Entkoppeltes Wirtschaftssystem
Der Philosoph Joseph Vogl hat mit "Das Gespenst des Kapitals" eine glänzend geschriebene Kulturtheorie unseres Wirtschaftssystems verfasst: Was die Zukunft des Kapitalismus angeht, ist man nach dem Lesen ratlos wie zuvor – allerdings auf intellektuell beträchtlich höherem Niveau.
Was ist los mit dem Kapitalismus? Wo liegen die Gründe für die zahlreichen Krisen, die das globale Wirtschafts- und Finanzsystem in den vergangenen Jahren durchlitten hat? Was kann man tun, um solche Krisen künftig zu verhindern? Das fragen sich viele. Mit gewaltigem Aufwand versuchen Wirtschaftswissenschaftler, Vorhersagen zu treffen und Erklärungen abzugeben. Und irren sich doch unentwegt.
Das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems ist ein Rätsel, ein Spuk, und zwar für seine Gegner ebenso wie für seine Verfechter. Das ist die Beobachtung, von der Joseph Vogl in seinem neuen Buch "Das Gespenst des Kapitals" ausgeht. Vogl – Berliner Literaturwissenschaftler und Philosoph – hat eine kleine Kulturtheorie des Kapitalismus verfasst, die diesen weder kritisiert noch zu rechtfertigen versucht, sondern vielmehr an seinen eigenen Glaubensgrundsätzen misst.
Was bedeutet es nämlich, wenn der aktuelle Kapitalismus den Eindruck eines vernünftig nicht mehr zu erklärenden Kuddelmuddels erweckt? Zunächst, dass sein traditionelles Selbstbild auf den Kopf gestellt wird. Dieses gründete ja auf der Annahme, dass sich auf freien Märkten das individuell unvernünftige Handeln in kollektive Vernunft zu verwandeln vermag. Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, hat dafür im 18. Jahrhundert die Metapher der "unsichtbaren Hand des Marktes" erfunden: Wer auf dem Markt handelt, handelt aus Eigennutz; doch balancieren sich die unterschiedlichen Interessen derart wieder aus, dass es für die gesamte Gesellschaft zum Besten gereicht.
Wie die Theoretiker des Kapitalismus diese Glaubensformel bekräftigen und variieren, verfolgt Vogl vom 18. Jahrhundert über die Entwicklung des Schuld- und Kreditwesens bis zur Entstehung des heutigen Finanzkapitalismus in den 1970er-Jahren, als das Ende des sogenannten Bretton-Woods-Systems zur Freigabe der Wechselkurse führt und die Spekulation auf Devisenkurse wesentliche Bedeutung erhält. Glaubten die ersten Nationalökonomen, das "rationale" Verhalten der Marktteilnehmer mit physikalischen Modellen beschreiben zu können, werden nun wahrscheinlichkeitstheoretische Formeln bemüht.
Doch die Digitalisierung und Globalisierung des Börsenhandels, die immer größer werdende Menge an Informationen bei stetig steigendem Tempo der Transaktionen – all das führt dazu, dass sich das Geschehen auf den Finanzmärkten nicht nur von der Realität des produzierenden Gewerbes entkoppelt, sondern auch von jeglicher statistischer Berechenbarkeit.
Ein Gespensterreich ist entstanden, in dem Leute mit Waren handeln, die es noch gar nicht gibt und vielleicht nie geben wird und die sie auch gar nicht besitzen wollen. Entscheidend ist vielmehr, was man erwartet: Steigen oder fallen die Preise? Erwarten meine Konkurrenten, dass sie fallen oder steigen? Und was erwarten sie, dass ich erwarte? Langfristige Stabilität ist ohnehin undenkbar geworden, weil es gerade stabile Verhältnisse sind, die zu immer riskanteren Spekulationen reizen, aus denen wiederum die nächste Krise entsteht.
Was die Zukunft des Kapitalismus angeht, ist man nach der Lektüre ebenso ratlos wie zuvor – allerdings auf intellektuell beträchtlich höherem Niveau. Das schmale Buch ist glänzend geschrieben: Kein anderer Theoretiker vermag die Irrationalität, das Chaos des Marktes so inspiriert auszumalen wie Joseph Vogl.
