Warum die neue Langsamkeit nicht entspannt
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Was wäre ein Leben ohne Stress und Eile! Doch jetzt, wo die Coronakrise das Leben radikal entschleunigt, fühlt es sich gar nicht so toll an – was allerdings auch nicht verwunderlich ist, sagt der Soziologe Hartmut Rosa.
Dieter Kassel: Wenn ein relativ unwahrscheinlicher Traum in Erfüllung geht, fühlt er sich ja in der Realität oft nicht so schön an, wie man sich das vorgestellt hat. Warum das auch jetzt so ist, erklärt uns Hartmut Rosa, Professor für allgemeine und theoretische Soziologie an der Universität Jena. Fühlen Sie sich gerade wie in einem Experiment mit unendlich vielen, wenn auch nicht freiwilligen Teilnehmern?
Hartmut Rosa: Ja, das würde ich auf jeden Fall sagen. Die Welt ist fast global in ein riesiges Experiment mit offenem Ausgang eingetreten.
Kassel: Nun haben ja sicherlich viele Menschen generell davon geträumt, endlich mal mehr Zeit zu haben. Aber ist es nicht ein entscheidender Unterschied, ob man sich selber die Zeit nimmt oder ob einem das von oben oktroyiert wird?
Rosa: Das ist absolut so. Das habe ich auch in meinen Analysen immer wieder festgestellt. Zwangsentschleunigung ist ganz etwas anderes als ein entschleunigtes Leben, von dem viele Menschen träumen. Wenn Sie in einen riesigen Verkehrsstau geraten, dann haben Sie auch eine Form von Zwangsentschleunigung, Sie können gerade nichts mehr machen, und das fühlt sich nur im seltensten Fall gut an.
Und solange wir in einem System leben, in einer gesellschaftlichen Struktur leben, die sich nur durch Steigerung erhalten kann, ist diese Art von Anhalten natürlich höchst problematisch, das sehen wir in ökonomischen, aber auch in anderen Zusammenhängen.
Alle simulieren noch den Normalmodus
Kassel: Aber verändert sich diese gesellschaftliche Struktur gerade wirklich, wie manche Menschen behaupten? Ich habe das Gefühl, dass ganz viele Leute jetzt versuchen – obwohl sie zu Hause bleiben – ihr Leben so fortzusetzen, wie es bisher war.
Rosa: Wenn eine Gesellschaft oder auch wenn Routinen in die Krise geraten, dann versuchen die Akteure meistens schnell, wieder in den Normalmodus zurückzukommen. Aber das gelingt uns ja jetzt nicht so ohne Weiteres im Alltagsleben, wir simulieren auch viel oder ersetzen viel, was wir im Alltag tun, indem wir es in die digitalen Welten verlagern, stellen aber fest, alles funktioniert da eben doch nicht. In vielerlei Hinsicht sind wir in einem Ausnahmemodus – und das gilt natürlich auch für die Gesellschaft und wie wir das wirtschaftlich verkraften, ist durchaus noch nicht klar.
Belastung durch zwei große Ängste
Kassel: Dazu, dass man sich das nicht ausgesucht hat, kommt ja noch, dass viele Leute mindestens zwei verschiedene Ängste empfinden, Angst vor dem Virus selbst und Angst vor seinen wirtschaftlichen Folgen. Das hat natürlich auch zur Folge, dass das keine entspannte Form von Zeithaben ist.
Rosa: Das ist absolut so. Diese Doppelangst, unter der Menschen derzeit stehen, belastet natürlich die Wahrnehmung komplett. Entschleunigung war eigentlich gar nie mein so ganz großer Wunschtraum, weil ich dachte, einfach nur Dinge langsamer machen, ist in vielerlei Hinsicht gar nicht attraktiv und es geht auch nicht so ohne Weiteres. Und ich glaube, beides sehen wir jetzt gerade. Meine These war immer zu sagen, wenn du ein System, das auf Beschleunigung beruht, anhältst, dann fällt es nur um wie ein Fahrrad – das ist die ökonomische Seite.
Und auf der psychologischen Seite ist eigentlich Langsamkeit gar nicht das, was wir uns gewünscht haben, sondern eine andere Weise, in der Welt zu sein, wieder offen zu sein für das, was uns im Alltag begegnet, und eine andere Form der Beziehung zu anderen Menschen, zum eigenen Körper, zur Natur einzunehmen. Und dass uns das jetzt schwerfällt, liegt an der Doppelangst, dass da irgendwo, wenn wir aus dem Haus treten, das Virus in der Luft lauern könnte oder dass unsere ökonomische Existenz massiv gefährdet ist.
