"Entweder du zahlst oder du stirbst"
Seit dem Abzug der US-Truppen haben in Mosul die Dschihadisten das Sagen. Leiden müssen darunter vor allem die Christen, sie haben kaum noch Schutz vor Repression und Gewalt. Ein Besuch in der gefährlichsten Stadt im Irak.
Eigentlich wäre spätestens hier die Zeit, ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken. Vater Gabriel scheint allerdings nicht mal daran zu denken. Er zündet sich eine Zigarette an und sagt nur: Da vorne - das ist Mosul.
Die Stadt taucht drohend aus einer gelblichen Staubwolke auf, erste Häuserfronten, Minarette, Fabrikruinen. Je näher wir kommen, desto feindlicher wirkt sie. Eine Lastwagenkolonne kommt uns entgegen. Überladen, mit schwankender Fracht und hoher Geschwindigkeit fährt sie an uns vorbei. Die Fahrer haben hinter sich, was uns noch bevorsteht: die Checkpoints. Und die letzten Kilometer vor Mosul, auf denen immer wieder mal Sprengsätze explodieren.
Links und rechts der übliche Auswurf arabischer Landstraßen – rostige Ölfässer, zerfetzte Reifen, ausgeschlachtete Autowracks. Und Hunde, bösartige, ausgehungerte Köter, die aus der Wüste kommen und am Straßenrand nach Fressbarem suchen.
Fahren wir weiter, sagt Vater Gabriel. Der erste Checkpoint sei unproblematisch. Der werde von kurdischen Milizionären gehalten. Die Kurden kennen ihn, diesen schwarz gekleideten Mann, der stets blütenweiße Stehkrägen trägt. Er ist der Abt des Klosters der Heiligen Jungfrau von den Ähren im 40 Kilometer entfernten Alqosh. Mit Kurden spricht er kurdisch, mit Arabern arabisch, mit chaldäischen Christen das alte, fast vergessene Syrisch. 43 Jahre ist er alt. Und weil er in den 90er-Jahren eine Zeit lang in Rom studierte, spricht er mit Europäern immer italienisch. Abuna Gabriel – Vater Gabriel ist Kosmopolit – und der einzige Geistliche, der sich noch nach Mosul hinein wagt:
"Drei Mal bin ich nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Vor ein paar Monaten besuchte ich eine christliche Familie. Da kam eine Frau aus der Nachbarschaft ins Haus gerannt. Eine Muslimin. Man will dich entführen, sagte sie. Ich bin sofort gegangen. Trotzdem fahr ich immer wieder nach Mosul."
Zwei, vielleicht drei Millionen Menschen leben in Mosul. So genau weiß das niemand. Es sei eine multiethnische Stadt, habe ich in einem Reiseführer gelesen, multireligiös, multikulturell, hier lebten Christen und Muslime zusammen. Den Reiseführer aus dem Jahr 2002 kann man wegwerfen. Mosul ist mittlerweile Iraks Al-Kaida-Metropole. Hier haben Dschihadisten freie Hand, hier können sie alles und alle bekämpfen, die sich nicht ihrer radikal-islamistischen Doktrin unterwerfen. In den vergangenen zehn Jahren sind fast alle Christen aus Mosul geflüchtet. 100.000 lebten dort. 5000 sind übrig geblieben.
Am ersten Checkpoint gab es tatsächlich keine Probleme. Aber nun verlassen wir das von Kurden kontrollierte Gebiet und nähern uns dem irakischen Checkpoint kurz vor der Stadt.
Da könnte es schwierig werden, sagt Vater Gabriel, bremst ab und fährt in Schlangenlinie an versetzt aufgestellten Betonblöcken vorbei. Dahinter Soldaten mit Splitterschutzwesten, Gesichtsmasken, Helmen. Mit einem Mal meldet sich Dawoud auf dem Rücksitz, unser Begleiter aus Vater Gabriels Gemeinde.
"Viele der Soldaten arbeiten mit den Islamisten hier zusammen. Sie geben ihnen Informationen durch, denunzieren, sagen wer gerade in die Stadt fährt. Die Soldaten sympathisieren nicht unbedingt mit den Radikalen – sie machen es, weil sie Geld dafür bekommen."
