Epecuén in der argentinischen Pampa

In einer Salzlake versteinert

Die argentinische Stadt Epecuén wurde 1985 von Salzwasser überflutet.
Die argentinische Stadt Epecuén wurde 1985 von Salzwasser überflutet. © JUAN MABROMATA / AFP
Von Anne Herrberg (ARD Buenos Aires) |
Vor 30 Jahren versank Epecuén in den Fluten: Starke Regenfälle hatten die Dämme brechen lassen, die Stadt wurde aufgegeben. Nach einer Trockenperiode ist die Stadt in der argentinischen Pampa wieder aufgetaucht - und nun Touristenattraktion.
Norma Berg: "Sieht aus wie nach einem Tsunami hier, oder? Oder wie nach einem Bombenangriff. Es war das Wasser. 25 Jahre lang lag das alles hier unter Wasser."
Norma Berg steht auf dem oberen Absatz einer Treppe, die im Nichts endet. Wie eine Aussichtsplattform ragt sie aus einer bizarren, von Salz und Wasser zerfressenen Ruinenlandschaft. Straßenzüge voller Schutt, dazwischen abgestorbene Baumstämme, verkrustet, weiß wie Gerippe recken sie sich in den endlosen Himmel der argentinischen Pampa, 550 Kilometer südlich von Buenos Aires.
Dort war der Tanzsalon BimBamBum, weiter rechts die Pizzaria Gallina Verde... in ihrer Erinnerung sieht Norma die Stadt, die nicht mehr existiert. Als sie 20 Jahre alt war, gehörten die zerfallenen Treppenstufen, auf denen sie jetzt steht, noch zu einem prächtigen Grandhotel. Einem von 250 im mondänen Kurort Villa Epecuén. 1922 war er gegründet worden, direkt an den Ufern der gleichnamigen Lagune.
"Die Lagune von Epecuén ist wie das Tote Meer, sie hat den gleichen Salzgehalt, weil sie auf einer Saline liegt. Deswegen machte hier am Anfang vor allem die jüdische Gemeinde Argentiniens Urlaub, weil es wie ihr Totes Meer war."
Und weil sie sich vom mineralhaltigen Wasser Linderung bei Rheuma, Arthritis oder Schuppenflechte versprachen – ein Geheimtipp im tiefen Süden der argentinischen Pampa.
Das San Tropez der Pampa
Er hat die Anfangsjahre miterlebt. Pablo Novak, mit 85 Jahren fährt er noch immer Fahrrad – durch sein Epecuén. Noch immer lebt er an der Verbindungsstraße vom Bahnhof zum Zentrum. Heute fährt hier kein Zug mehr, die Gleise sind von Gras überwuchert, nur Pablo hält die Stellung.
"Ich bin hier geboren, und es ging mir immer gut hier. Solange ich noch laufen kann, bekommt mich auch niemand weg. Und wie ich hier geboren wurden, möchte ich am liebsten auch hier sterben an meinem Ort."
Als kleiner Junge sah er Epecuén aufblühen – als junger Mann fand er hier Frau und Arbeit. Argentinien wurde ab den 1940er-Jahren zur Kornkammer der Welt, es gab Geld, und Epecuén wurde zum San Tropez der Pampa. Drei Zuglinien führten aus der Hauptstadt Buenos Aires in den Ferienort.
"Die Hotelzimmer haben nie ausgereicht während der Saison, auch die Campingplätze waren ausgebucht, ich habe den Leuten dort Essen verkauft, Hühnchen, Milch, Lammfleisch. Das hier war berühmt. In der Hochsaison kamen pro Tag elf Zugwaggons mit Touristen an. Und wir halfen ihnen mit den Koffern, weil es gab ja keine Taxis."
Ab den 60er-Jahren konnte sich der Ferienort gar nicht mehr retten vor Gästen. Damals wurde Norma Berg geboren – hinein in ein florierendes Urlaubsparadies voller Tanzcafés und Zuckerwatte.