Aber wenn wir vom Kapitalismus weder jetzt noch in Zukunft irgendeine Art der rationalen Selbstregulierung erwarten dürfen – das ist die gar nicht so banale Pointe, mit der Vogls Buch schließt –, dann taugt er auch nicht als Modell für eine vernünftige oder gerechte Organisation der Gesellschaft. Mit der Chaos-Moral des Kapitalismus lässt sich das Miteinander der Menschen nicht mehr gestalten.
Besprochen von Jens Balzer
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals
Diaphanes Verlag, Berlin 2010,
224 Seiten, 14,90 Euro
Das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems ist ein Rätsel, ein Spuk, und zwar für seine Gegner ebenso wie für seine Verfechter. Das ist die Beobachtung, von der Joseph Vogl in seinem neuen Buch "Das Gespenst des Kapitals" ausgeht. Vogl – Berliner Literaturwissenschaftler und Philosoph – hat eine kleine Kulturtheorie des Kapitalismus verfasst, die diesen weder kritisiert noch zu rechtfertigen versucht, sondern vielmehr an seinen eigenen Glaubensgrundsätzen misst.
Was bedeutet es nämlich, wenn der aktuelle Kapitalismus den Eindruck eines vernünftig nicht mehr zu erklärenden Kuddelmuddels erweckt? Zunächst, dass sein traditionelles Selbstbild auf den Kopf gestellt wird. Dieses gründete ja auf der Annahme, dass sich auf freien Märkten das individuell unvernünftige Handeln in kollektive Vernunft zu verwandeln vermag. Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, hat dafür im 18. Jahrhundert die Metapher der "unsichtbaren Hand des Marktes" erfunden: Wer auf dem Markt handelt, handelt aus Eigennutz; doch balancieren sich die unterschiedlichen Interessen derart wieder aus, dass es für die gesamte Gesellschaft zum Besten gereicht.
Wie die Theoretiker des Kapitalismus diese Glaubensformel bekräftigen und variieren, verfolgt Vogl vom 18. Jahrhundert über die Entwicklung des Schuld- und Kreditwesens bis zur Entstehung des heutigen Finanzkapitalismus in den 1970er-Jahren, als das Ende des sogenannten Bretton-Woods-Systems zur Freigabe der Wechselkurse führt und die Spekulation auf Devisenkurse wesentliche Bedeutung erhält. Glaubten die ersten Nationalökonomen, das "rationale" Verhalten der Marktteilnehmer mit physikalischen Modellen beschreiben zu können, werden nun wahrscheinlichkeitstheoretische Formeln bemüht.
Doch die Digitalisierung und Globalisierung des Börsenhandels, die immer größer werdende Menge an Informationen bei stetig steigendem Tempo der Transaktionen – all das führt dazu, dass sich das Geschehen auf den Finanzmärkten nicht nur von der Realität des produzierenden Gewerbes entkoppelt, sondern auch von jeglicher statistischer Berechenbarkeit.
Ein Gespensterreich ist entstanden, in dem Leute mit Waren handeln, die es noch gar nicht gibt und vielleicht nie geben wird und die sie auch gar nicht besitzen wollen. Entscheidend ist vielmehr, was man erwartet: Steigen oder fallen die Preise? Erwarten meine Konkurrenten, dass sie fallen oder steigen? Und was erwarten sie, dass ich erwarte? Langfristige Stabilität ist ohnehin undenkbar geworden, weil es gerade stabile Verhältnisse sind, die zu immer riskanteren Spekulationen reizen, aus denen wiederum die nächste Krise entsteht.
Was die Zukunft des Kapitalismus angeht, ist man nach der Lektüre ebenso ratlos wie zuvor – allerdings auf intellektuell beträchtlich höherem Niveau. Das schmale Buch ist glänzend geschrieben: Kein anderer Theoretiker vermag die Irrationalität, das Chaos des Marktes so inspiriert auszumalen wie Joseph Vogl.
Aber wenn wir vom Kapitalismus weder jetzt noch in Zukunft irgendeine Art der rationalen Selbstregulierung erwarten dürfen – das ist die gar nicht so banale Pointe, mit der Vogls Buch schließt –, dann taugt er auch nicht als Modell für eine vernünftige oder gerechte Organisation der Gesellschaft. Mit der Chaos-Moral des Kapitalismus lässt sich das Miteinander der Menschen nicht mehr gestalten.
Besprochen von Jens Balzer
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals
Diaphanes Verlag, Berlin 2010,
224 Seiten, 14,90 Euro