Vater Gabriel fährt die Scheibe runter und grüßt die irakischen Soldaten so freundlich, als würde er ihnen seinen allerchristlichsten Segen erteilen. Das scheint zu wirken. Sie winken uns durch. Wir sind in Mosul. Vater Gabriel will hier eine christliche Familie besuchen. Sie alle warten darauf, in den Westen flüchten zu können.
"Die, die noch da sind, sitzen mit Herzklopfen auf gepackten Koffern, ratlos. Die irakische Regierung behauptet zwar, dass sie die Christen beschützt. Aber man muss sich ja nur anschauen, was in Mosul geschieht. Es gibt keinen Schutz."
Was die öffentliche Wahrnehmung angeht, haben irakische Christen allerdings einen entscheidenden Nachteil: Das Ausmaß ihrer Not entzieht sich der fernsehgerechten Bildersprache, an die wir gewöhnt sind. Die Vertriebenen leben nicht in Lagern oder Zeltstädten irgendwo in der Wüste. Sie haben sich unspektakulär in die Metropolen des Nahen Ostens oder der westlichen Welt zurück gezogen. Sie hausen in angemieteten Wohnkasernen in der Kurdenmetropole Erbil, in billigen Zimmern am Stadtrand Ammans, in München, Stuttgart, London, Detroit. Es ist ein unauffälliges Untergehen in Großstädten, ein Verschwinden im Anonymen.
Zehn Jahre genügten, um die ältesten Gemeinden des Christentums an den Rand des Abgrunds zu drängen. Im Irak wurden bislang 61 Kirchen zerstört, 970 Christen ermordet: Bischöfe, Priester, einfache Gläubige.
Die Liste der terrorisierten Christen ist zuverlässig dokumentiert. Und sie ist lang. Sehr lang. Auf ihr steht auch der Name Younis, Josef Younis. Er wurde in Mosul auf dem Heimweg von der Arbeit gekidnappt.
"Ich wollte vom Labor nach Hause, ich bin ja Zahntechniker. Unterwegs wollte ich noch schnell in der Reinigung vorbeigehen, um ein paar Kleider abzuholen. Da hielten plötzlich zwei Wagen neben mir. Männer sprangen heraus, bewaffnet. Sie packten mich und wollten mich ins Auto zerren. Ich wehrte mich, aber sie schlugen mit einem Pistolenknauf auf mich ein. Ich verlor das Bewusstsein. In einem fensterlosen Raum kam ich wieder zu mir – gefesselt. Ein Maskierter sagte: Du bist Christ, Du bist ein Freund der Amerikaner. Was willst Du in einem islamischen Land? Du musst Jizya zahlen, Kopfsteuer, so will es der Koran. Entweder Du zahlst oder Du stirbst, sagten sie. Sie wollten 20.000 Dollar."
Die Familie hat sich das Geld bei Freunden und Nachbarn geliehen. Und hat gezahlt.
Hunderte Christen im Nordirak erzählen solche und ähnliche Leidensgeschichten. Doch eigenartigerweise treffen sie im Westen damit auf geringes Interesse. Politiker reden lieber von der allgemein schwierigen Lage angesichts der großen Umwälzungen im Nahen Osten. Selbst eine Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International tut sich schwer damit, zur Lage der orientalischen Christen Stellung zu nehmen. Fast könnte man meinen, ihre Not beim Namen zu nennen, verstoße gegen die Gebote politisch korrekten Verhaltens im Westen. Der Schriftsteller Martin Mosebach, ein Kenner des orientalischen Christentums, sucht nach einer Erklärung dafür:
"Die Christen haben in der öffentlichen Meinung des Westens schlechte Karten. Sie werden gesehen, in der Geschichte, als Kreuzzügler, als Reaktionäre, als im Inneren repressiv, als eine überwundene Kulturstufe. Christen haben wenig Chancen, als Opfer dazustehen, sie werden allenfalls achselzuckend als Kollateralschäden wahrgenommen in einer insgesamt so erfreulichen Entwicklung wie dem Aufstand der arabischen Gesellschaften gegen ihre Diktatoren. Da muss man diesen kleinen Schönheitsfehler, dass die Christen dabei ihre Existenz verlieren werden, einfach hinnehmen."