Das Schwimmbad war nachts beleuchtet, erzählt sie und blickt verträumt auf zersprungene Betonplatten und Rutschbahnen – stumme Zeugen einer Katastrophe, die hätte verhindert werden können.
Als die Dämme brachen
"Hier gibt es extreme Dürreperioden und Regenzeiten. In den 60er Jahren litten wir unter Dürre. Da forderten alle von der Provinzregierung, dass sie die Lagune über einen künstlichen Kanal mit frischem Wasser versorgen sollte. Dazu kam es aber erst Ende der 70er-Jahre. Doch da begann bereits eine extreme Regenzeit. Aber anstatt den Kanal jetzt zu schließen, haben sie nichts gemacht. In Epecuén begannen die Ersten zu sagen: Das hält der Damm nicht aus, wir gehen irgendwann unter. Aber du willst das nicht glauben, sagst dir, das lassen sie nicht zu, aber es kam genauso."
Am 10. November 1985, vor 30 Jahren, bricht der Schutzdamm um Villa Epecuén - in 20 Tagen steigt das Wasser um acht Meter, die Lagune verschluckt die Stadt. 1500 Einwohner flüchten in den Nachbarort Carhue, auch Mirta Stössel.
Sie breitet eine Karte aus: Darauf zu sehen: ein System aus insgesamt sechs Lagunen, die auf natürliche Weise miteinander verbunden sind. Epecuén ist das letzte Glied in dieser Seenkette.
"Sie haben alles Wasser der Lagunen, die oberhalb liegen, zu uns geleitet. Das war eine politische Entscheidung. Es ist nicht einfach zu uns gekommen, sie haben die Schleusen und Dämme oberhalb gesprengt."
Warum? Das hat sich Mirta oft gefragt, Schlendrian, vermutet sie, oder Korruption. Sie zuckt mit den Schultern. Bis heute kehrt sie nur ungern in die Ruinen zurück.
"Die Erinnerung schmerzt. Ich hatte damals mit meinem Mann alles in ein Hotel investiert, es war wunderschön. Gerade als wir die Schulden abbezahlt hatten, und noch bevor die neue Urlaubssaison angefangen hatte, kam die Überschwemmung. Von einem Tag auf den anderen standen wir vor dem Nichts."
Vom Staat erhielt sie erst vier Jahre später eine kleine Entschädigung – nur rund fünf Hoteliers verklagten die Provinzregierung und erhielten 15 Jahre später Recht und eine Wiedergutmachung im fünfstelligen Bereich. Für Mirta kam das zu spät.
"Natürlich. Wie sollte ich damals klagen, ich hatte ja nichts mehr. Ich konnte nicht zehn, 15 Jahre warten. Wie die meisten nahm auch ich, was sie uns damals anboten."
Touristenattraktion Geisterstadt
Heute, 30 Jahre später, führt Mirta wieder ein kleines Hotel – in Carhue, acht Kilometer von Epecuén entfernt. Denn der Tourismus kommt langsam wieder in Schwung, paradoxerweise aufgrund der Katastrophe von Epecuén. Vor fünf Jahren brach wieder eine Trockenperiode an, die Lagune schrumpfte und gab das versunkene Atlantis der Pampa frei. Heute lockt es Fotografen, Filmemacher und auch Kurgäste an – sie sind fasziniert von dieser bizarren Ruinenlandschaft voller Relikte von damals.
Eine alte Badewanne, das verrostete Fahrgestell eines Autos, eine Klobrille, was damals so zurückgelassen wurde. Norma führt die Touristen durch ihre Geisterstadt.
"Als ich meine Ausbildung zur Fremdenführerin angefangen habe, mit 20 Jahren, hätte ich nie gedacht, dass ich irgendwann Touristen durch die Ruinen meiner eigenen Stadt führen und von deren Tragödie erzählen würde."