Jenseitsideen gegen die Angst
Seit wann gibt es eigentlich Religionen? Wann und warum haben unsere Vorfahren begonnen, an Gott oder Götter zu glauben? Liegt uns der Glauben in den Genen? Michael Hollenbach hat sich auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen begeben.
"Im Anfang war das Wort
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott."
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott."
So beginnt das Johannesevangelium des Neuen Testaments. Doch Ina Wunn, Religionswissenschaftlerin an der Universität Hannover, ist sich sicher:
"Religionen sind ganz bestimmt biologisch bedingt. Allerdings nicht in dem Fall, wie man sich das vielleicht vorstellt, dass es so etwas gibt wie ein Gottesgen, das einen quasi automatisch religiös macht. Religion ist insofern in unserer Biologie verankert, weil wir ganz bestimmte Dispositionen haben."
Dispositionen, die die Entwicklung religiöser Vorstellungen erleichtern. Das sieht der Freiburger Neurobiologe Robert-Benjamin Illing ganz ähnlich. Auch er glaubt nicht daran, dass die Religion unmittelbar genetisch bedingt ist:
"Eins zu eins nicht, aber die Möglichkeit, an so etwas zu denken, die ist genetisch verankert. Und jetzt probieren wir einfach aus in unserer Kulturgeschichte, mit welchen Konzepten wir gut durch das Leben kommen, durch die Sinnkrisen, diese Gratwanderung zwischen 'Es hat ja alles keine Bedeutung' und 'Wir streben einem höheren Ziel entgegen', dass wir das bewältigen."
Religion als Voraussetzung für Entwicklung
Der Hirnforscher ist überzeugt: Im Prinzip benötigte der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte die Religion:
"Der braucht etwas, weil er mit dem Transzendenten konfrontiert ist, mit großen Fragen, die ganz real sind, die aber keine offensichtlichen Antworten finden, und da muss er jetzt aktiv werden und das ist Religion im weitesten Sinne."
Robert-Benjamin Illing betont, dass man als Wissenschaftler über den Beginn des Religiösen vor einigen zehntausend Jahren nur spekulieren kann. Seine Theorie:
"Jetzt gibt es einen Moment in der Menschheitsgeschichte, wo den ersten Individuen deutlich wurde, dass sie sterblich sind, dass sie verletzbar sind, und dass der Tod der definitive und endgültige Endpunkt in ihrer Entwicklung ist. Was haben diese Menschen in dieser Situation gefühlt und gedacht? Wie haben sie diesen Ängsten entkommen können? Es ging eindeutig nicht mehr so, dass sie das gleiche Muster wie bisher mit ihrem Angstmanagement verfolgen konnten – nämlich weglaufen oder angreifen. Aber jetzt stecken plötzlich die Ängste in uns drin, nämlich die Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Und jetzt waren wir gefragt, wieder mit Hypothesen, aber ganz neuen Hypothesen zu arbeiten, um uns lebensfähig zu halten. Und in diesem Bereich dürfen wir vermuten, dass erste Jenseitsideen, erste Gottesvorstellungen sich entwickelt haben."
Der Mensch merkt früh, dass er nicht alles erklären kann
"Es fängt schon sehr früh an, dass man beim Menschen, bei seinen Hinterlassenschaften spürt: Er kann sich nicht alles erklären."
... sagt der Prähistoriker Hermann Parzinger:
"Wir haben beim Neandertaler die ersten Gräber, also der Neandertaler hat in gewisser Weise das Jenseits entdeckt."
Das war vor rund 60.000 bis 70.000 Jahren. Nach dem Neandertaler habe der Homo sapiens versucht, das Jenseits, das Transzendente, fassbar und vorstellbar zu machen. Parzinger, zugleich Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, verweist auf die frühen Höhlenmalereien der späten Eiszeit - 30.000 bis 40.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung.