Gottesdienst im Kloster der Heiligen Jungfrau von den Ähren in Alqosh. Auch dieser Ort liegt im kurdisch kontrollierten Teil des Irak, im Norden, wo die vertriebenen Christen ihr Rückzugsgebiet haben. Fünf Mönche eilen in sich gekehrt zur Kapelle. Es ist still und friedlich, im Klosterhof wachsen Olivenbäume, blühen Rosensträucher und Astern. Die Mönche, die hier leben, wissen sich in der Tradition einer uralten Gemeinschaft, die vor 1500 Jahren eines der ältesten Klöster der Christenheit gründete: Rabban Hormizd, eingehauen in die baumlose Felslandschaft hinter Alqosh, einer der Patriarchensitze der chaldäischen Kirche. Mit seiner Bibliothek, seinen Gelehrten, seinen Eremiten war Rabban Hormizd eines der wichtigsten Klöster der Kirche des Ostens. Als das Felsenkloster im 19. Jahrhundert nicht mehr zu halten war, wurde es aufgegeben und durch das Kloster der Heiligen Jungfrau von den Ähren ersetzt.
Die Mönche beten auf Syrisch, in einem aramäischen Dialekt, eng mit der Sprache Jesu verwandt. In den Bankreihen der Klosterkirche sammelt sich die kleine Gemeinde Alqoshs, rechts die Männer, links die Frauen, die Haare mit weißen Spitzentüchlein bedeckt. Die Mönche rezitieren ihre liturgischen Texte aus schweren, ledergebunden Büchern. Die Seiten sind vergilbt, die Schrift ist verblasst. In Europa würde man so etwas in Museumsvitrinen konservieren. Im Kloster Alqosh sind es Gegenstände des täglichen Gebrauchs:
"Alles was in die Zeit fällt, in der das Christentum sich formiert, hat in diesen Regionen stattgefunden. Also das war genuin christliches Land. Und die Christen, die dort leben, sind nun wirklich die eigentlichen Erben dieses Landes. Dies ist ihr eigenes Land. Sie sind dort nicht durch koloniale Entwicklung hingelangt, sie sind nicht Restbestände abgezogener Kolonisatoren, sondern sie sind die, die aus der ersten Phase des Christentums stammen und dort auch die Traditionen des Christentums bewahrt haben."
Jetzt sind wir im Stadtgebiet von Mosul, sagt Vater Gabriel. Und ich sehe durch die Frontscheibe hindurch auf verwahrlosten Straßen, all das militärische Gerät und die Gestalten einer nahöstlichen Bürgerkriegsszenerie: Verhüllte Männer mit Kalaschnikows über den Schultern, Sandsäcke, Stacheldraht, herumlungernde Kinder und an den Kreuzungen Hummer-Geländewagen mit aufgeschweißten Maschinengewehren. Die Hummer stammen noch aus der Zeit von David Petraeus, dem US-General, der es bis zum CIA-Chef brachte, nur um am Ende über eine Liebesaffäre zu stürzen.
Seine Karriere begann 2003 mit der Eroberung Mosuls. Mit 18.000 Soldaten zog er in die Stadt ein, um sich dort vor allem als militärischer Aufbauhelfer zu präsentieren. Petraeus förderte zivile Projekte, Schulen, Universitäten. Die Stadt war so sicher, dass er jeden Morgen um den ehemaligen Palast Saddam Husseins joggen konnte. Mosul galt als Vorzeigemodell für eine gelungene nahöstliche Interventionsstrategie. Sie war es aber nicht lange. Als die US-Truppen im Jahr 2008 aus Mosul abzogen, übernahmen die Islamisten. Mosul wurde zur gefährlichsten Stadt im Irak. Und sie ist es noch immer.
Fahren wir lieber hier runter, sagt Vater Gabriel, weil mit einem Mal vor uns nichts mehr geht. Bewaffnete mit ausrasierten Bärten und knöchellangen Gewändern stehen mitten auf der Straße und schauen in jedes Auto hinein, das im Schritttempo an ihnen vorbei muss. Wir wollen umdrehen. Aber da klopft schon einer gegen die Scheibe, und nun wirkt auch Vater Gabriel etwas nervös. Red jetzt kein Wort, sagt er, öffnet einen Spalt und ruft nach draußen: Wie geht's hier zur Sadekstraße?
