Enthüllung im Südosten der Türkei

Von Luise Sammann |
Zahlreiche Studien belegen, dass Gewalt gegen Frauen in verschiedenen türkischen Regionen bis heute alltäglich ist. Gesetze zur Gleichstellung von Mann und Frau in der Türkei sowie härtere Strafen für die Männer konnten an solchen Traditionen bisher wenig ändern. Doch es gibt auch kleine Erfolgsgeschichten bei den starken Frauen Anatoliens.
Es ist Mittwoch – der Tag an dem die Koranlehrerin aus der Stadt kommt und den Frauen von Kizil Hizar, einem Dörfchen knapp 20 Kilometer von Gaziantep, Koranunterricht gibt. In einem kahlen Raum hocken etwa 15 Frauen, vom Mädchen bis zur Großmutter. Auf zu kleinen Holzstühlchen klemmen sie hinter ihren Tischen, tragen bunte Kopftücher und geblümte Pluderhosen - so wie man sie in den Dörfern Anatoliens hat. Mehrere haben schlafende Babys auf dem Schoß liegen, hier und da sitzt ein barfüßiges Kleinkind mit verstrubbelten Haaren unter einem der Tische.

Immer zwei der Schülerinnen teilen sich ein Lesebuch. Eine nach der anderen müssen sie eine Koransure daraus rezitieren. Es geht langsam voran. Die 30-jährige Nuray sitzt in der ersten Reihe, konzentriert fährt sie mit dem Finger die Zeilen entlang, bewegt lautlos die Lippen. Zuhause üben kann sie nicht, sagt sie, wegen der sechs Kinder. Aber zum Unterricht kommt sie so oft es geht.

Nuray: "Ich hatte so viele Probleme, weil ich allein bin seit mein Mann im Gefängnis sitzt. Aber ich habe die Lösung im Koran gefunden. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr habe ich verstanden. Ich habe Antworten gefunden. Manchmal konnte ich meine Situation und meinen Mann im Gefängnis darüber sogar vergessen."

Nurays Tischnachbarin Suzan ist die jüngste im Kurs. Suzan ist 15, als Einzige hier noch nicht verheiratet – aber bereits versprochen, fügt sie hinzu. Die Schule hat sie im letzten Jahr aufgeben müssen. Auf weiterführende Schulen gehen höchstens die Jungen - die Mädchen im Dorf brauchen keine höhere Schulbildung, erklärt sie.

Suzan: "Ich habe bis zur achten Klasse gemacht. Jetzt komme ich stattdessen hier zum Korankurs. Das ist auch wichtig für unseren Alltag. Wir verstehen dadurch die Gebete besser, wir verstehen ihre Bedeutung. Seit ich hier den Koran lese, verstehe ich Gott besser, ich lerne viel für meinen Alltag."

Suzan guckt sich im Klassenraum um, die anderen Frauen nicken bestätigend. Eine Schülerin ganz hinten gibt ihrem Baby die Brust, eine Alte strickt an einem Pullover für den nächsten Winter. Lehrerin Emel Kilic kündigt zehn Minuten Teepause an, steht auf und öffnet die Fenster gegen den säuerlichen Geruch im Raum. Auch ihre Haare bedeckt ein Kopftuch - doch im Gegensatz zu den groben, geblümten Stoffen der Dorfbewohnerinnen, glänzt ihres seidig.

Die feinen, gepflegten Hände, das makellose Lächeln - Kilic ist nicht von hier. Für den Kurs kommt sie mit dem Bus aus der nächsten Stadt, fährt abends wieder zurück. Die Kurse für die Frauen im Dorf, von denen viele nicht einmal die Grundschule beendet haben, geben ihrem Leben einen Sinn, sagt sie.

"Ich sage meinen Schülerinnen immer: Ein Mann ist eine Person aber eine Frau ist eine ganze Gesellschaft. Weil die Frauen so wichtig sind für die Gesellschaft, das hat auch unser Prophet gesagt. Wir sagen ihnen: Ihr seid diejenigen, die die Jungen und Mädchen großziehen. Wenn ihr sie gut erzieht, dann formt ihr so die Wurzeln unserer Gesellschaft - denn die Familie ist ja die Wurzel unserer Gesellschaft."