"Ich habe schon sehr stark den Eindruck, dass es immer wieder so war, sich Dinge einfach begreiflich zu machen, und das, was man gar nicht verstehen konnte, in irgendeiner Form durch rituelle Handlungen, sich bestimmte Entwicklungen, auch des Klimas, der Umwelt, gewogen zu machen. Nicht umsonst ist ja eine exponentielle Zunahme des Religiösen mit der Sesshaftwerdung zu beobachten."
Als Bauern waren die Menschen noch stärker abhängig von den Launen der Natur. Und sie mussten ihr Territorium gegen Angreifer verteidigen. Das versuchten sie auch mit rituellen Waffen, sagt die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn. Es entstehen erste Tonfiguren und so etwas wie Hausaltäre: oft Darstellungen von nackten Frauen, von Göttinnen.
"Wenn es denn also tatsächlich so gewesen ist, dass diese Bilder, diese Zeichen, diese Gesten wirkungsvoll Eindringlinge abgehalten haben, dann ist der Schritt zur Annahme, dass diese Dinge gegen Bedrohliches an sich wirken, ganz naheliegend."
Und diese kleinen Göttinnen-Figuren tauchen dann auch bei den Toten auf:
"Eine erste Kombination von mächtigen Frauenfiguren und Bestattungen haben wir im Neolithikum; das Ganze setzt ein um 7000 vor Christus in Anatolien."
´"Mit der Sesshaftwerdung nimmt das Religiös-Rituelle zu"
Im Prozess der Jahrtausende kommen dann männliche Gottesfiguren dazu. Die Evolution der Religionen tritt in ihre nächste Phase ein.
"Mit der Sesshaftwerdung nimmt dieses Religiös-Rituelle zu. Es gibt bestimmte Orte, die klar für den Archäologen auch nach Jahrtausenden wiederzufinden sind, ob es Kultplätze sind, ob es Hausaltäre sind, und ähnliches mehr. Und das geht kontinuierlich weiter."
Die meisten Theologen reagieren skeptisch auf die Theorie der Evolution der Religionen – zumindest wenn es um ihre eigene Religion geht. Der Neurobiologe Robert-Benjamin Illing ist allerdings überzeugt von der evolutionären Entwicklung:
"Die Theologen sehen teilweise einen Widerspruch, weil sie diese naturalistische Sichtweise nicht teilen wollen, weil sie an Dinge wie Offenbarung glauben, an originale Dokumente von Gottes Wort. Solche Dinge kommen nicht vor in diesem evolutionären Ansatz. Der geht andersherum: Wir bilden den Gottesgedanken, so wie wir den Freiheitsgedanken bilden oder die Vorstellung einer Seele. Wir bilden diesen Gedanken, und dann prüfen wir das Universum, ob für diesen Gedanken Platz ist. Wenn dieser Platz gefunden wird, wie so eine Art ökologischer Nische, dann können wir sagen, das Universum hat die Möglichkeit vorgesehen, dass wir einen Gottesgedanken pflegen und damit besser leben als ohne. Und das ist für mich der Kulminationspunkt zu sagen: Es ist sinnvoll, von einem Gott zu reden. Nicht durch Offenbarung, sondern weil der Gottesgedanke uns hilft im Leben. Ich würde mich zum Beispiel nicht als Atheisten bezeichnen und gleichzeitig sagen: Gott ist eine Konstruktion, aber eine, die sich großartig bewährt hat."
Und die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn, die in ihrem aktuellen Buch "Götter, Gene, Genesis" die Biologie der Religionsentstehung beschreibt, ist der Ansicht, dass die Religionen nicht aussterben, sich aber immer weiter verändern und individualisieren werden. Auch wenn Ina Wunn den Versuch unternimmt, den Ursprung und die Evolution von Religionen schlüssig zu erklären, so sieht auch sie sich nicht als Vorkämpferin eines Atheismus:
"Ich kann über die Existenz eines Gottes ja mit meinen wissenschaftlichen Methoden gar keine Aussage machen."