Da lang, bekommt er zur Antwort. Siehst Du, sagt er beim Weiterfahren, Du darfst ihnen nur nicht in die Augen schauen. Ein paar Straßenecken weiter wohnt die Familie, die wir besuchen. Das Haus liegt in einer Gasse und ist wie die meisten irakischen Häuser von einer mannshohen Mauer umgeben, davor ein blaues, massives Eisentor.
Facile, sei das gewesen, einfach – sagt Vater Gabriel auf italienisch.
Im Herbst 2007 begannen radikale Islamisten in Mosul damit, die sogenannte Jizya einzutreiben – eine Kopfsteuer aus der Anfangszeit des Islam. Als die muslimischen Eroberer im siebten Jahrhundert Palästina, Syrien, den Irak und das sassanidische Perserreich unterwarfen, stellten sie die dort lebenden Christen vor die Wahl: entweder zum Islam zu konvertieren oder Jizya zu zahlen. Wer die Kopfsteuer zahlte, durfte weiterhin seine Religion ausüben, musste aber die Kriegsführung der muslimischen Eroberer mitfinanzieren. Diese 1400 Jahre alte Regel wurde 2007 von irakischen Islamisten auf ihre Weise interpretiert. In Mosul und in Bagdads Christenviertel Dora begannen sunnitische Milizionäre damit, von jeder christlichen Familie 190 Dollar Kopfgeld einzutreiben. Wer nicht zahlte, musste verschwinden und sein Haus den islamistischen Moscheen überlassen.
Mosuls Muezzine rufen zum Mittagsgebet. Vor einigen Jahren hatten hier auch noch Glocken geläutet. 40 Kirchen und ein Priesterseminar gab es in dieser Stadt. Die meisten stehen heute leer oder wurden zerstört.
"Die Zukunft ist schwarz, sie wird im Irak mit jedem Tag schwärzer. Die Leute werden immer rückständiger. Angst ist das einzige, was wir hier haben. Was sollen wir an Weihnachten machen? Wir werden zum Markt rennen, schnell irgendwas einkaufen, und wieder zurück nach Hause laufen. Ich will hier nur noch raus. Nach Europa zu meinem Mann. Man hat uns aufgegeben. Wir sind keine Bürger mehr. Wir sind Fremde, Ausgestoßene."
Scapiamo, sagt Vater Gabriel, verschwinden wir.
Die Stadt taucht drohend aus einer gelblichen Staubwolke auf, erste Häuserfronten, Minarette, Fabrikruinen. Je näher wir kommen, desto feindlicher wirkt sie. Eine Lastwagenkolonne kommt uns entgegen. Überladen, mit schwankender Fracht und hoher Geschwindigkeit fährt sie an uns vorbei. Die Fahrer haben hinter sich, was uns noch bevorsteht: die Checkpoints. Und die letzten Kilometer vor Mosul, auf denen immer wieder mal Sprengsätze explodieren.
Links und rechts der übliche Auswurf arabischer Landstraßen – rostige Ölfässer, zerfetzte Reifen, ausgeschlachtete Autowracks. Und Hunde, bösartige, ausgehungerte Köter, die aus der Wüste kommen und am Straßenrand nach Fressbarem suchen.
Fahren wir weiter, sagt Vater Gabriel. Der erste Checkpoint sei unproblematisch. Der werde von kurdischen Milizionären gehalten. Die Kurden kennen ihn, diesen schwarz gekleideten Mann, der stets blütenweiße Stehkrägen trägt. Er ist der Abt des Klosters der Heiligen Jungfrau von den Ähren im 40 Kilometer entfernten Alqosh. Mit Kurden spricht er kurdisch, mit Arabern arabisch, mit chaldäischen Christen das alte, fast vergessene Syrisch. 43 Jahre ist er alt. Und weil er in den 90er-Jahren eine Zeit lang in Rom studierte, spricht er mit Europäern immer italienisch. Abuna Gabriel – Vater Gabriel ist Kosmopolit – und der einzige Geistliche, der sich noch nach Mosul hinein wagt:
"Drei Mal bin ich nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Vor ein paar Monaten besuchte ich eine christliche Familie. Da kam eine Frau aus der Nachbarschaft ins Haus gerannt. Eine Muslimin. Man will dich entführen, sagte sie. Ich bin sofort gegangen. Trotzdem fahr ich immer wieder nach Mosul."
