Entspannte Miniaturen
Der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint entwirft in seinem Essay-Band "Die Dringlichkeit und die Geduld" eine kleine Poetologie. Seine Texte handeln von Dostojewski, Schreibmaschinen, Montagen oder Hotelzimmern.
Jean-Philippe Toussaint, der in Brüssel und auf Korsika lebt, ist auf dem französischsprachigen Buchmarkt ein großer Name. Der Autor, der auch Regisseur und Drehbuchautor ist, erzählt lakonisch, in fast filmischen, überdeutlichen Bildern und schleift jede Menge kulturgeschichtlichen Subtext mit – sein Stil ist in der Tat unverwechselbar. Weil er in der französischsprachigen Welt diesen Bestseller-Status hat und als eher zurückhaltend gilt, war sein neuer Essay-Band ein Selbstläufer.
Bei uns, wo Toussaint nur eine kleine, wenn auch beständige Fangemeinde hat, werden die LeserInnen weniger wegen des berühmten Autorennamens danach greifen, als um der Texte selbst willen – und das tun sie: "Die Dringlichkeit und die Geduld" stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste und bekam auch in Deutschland hymnische Kritiken. Zu Recht.
Toussaint erzählt von seiner Schriftsteller-Genese und seinen Lektüren. Er beginnt "Die Dringlichkeit und die Geduld" chronologisch bei dem Moment, in dem er anfing zu schreiben – einem Tag im Herbst 1979. Da hatte er "Verbrechen und Strafe" von Dostojewski gelesen, "und einen Monat nach der Lektüre, bei der ich den Schauder kennenlernte, mich mit der zwiespältigen Figur des Raskolnikow zu identifizieren, begann ich zu schreiben". Vor allem Toussaints Randbemerkungen sind hochkomisch: Er möchte zum Beispiel glauben, dass dieser Tag ein Montag war, denn "ich habe mich schon immer ein wenig zu Montagen hingezogen gefühlt".
Die Texte in diesem Band sind nicht eigentlich Essays, eher Miniaturen, die verschiedene Aspekte von Toussaints Schreiben anreißen: Er beschreibt seine Arbeitszimmer, stellt seine Schreibmaschinen wie Gefährtinnen vor, verrät das Bauprinzip der in seinen Romanen wichtigen Hotelzimmer. Er verneigt sich vor seinen Säulenheiligen, seinem ersten Verleger Jérôme Lindon, der ihm sein großes Vorbild Samuel Beckett vorstellte.
Den Kern dieses schmalen Bandes aber bildet der titelgebende Text über "Die Dringlichkeit und die Geduld", eine Art kleine Poetologie. Toussaint beschreibt darin die Erfahrung, die jeder kennt, der um Einfälle ringt, die aber wenige so schön und präzise beschrieben haben: Am Anfang des Schreibens braucht es Geduld, bis ein Text in seinem Autor reift, die Figuren, erste Bilder entstehen. Und in dieser Phase muss man den richtigen Punkt zum Absprung ins Schreiben erwischen, um dann "wie auf den Grund eines Ozeans" in das Buch hinunterzusteigen, eben in die Phase der Dringlichkeit. Ein Gemeinplatz, jedoch in hochpoetischen Bildern beschrieben.
Toussaints Miniaturen sind kurz, enden oft abrupt mit einer überraschenden These ("Die besten Bücher sind die, bei denen man sich an den Sessel erinnert, in dem man sie las") und funktionieren weniger als abgeschlossene Betrachtungen als vielmehr als Sprungbrett für die Fantasie der Leser.
Dieser Band ist eine perfekte Ergänzung zur Lektüre von Toussaints Romanen. Denn wem die manchmal zu bewusst raffiniert sind, der begegnet in "Die Dringlichkeit und die Geduld" einem viel entspannteren, leichteren Jean-Philippe Toussaint.
Besprochen von Dina Netz
Jean-Philippe Toussaint: Die Dringlichkeit und die Geduld. Essays
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012
90 Seiten, 14,90 Euro
Bei uns, wo Toussaint nur eine kleine, wenn auch beständige Fangemeinde hat, werden die LeserInnen weniger wegen des berühmten Autorennamens danach greifen, als um der Texte selbst willen – und das tun sie: "Die Dringlichkeit und die Geduld" stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste und bekam auch in Deutschland hymnische Kritiken. Zu Recht.
Toussaint erzählt von seiner Schriftsteller-Genese und seinen Lektüren. Er beginnt "Die Dringlichkeit und die Geduld" chronologisch bei dem Moment, in dem er anfing zu schreiben – einem Tag im Herbst 1979. Da hatte er "Verbrechen und Strafe" von Dostojewski gelesen, "und einen Monat nach der Lektüre, bei der ich den Schauder kennenlernte, mich mit der zwiespältigen Figur des Raskolnikow zu identifizieren, begann ich zu schreiben". Vor allem Toussaints Randbemerkungen sind hochkomisch: Er möchte zum Beispiel glauben, dass dieser Tag ein Montag war, denn "ich habe mich schon immer ein wenig zu Montagen hingezogen gefühlt".
Die Texte in diesem Band sind nicht eigentlich Essays, eher Miniaturen, die verschiedene Aspekte von Toussaints Schreiben anreißen: Er beschreibt seine Arbeitszimmer, stellt seine Schreibmaschinen wie Gefährtinnen vor, verrät das Bauprinzip der in seinen Romanen wichtigen Hotelzimmer. Er verneigt sich vor seinen Säulenheiligen, seinem ersten Verleger Jérôme Lindon, der ihm sein großes Vorbild Samuel Beckett vorstellte.
Den Kern dieses schmalen Bandes aber bildet der titelgebende Text über "Die Dringlichkeit und die Geduld", eine Art kleine Poetologie. Toussaint beschreibt darin die Erfahrung, die jeder kennt, der um Einfälle ringt, die aber wenige so schön und präzise beschrieben haben: Am Anfang des Schreibens braucht es Geduld, bis ein Text in seinem Autor reift, die Figuren, erste Bilder entstehen. Und in dieser Phase muss man den richtigen Punkt zum Absprung ins Schreiben erwischen, um dann "wie auf den Grund eines Ozeans" in das Buch hinunterzusteigen, eben in die Phase der Dringlichkeit. Ein Gemeinplatz, jedoch in hochpoetischen Bildern beschrieben.
Toussaints Miniaturen sind kurz, enden oft abrupt mit einer überraschenden These ("Die besten Bücher sind die, bei denen man sich an den Sessel erinnert, in dem man sie las") und funktionieren weniger als abgeschlossene Betrachtungen als vielmehr als Sprungbrett für die Fantasie der Leser.
Dieser Band ist eine perfekte Ergänzung zur Lektüre von Toussaints Romanen. Denn wem die manchmal zu bewusst raffiniert sind, der begegnet in "Die Dringlichkeit und die Geduld" einem viel entspannteren, leichteren Jean-Philippe Toussaint.
Besprochen von Dina Netz
Jean-Philippe Toussaint: Die Dringlichkeit und die Geduld. Essays
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2012
90 Seiten, 14,90 Euro