Kilic streicht mit der Hand über das Koranlesebuch vor sich. Das ist es, was sie ihren Schülerinnen vermitteln möchte: Religiöse Bildung für ihre Aufgaben als Mutter. Darum, ob es möglicherweise noch eine Alternative für die Frauen in Kizil Hisar geben kann als Kinder großzuziehen, darum, warum die 15-jährige Suzan nicht weiter zur Schule gehen durfte – darum geht es in ihren Kursen nicht ...

Doch das ist nicht überall in der Türkei so. Im Westen des Landes, in Istanbul und Ankara – weit weg vom Dorf Kizil Hisar und seinen Pluderhosen tragenden Koranschülerinnen – ticken die Uhren anders. Hier sind sich viele westlich orientierte, emanzipierte Türken einig, dass es der Islam ist, der die anatolischen Frauen unterdrückt – und unterdrückt hält.

Von Kizil Hisar ganz im Süden der Türkei, geht es weiter in Richtung Osten. Weiter hinein in die unterentwickelte Problemregion des Landes, die für den Kurdenkonflikt und Arbeitslosigkeit, aber auch für Ehrenmorde und Gewalt an Frauen bekannt ist ... Mit jedem Meter wird die Landschaft rechts und links der Straße öder und steiniger. Immer wieder halten Eselskarren den Verkehr auf, die unter der glühenden Sonne dahin zuckeln ...

Die Pilgerstadt Sanliurfa gilt als einer der frommsten Orte der Türkei. Von den wenigen Frauen, die überhaupt in den Straßen unterwegs sind, verlässt nicht eine ohne Kopftuch das Haus. In einem Teegarten, in dem ausschließlich Männer auf winzigen Hockern sitzen und aus Tulpengläschen türkischen Tee schlürfen, sitzt unter einem Schatten spendenden Baum der 38-jährige Cihan. Vor sich ein angefangenes Backgammonspiel. Cihan kennt die Situation der Frauen in der Region wie kaum ein anderer.

Monatelang ist er durch die Dörfer Anatoliens gezogen, hat mit einem Team von Lehrern und Psychologen Sexualkundeunterricht auf Marktplätzen, in Schulen und Gemeindehäusern gegeben. Gerade in kleineren Dörfern herrschen unter Frauen und Mädchen Scham und Unwissenheit, erklärt Cihan.

Cihan: "Sogar erwachsene Frauen kamen oft zu unserem Projekt. Da kamen dann die Mädchen aus der 6., 7. Klasse und ihre Mütter zusammen. Besonders hier in den traditionellen, kurdischen Gegenden haben sie unglaubliche Fragen gestellt. Zum Beispiel immer wieder, ob die Menstruation eine Schande ist und etwas, das man verstecken muss."

Cihan guckt einen Moment auf das angefangene Backgammonspiel vor sich, lächelt dann. Obwohl es an den Tischen um ihn herum, an denen ausschließlich Männer sitzen, so gar nicht danach aussehen will – und obwohl in vielen Dörfern, durch die ihn sein Projekt geführt hat, noch nichts davon zu spüren ist: Cihan ist sich sicher: Etwas verändert sich im Südosten der Türkei. Die anatolischen Frauen werden mit jedem Tag stärker, sagt er.

"Einer der größten Unterschiede zu früher, die ich gesehen habe, waren junge Lehrerinnen, die hier in der Region geboren wurden. Sie haben irgendwo im Westen der Türkei studiert und kommen dann zurück in ihre eigenen Städte. So was gab es früher nicht! Mädchen werden jetzt nicht nur Lehrerinnen und verlassen diese Region. Jetzt kommen sie auch noch zurück und kämpfen dafür, als Frauen Lehrer in ihren eigenen Dörfern zu sein! Und ihr neuer Status ist wichtig. Früher war es hier unmöglich als Frau überhaupt einen Job zu haben."