Zwei, vielleicht drei Millionen Menschen leben in Mosul. So genau weiß das niemand. Es sei eine multiethnische Stadt, habe ich in einem Reiseführer gelesen, multireligiös, multikulturell, hier lebten Christen und Muslime zusammen. Den Reiseführer aus dem Jahr 2002 kann man wegwerfen. Mosul ist mittlerweile Iraks Al-Kaida-Metropole. Hier haben Dschihadisten freie Hand, hier können sie alles und alle bekämpfen, die sich nicht ihrer radikal-islamistischen Doktrin unterwerfen. In den vergangenen zehn Jahren sind fast alle Christen aus Mosul geflüchtet. 100.000 lebten dort. 5000 sind übrig geblieben.
Am ersten Checkpoint gab es tatsächlich keine Probleme. Aber nun verlassen wir das von Kurden kontrollierte Gebiet und nähern uns dem irakischen Checkpoint kurz vor der Stadt.
Da könnte es schwierig werden, sagt Vater Gabriel, bremst ab und fährt in Schlangenlinie an versetzt aufgestellten Betonblöcken vorbei. Dahinter Soldaten mit Splitterschutzwesten, Gesichtsmasken, Helmen. Mit einem Mal meldet sich Dawoud auf dem Rücksitz, unser Begleiter aus Vater Gabriels Gemeinde.
"Viele der Soldaten arbeiten mit den Islamisten hier zusammen. Sie geben ihnen Informationen durch, denunzieren, sagen wer gerade in die Stadt fährt. Die Soldaten sympathisieren nicht unbedingt mit den Radikalen – sie machen es, weil sie Geld dafür bekommen."
Vater Gabriel fährt die Scheibe runter und grüßt die irakischen Soldaten so freundlich, als würde er ihnen seinen allerchristlichsten Segen erteilen. Das scheint zu wirken. Sie winken uns durch. Wir sind in Mosul. Vater Gabriel will hier eine christliche Familie besuchen. Sie alle warten darauf, in den Westen flüchten zu können.
"Die, die noch da sind, sitzen mit Herzklopfen auf gepackten Koffern, ratlos. Die irakische Regierung behauptet zwar, dass sie die Christen beschützt. Aber man muss sich ja nur anschauen, was in Mosul geschieht. Es gibt keinen Schutz."
Was die öffentliche Wahrnehmung angeht, haben irakische Christen allerdings einen entscheidenden Nachteil: Das Ausmaß ihrer Not entzieht sich der fernsehgerechten Bildersprache, an die wir gewöhnt sind. Die Vertriebenen leben nicht in Lagern oder Zeltstädten irgendwo in der Wüste. Sie haben sich unspektakulär in die Metropolen des Nahen Ostens oder der westlichen Welt zurück gezogen. Sie hausen in angemieteten Wohnkasernen in der Kurdenmetropole Erbil, in billigen Zimmern am Stadtrand Ammans, in München, Stuttgart, London, Detroit. Es ist ein unauffälliges Untergehen in Großstädten, ein Verschwinden im Anonymen.
Zehn Jahre genügten, um die ältesten Gemeinden des Christentums an den Rand des Abgrunds zu drängen. Im Irak wurden bislang 61 Kirchen zerstört, 970 Christen ermordet: Bischöfe, Priester, einfache Gläubige.
Die Liste der terrorisierten Christen ist zuverlässig dokumentiert. Und sie ist lang. Sehr lang. Auf ihr steht auch der Name Younis, Josef Younis. Er wurde in Mosul auf dem Heimweg von der Arbeit gekidnappt.
"Ich wollte vom Labor nach Hause, ich bin ja Zahntechniker. Unterwegs wollte ich noch schnell in der Reinigung vorbeigehen, um ein paar Kleider abzuholen. Da hielten plötzlich zwei Wagen neben mir. Männer sprangen heraus, bewaffnet. Sie packten mich und wollten mich ins Auto zerren. Ich wehrte mich, aber sie schlugen mit einem Pistolenknauf auf mich ein. Ich verlor das Bewusstsein. In einem fensterlosen Raum kam ich wieder zu mir – gefesselt. Ein Maskierter sagte: Du bist Christ, Du bist ein Freund der Amerikaner. Was willst Du in einem islamischen Land? Du musst Jizya zahlen, Kopfsteuer, so will es der Koran. Entweder Du zahlst oder Du stirbst, sagten sie. Sie wollten 20.000 Dollar."