Nachdenken über sich selbst – nicht immer erfreulich
Kassel: Aber bei dem, was Sie gerade noch mal gesagt haben, Beziehung zu Menschen und zur Natur, da sind wir jetzt ja fast wieder bei diesem Experiment, aber dem können sich ja Menschen nicht entziehen. Wenn sie zum Beispiel mit einem Partner leben, den sie sonst morgens zum Frühstück sehen und dann noch mal abends, sind sie nun den ganzen Tag mit ihm zusammen. Es bleibt einem eigentlich doch gar nichts anderes übrig, als zumindest über Beziehung zu anderen, aber auch über sich selbst mal neu nachzudenken.
Rosa: Das ist, glaube ich, so. Dann stellen wir aber fest, dass man mit Nachdenken eben nur sehr beschränkt Einfluss nehmen kann auf die Art, wie wir Beziehungen leben und erfahren, da ist sehr viel Körperliches, Emotionales und eben nicht Bewusstes dabei. Und deshalb würde ich schon darauf bestehen, es ist eine experimentelle Situation im Großen und auch im Kleinen. Wir können jetzt auch wirklich Erfahrungen mit uns selber machen, mit dem eigenen Körper, mit der eigenen Biografie, mit der Natur um uns herum, um das Fenster oder den Balkon, und natürlich auch im Nahbereich.
Aber diese Erfahrungen, die wir da machen, sind eben nicht immer erfreulich. Wir dachten zum Beispiel, wenn ich dann mal wieder Zeit habe, Klavier zu spielen, das wäre toll, das wäre mein größter Traum, und jetzt haben wir Zeit, Klavier zu spielen, und stellen vielleicht fest, irgendwie habe ich erstens keine Lust darauf und zweitens kommt dabei nichts raus. Und da kommt es sozusagen gezwungenermaßen zu einer Neujustierung unserer Resonanzachsen.
Aufschieben trotz genug Zeit
Kassel: Das finde ich fast schon unheimlich, dass Sie das jetzt erwähnt haben. Ich kann gar nicht Klavier spielen, aber stelle trotzdem etwas Ähnliches bei mir fest. Ich hatte mir vorgenommen, ich spreche es mal aus, es gibt zwei Bücher in meinem Leben, von denen ich finde, man muss sie eigentlich gelesen haben, ich habe es aber nicht. Das ist "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und "Der Mann ohne Eigenschaften", beide habe ich seit 20 Jahren in meinem Besitz. Nun hatte ich letzte Woche frei, durfte kaum raus, da habe ich gedacht, das machst du jetzt endlich, ich habe es aber nicht gemacht. Das ist ja alles nicht wahr, dass wir jetzt all das tun, was wir immer schon tun wollten.
Rosa: Sehr erstaunlich. Da erleben wir etwas, was psychosoziale Beratungsstellen insbesondere auch bei Studierenden kennen, Prokrastination, man schiebt es irgendwie auf, man schiebt es vor sich her, und erstaunlicherweise gilt das sogar für die Sachen, von denen wir zumindest immer geglaubt haben, dass wir sie gerne täten. Bei den beiden Büchern habe ich ein gewisses Verständnis, die sind schon sehr, sehr zähe Kost.
Die Krise wird uns verändern
Kassel: Ich habe so etwas Ähnliches mal gesagt über den Proust, da hatte ich ganz viel Post zu beantworten, die schicke ich jetzt Ihnen, diesmal haben Sie es gesagt. Die entscheidende Frage zum Schluss ist, man kann es noch nicht wissen, aber man kann es ja vielleicht abschätzen: Wird die Situation, in der wir jetzt sind, Ihrer Meinung nach tatsächlich eine konkrete anhaltende Auswirkung haben auf unsere Normalität danach?
Rosa: Das ist wirklich schwer zu sagen. Wir waren ja schon bei dem Punkt, zu sagen, dass in aller Regel Gesellschaften versuchen, auch einzelne Menschen versuchen, möglichst schnell wieder den Urzustand herzustellen. Das hängt jetzt ein bisschen davon ab, wie lange die Krise dauert, ob das so einfach gehen wird. Und es hängt auch davon ab, dass es jetzt ganz wichtig ist in diesem Experiment, was für Erfahrungen wir darin machen – wenn der Staat plötzlich wieder durchregiert zum Beispiel, wenn wir das Gesundheitssystem ganz anders wahrnehmen.
Wenn es uns gelingt, daraus Erfahrungen zu ziehen und vielleicht auch auf neue Handlungsweisen zu kommen, dann kann das eine Änderung bewirken. Eine Änderung wird es auf jeden Fall bewirken, weil wir erleben uns gerade politisch als handlungsfähig. Im Angesicht der Klimakrise haben wir uns immer als ohnmächtig erfahren, nach dem Motto, da kann man nichts machen. Und jetzt plötzlich stellen wir fest, wir können doch handeln, das könnte eine ganz wichtige Erfahrung sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.