Auch in Viransehir, einem unauffälligen Städtchen mit knapp 100.000 Einwohnern, bestimmen Männer das Straßenbild. Männer mit wehenden Palästinenserschals auf Motorrädern, Tee trinkende Männer in Straßencafés, Männer als Kellner und Verkäufer. Am Ende einer kleinen Seitenstraße leuchtet ein lila Schild: Ekin Kadin Kooperatifi – Ekin Frauen-Kooperative steht in verschnörkelter Schrift darauf. Emine, eine kleine rundliche Frau in Hausschuhen, zeigt stolz das historische Haus und den blitzblanken Innenhof dahinter, in dessen Mitte ein Orangebaum wächst.

Emine: "Wir haben unsere Kooperative hier gegründet, um Frauen Arbeit zu geben. Und wir haben sie gegründet, um Frauen zu helfen, gegen Ehrenmorde fest auf eigenen Beinen zu stehen. Um Frauen und Mädchen zu stärken, brauchen sie eine eigene Arbeit. Wir haben uns also gefragt, was können wir hier in Viransehir tun? Denn die Frauen hier sind alle Hausfrauen, sie haben keine Ausbildung. Alles, was sie können, ist kochen. Also haben wir ein Restaurant eröffnet."

Emine setzt sich stolz an einen der gedeckten Tische im Innenhof, streicht mit den Händen das rote Tischtuch glatt. Sie lächelt kaum. Während sie spricht, verdeckt sie den Mund mit der Hand – die schlechten Zähne dahinter soll niemand sehen ... Emine ist selbst Hausfrau, doch nun sie will mehr.

Emine: "Als wir eröffnet haben, hatten wir zuerst große Probleme. In Viransehir spielen die Stämme eine große Rolle und die haben uns das Leben schwer gemacht. Von einigen wurden wir sogar bedroht. Sie hatten eine völlig falsche Vorstellung von unserem Projekt. Sie sagten: Ihr lockt die jungen Mädchen aus ihren Häusern und drängt sie in einer falsche Richtung."

Und auch die Frauen selbst, fügt Emine hinzu, hatten am Anfang Angst.

Emine: "Zuerst haben sie gesagt: wir müssen unsere Männer fragen und die werden das nie erlauben. Aber nach vielen langen Gesprächen haben sie gemerkt, dass sie nicht wie Sklaven leben müssen. Und auch ihre Männer stimmten zu. Wissen Sie, hier im Südosten sind viele Männer arbeitslos. Auf einmal sahen sie, dass auch die Frauen arbeiten und Geld nach Hause bringen können. Geld kann vieles verändern, es hat große Macht ... Und die Männer, die uns zuerst bedroht haben, kommen jetzt selbst zum Essen hierher. Das ist ein gutes Gefühl."

Emine weiß, dass ihr Erfolg im Verhältnis klein ist. Doch für die sechs Frauen, die täglich bei ihr arbeiten, hat sich die Welt verändert, sagt sie, und nun huscht doch ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht. Sie steht auf, durchquert den Innenhof und öffnet eine angelehnte Tür: die Küche.

Drei Frauen mit bunten Schürzen und Hauben auf dem Kopf stehen am Herd, lächeln Emine über die Schulter zu. Diese Frauen wiederum verändern ihr nächstes Umfeld und immer so weiter, sagt Emine. Der Anfang ist gemacht. Inzwischen kommen jede Woche Anfragen von weiteren Frauen aus Viransehir, die arbeiten möchten - und dürfen.

Emine: "Die Zeiten haben sich geändert. Unsere und andere Kooperativen sind entstanden, Frauenhäuser wurden eröffnet und Ausbildungszentren für Frauen. Erst war es vielleicht eine Frau. Dann wurden daraus zwei, drei und mehr. Sie tun sich zusammen und werden langsam mehr. Ich hoffe, dass es noch viel mehr werden. Wir wollen Gleichheit. Wir wollen nicht mächtiger werden als die Männer, wir möchten einfach nur Gleichheit."