Die Familie hat sich das Geld bei Freunden und Nachbarn geliehen. Und hat gezahlt.
Hunderte Christen im Nordirak erzählen solche und ähnliche Leidensgeschichten. Doch eigenartigerweise treffen sie im Westen damit auf geringes Interesse. Politiker reden lieber von der allgemein schwierigen Lage angesichts der großen Umwälzungen im Nahen Osten. Selbst eine Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International tut sich schwer damit, zur Lage der orientalischen Christen Stellung zu nehmen. Fast könnte man meinen, ihre Not beim Namen zu nennen, verstoße gegen die Gebote politisch korrekten Verhaltens im Westen. Der Schriftsteller Martin Mosebach, ein Kenner des orientalischen Christentums, sucht nach einer Erklärung dafür:
"Die Christen haben in der öffentlichen Meinung des Westens schlechte Karten. Sie werden gesehen, in der Geschichte, als Kreuzzügler, als Reaktionäre, als im Inneren repressiv, als eine überwundene Kulturstufe. Christen haben wenig Chancen, als Opfer dazustehen, sie werden allenfalls achselzuckend als Kollateralschäden wahrgenommen in einer insgesamt so erfreulichen Entwicklung wie dem Aufstand der arabischen Gesellschaften gegen ihre Diktatoren. Da muss man diesen kleinen Schönheitsfehler, dass die Christen dabei ihre Existenz verlieren werden, einfach hinnehmen."
Gottesdienst im Kloster der Heiligen Jungfrau von den Ähren in Alqosh. Auch dieser Ort liegt im kurdisch kontrollierten Teil des Irak, im Norden, wo die vertriebenen Christen ihr Rückzugsgebiet haben. Fünf Mönche eilen in sich gekehrt zur Kapelle. Es ist still und friedlich, im Klosterhof wachsen Olivenbäume, blühen Rosensträucher und Astern. Die Mönche, die hier leben, wissen sich in der Tradition einer uralten Gemeinschaft, die vor 1500 Jahren eines der ältesten Klöster der Christenheit gründete: Rabban Hormizd, eingehauen in die baumlose Felslandschaft hinter Alqosh, einer der Patriarchensitze der chaldäischen Kirche. Mit seiner Bibliothek, seinen Gelehrten, seinen Eremiten war Rabban Hormizd eines der wichtigsten Klöster der Kirche des Ostens. Als das Felsenkloster im 19. Jahrhundert nicht mehr zu halten war, wurde es aufgegeben und durch das Kloster der Heiligen Jungfrau von den Ähren ersetzt.
Die Mönche beten auf Syrisch, in einem aramäischen Dialekt, eng mit der Sprache Jesu verwandt. In den Bankreihen der Klosterkirche sammelt sich die kleine Gemeinde Alqoshs, rechts die Männer, links die Frauen, die Haare mit weißen Spitzentüchlein bedeckt. Die Mönche rezitieren ihre liturgischen Texte aus schweren, ledergebunden Büchern. Die Seiten sind vergilbt, die Schrift ist verblasst. In Europa würde man so etwas in Museumsvitrinen konservieren. Im Kloster Alqosh sind es Gegenstände des täglichen Gebrauchs:
"Alles was in die Zeit fällt, in der das Christentum sich formiert, hat in diesen Regionen stattgefunden. Also das war genuin christliches Land. Und die Christen, die dort leben, sind nun wirklich die eigentlichen Erben dieses Landes. Dies ist ihr eigenes Land. Sie sind dort nicht durch koloniale Entwicklung hingelangt, sie sind nicht Restbestände abgezogener Kolonisatoren, sondern sie sind die, die aus der ersten Phase des Christentums stammen und dort auch die Traditionen des Christentums bewahrt haben."
