kreise in der literarischen Welt Kreise.
Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hat dazu vergangene Woche im Deutschlandfunk Kultur unter anderem gesagt: "Der professionelle Kritiker hat nämlich heute unerwünschte Konkurrenz bekommen, nämlich dieses elektronische Stammtischgeschnatter. Jeder Konsument, jeder Buchkäufer darf sich heute auch automatisch als Kritiker betrachten. Im Internet dominieren dann zumeist diese Amateure, die meisten sind Amateure, Blogger, Hobbykritiker. Und die twittern vor sich hin mit subjektiven Geschmacksurteilen. Willkürliche Begeisterungsanfälle, die meistens nicht begründet sind. Da wird unter dem Deckmantel einer angeblichen Demokratisierung der Kritik die Literaturkritik in Wahrheit entprofessionalisiert."
Überholte Pauschalisierung und Gegenüberstellung
Simon Sahner ist einer der Menschen, die im Internet Literaturkritik betreiben: Er veröffentlicht seine Texte auf 54 Books, das als Blog gestartet ist und sich inzwischen als Magazin sieht. Der Literaturwissenschaftler an der Universität Freiburg ärgert sich über die Kritik von Löffler, weil sie so pauschal sei – mit dem Tenor, "dass Literaturkritik im Internet oder das Sprechen über Literatur im Internet grundsätzlich minderwertiger sei als das Sprechen und Kritisieren von Literatur im 'etablierten Feuilleton'."
Sahner sagt, er halte diese Frontstellung und Verallgemeinerung für überholt. "Natürlich gibt es im Internet ein sehr intellektuelles und reflektiertes Sprechen über Literatur genauso wie es Amazon-Rezensionen gibt." Letztgenannte würden dem Leser nicht mehr sagen, als dass das Buch ihnen gefallen habe. "Aber es geht mir um diese Pauschalisierung, die einfach nicht zulässig ist – weil es den Anschein hat, als würde der Ort der Publikation, nämlich das Internet oder die sozialen Medien, die Äußerung von vornherein herabwürdigen. Und das halte ich für nicht zulässig."
Es gebe ein großes Spektrum des Sprechens über Literatur: Die Form, die auch Löffler wohl meine – das Kunsturteil aus berufenem Munde – sei eine. "Ich halte diese Form des Sprechens über Literatur für sehr relevant, aber sie ist eben nicht mehr die einzige!" Es scheine, als würde erneut eine Art von Kampf ausgefochten, der eigentlich schon seit Jahren abgeschlossen sein sollte, der aber immer wieder an die Oberfläche komme, so Simon Sahner.
Nicht alles ist Empfehlungskultur
Auf Blogs wie 54 Books oder auch auf dem "Nacht und Tag"-Blog von Nicole Seifert finde man auch im Netz diese substanzielle Form, sagt Simon Sahner: Die "alte, traditionelle Form der Literaturkritik" im Gegensatz zu der Empfehlungskultur auf Amazon, wo Leser kundtun, was sie gelesen haben, dass sie die Charaktere toll fanden und anderen potenziellen Lesern empfehlen, das Buch zu lesen.
Das Internet habe die Literaturkritik in jedem Fall verändert, meint Simon Sahner: Viel mehr Menschen könnten sich über Literatur äußern und damit würden sie womöglich auch die klassische Literaturkritik neu herausfordern.
"Meine persönliche Auseinandersetzung mit Literatur und meine literaturkritische Auseinandersetzung mit Literatur wurde mir überhaupt erst durch das Internet ermöglicht", sagt er. "Ich bin mir sehr sicher, ich wäre jetzt nicht hier bei Ihnen im Programm, wenn es das Internet nicht gäbe, wenn ich mich dort nicht per App zur Literatur und literarischen Themen äußern könnte."
Kritik ist moralischer geworden
Das sei eine Entwicklung, die nicht nur, aber auch positive Seiten habe, so Sahner. Er stimme der These zu, dass Literaturkritik moralischer und weniger ästhetisch geworden sei.
"Das heißt vielleicht auch ehrlicher", meint er, "dass man sich nicht mehr hinter scheinbar objektiven Kriterien versteckt, sondern einfach deutlich 'ich' sagt." Das etwa empfinde er als positive Entwicklung.
Im nordamerikanischen Raum sei eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit Literatur schon seit Jahrzehnten etabliert, erklärt Simon Sahner. "Wenn das anspruchsvoll gehandhabt wird, dann halte ich das für eine sehr positive Entwicklung im Sprechen über Literatur."
(mfu)