Weit weg von Emines Kooperative und dem verschlafenen Viransehir erscheint Istanbul, die gefühlte Hauptstadt der Türkei, wie eine andere Welt. Hier, wo viele Frauen Miniröcke statt Kopftüchern tragen, wo an den landesweit besten Universitäten mehr Frauen als Männer lehren, genießt die Anwältin und Frauenrechtlerin Vildan Yirmebesoglu ihre kurze Mittagspause. 13 Jahre lang hat sie Studien zu Gewalt und Ehrenmorden im Südosten durchgeführt. Verbrechen, die trotz aller in den letzten Jahren erlassenen Gesetze nicht weniger werden.

Und dennoch Verbrechen, die nur scheinbar im Gegensatz zur sich verbessernden Situation der Frauen stehen. Wenn man will, meint Yirmebesoglu, denn kann man sie auch als Zeichen der Modernisierung sehen - als Gegenreaktion.

Yirmebesoglu: "Ehrenmorde existieren seit langer Zeit, das hat sich nicht verändert. Es gibt eine Besitzermentalität. Der Besitzer der Frau ist ein Mann. Ihr Vater, ihr Ehemann, oder – wenn der Mann stirbt – ihr Sohn oder die Verwandten des Mannes.

Und die alle strengen sich jetzt erst recht an, ihre Moral aufrecht zu erhalten. Denn sie fühlen sich bedroht durch die Veränderungen. Um die Macht der Männer zu erhalten, ziehen sie es vor Mädchen zu töten. Diese Mentalität hat sich noch nicht verändert. Es gibt nur eine Veränderung: Der Schutz durch die Gesetze ist besser geworden."

Yirmebesoglu setzt sich auf die Kante einer Holzbank am Ufer, schlägt die Beine übereinander. Während sie hinaus auf den in der Sonne glitzernden Bosporus blickt, leert sie mit kleinen, schnellen Schlucken eine Flasche zuckrige Zitronenlimonade. Ihr Mittagessen, zu mehr reicht die Zeit nicht.

Auf ihrem Schreibtisch warten Vortragsskripte, ein neues Buch über die Frauen in der Türkei, Öffentlichkeitsarbeit ... Eines der größten Probleme ist die Abgeschiedenheit der Region, sagt sie zwischen zwei Schlucken. Gerade die Frauen wüssten meist gar nicht, dass sie überhaupt Rechte haben.

Yirmebesoglus: "Es geht vor allem um die Verbesserung der Kommunikation. Darum, dass die Frauen mehr über ihre Möglichkeiten erfahren müssen. Denn der Staat hat in den letzten Jahren wichtige Entscheidungen getroffen, zum Beispiel zum Schutz der Frauen gegen familiäre Gewalt. Aber es ist nicht leicht, dass die Frauen von diesen Dingen hören.

Ich glaube, dass da die Medien eine wichtige Rolle spielen. Wenn die Frauen gute, erfolgreiche Beispiele im Fernsehen sehen, dann werden sie irgendwann denken ‚das kann ich auch schaffen’."

Yirmebesoglu schaut auf ihre Handyuhr, steht auf und greift nach ihrer Handtasche. Im Weitergehen beobachtet sie zwei Geschäftsfrauen in dunklen Hosenanzügen, die mit Laptops unter dem Arm vorbeigehen.

Von der anderen Seite nähert sich ein turtelndes Teenager-Pärchen, das Arm in Arm am Ufer entlangläuft. So etwas, sagt Yirmebesoglu, ist nach wie vor undenkbar in Anatolien, wo nach wie vor täglich minderjährige Mädchen verheiratet werden. Und dennoch:

"Die Idee, dass Frauen ein Teil der Entscheidungsebene sein sollten, beginnt sich in den Köpfen der Menschen zu verbreiten. Danach wird es eher möglich sein, große Schritte zu machen. Vielleicht wird es noch lange dauern, aber ich möchte daran glauben, dass es schneller geht. Ich hoffe schon bald zu sehen, wie die Dinge sich wirklich ändern. Ich glaube, dass wir jetzt an dem Punkt zu einem großen Schritt sind."