Jetzt sind wir im Stadtgebiet von Mosul, sagt Vater Gabriel. Und ich sehe durch die Frontscheibe hindurch auf verwahrlosten Straßen, all das militärische Gerät und die Gestalten einer nahöstlichen Bürgerkriegsszenerie: Verhüllte Männer mit Kalaschnikows über den Schultern, Sandsäcke, Stacheldraht, herumlungernde Kinder und an den Kreuzungen Hummer-Geländewagen mit aufgeschweißten Maschinengewehren. Die Hummer stammen noch aus der Zeit von David Petraeus, dem US-General, der es bis zum CIA-Chef brachte, nur um am Ende über eine Liebesaffäre zu stürzen.
Seine Karriere begann 2003 mit der Eroberung Mosuls. Mit 18.000 Soldaten zog er in die Stadt ein, um sich dort vor allem als militärischer Aufbauhelfer zu präsentieren. Petraeus förderte zivile Projekte, Schulen, Universitäten. Die Stadt war so sicher, dass er jeden Morgen um den ehemaligen Palast Saddam Husseins joggen konnte. Mosul galt als Vorzeigemodell für eine gelungene nahöstliche Interventionsstrategie. Sie war es aber nicht lange. Als die US-Truppen im Jahr 2008 aus Mosul abzogen, übernahmen die Islamisten. Mosul wurde zur gefährlichsten Stadt im Irak. Und sie ist es noch immer.
Fahren wir lieber hier runter, sagt Vater Gabriel, weil mit einem Mal vor uns nichts mehr geht. Bewaffnete mit ausrasierten Bärten und knöchellangen Gewändern stehen mitten auf der Straße und schauen in jedes Auto hinein, das im Schritttempo an ihnen vorbei muss. Wir wollen umdrehen. Aber da klopft schon einer gegen die Scheibe, und nun wirkt auch Vater Gabriel etwas nervös. Red jetzt kein Wort, sagt er, öffnet einen Spalt und ruft nach draußen: Wie geht's hier zur Sadekstraße?
Da lang, bekommt er zur Antwort. Siehst Du, sagt er beim Weiterfahren, Du darfst ihnen nur nicht in die Augen schauen. Ein paar Straßenecken weiter wohnt die Familie, die wir besuchen. Das Haus liegt in einer Gasse und ist wie die meisten irakischen Häuser von einer mannshohen Mauer umgeben, davor ein blaues, massives Eisentor.
Facile, sei das gewesen, einfach – sagt Vater Gabriel auf italienisch.
Im Herbst 2007 begannen radikale Islamisten in Mosul damit, die sogenannte Jizya einzutreiben – eine Kopfsteuer aus der Anfangszeit des Islam. Als die muslimischen Eroberer im siebten Jahrhundert Palästina, Syrien, den Irak und das sassanidische Perserreich unterwarfen, stellten sie die dort lebenden Christen vor die Wahl: entweder zum Islam zu konvertieren oder Jizya zu zahlen. Wer die Kopfsteuer zahlte, durfte weiterhin seine Religion ausüben, musste aber die Kriegsführung der muslimischen Eroberer mitfinanzieren. Diese 1400 Jahre alte Regel wurde 2007 von irakischen Islamisten auf ihre Weise interpretiert. In Mosul und in Bagdads Christenviertel Dora begannen sunnitische Milizionäre damit, von jeder christlichen Familie 190 Dollar Kopfgeld einzutreiben. Wer nicht zahlte, musste verschwinden und sein Haus den islamistischen Moscheen überlassen.
Mosuls Muezzine rufen zum Mittagsgebet. Vor einigen Jahren hatten hier auch noch Glocken geläutet. 40 Kirchen und ein Priesterseminar gab es in dieser Stadt. Die meisten stehen heute leer oder wurden zerstört.
"Die Zukunft ist schwarz, sie wird im Irak mit jedem Tag schwärzer. Die Leute werden immer rückständiger. Angst ist das einzige, was wir hier haben. Was sollen wir an Weihnachten machen? Wir werden zum Markt rennen, schnell irgendwas einkaufen, und wieder zurück nach Hause laufen. Ich will hier nur noch raus. Nach Europa zu meinem Mann. Man hat uns aufgegeben. Wir sind keine Bürger mehr. Wir sind Fremde, Ausgestoßene."
Scapiamo, sagt Vater Gabriel, verschwinden wir.