"Er hat eine enorme Aktualität"

Wolfgang Bergmann im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Verhaltensforscher Harry Harlow habe all das, was heute über die Bedeutung der Mutterliebe für die Entfaltung des kindlichen Geistes und der kindlichen Seele bekannt ist, bereits in seinen Affenexperimenten belegt, sagt der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann.
Joachim Scholl: Kann Mutterliebe Sünde sein? Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galten Zärtlichkeit, Berührung, das An-sich-Schmiegen in der Kindererziehung als schädlich. Dagegen Front machte der Amerikaner Harry Harlow, Psychologe und Verhaltensforscher mit durchaus umstrittenen Tierexperimenten an kleinen Äffchen und ihren Müttern. Harry Harlow starb 1981, jetzt gibt es eine Biografie über ihn geschrieben von der Pulitzerpreisträgerin Deborah Blum. Wir wollen nun an diesen Wissenschaftler erinnern mit Wolfgang Bergmann. Er ist einer der bekanntesten deutschen Kinderpsychologen und hat das Vorwort zum Buch beigesteuert. Willkommen im "Radiofeuilleton", Herr Bergmann!

Wolfgang Bergmann: Hallo!

Scholl: Es ist ja heute kaum noch vorstellbar, dass man einer Mutter pädagogisch davon abrät, ihr Kind zu herzen und zu kosen. Es war aber über Epochen hinweg anscheinend gängige Lehrmeinung. Mit welcher Begründung denn eigentlich?

Bergmann: Ja, über Epochen, die noch gar nicht so lange zurückliegen und auch immer wieder in die pädagogische Debatte aufkommen. Im Augenblick haben wir es ja auch wieder auf jeder pädagogischen Tagung, jedem Ratgeber: Die Kinder brauchen Konsequenz, die Kinder brauchen Strafe, sonst werden sie Tyrannen! Diese Idee, dass die Liebe das Fundament der kindlichen Intelligenz, des kindlichen Mitgefühls und des kindlichen Glücks ist und damit auch das Glück der Eltern, das setzt sich immer wieder nur mühsam durch und erleidet dann auch wieder Rückschläge. Harry Harlow ist nun insofern ein besonderer Mensch gewesen in der Wissenschaftsgeschichte, insofern dieses Buch wirklich von ungeheurer Bedeutung, weil er fast vergessen war. Auch Leute, die sich richtig gut auskennen mit Bindungsforschung, hatten Harry Harlow sozusagen gar nicht mehr richtig auf dem Schirm. Aber er hat all das, was wir heute über die Bedeutung der Mutterliebe für die Entfaltung des kindlichen Geistes und der kindlichen Seele wissen, bereits in seinen vielfältigen Experimenten sozusagen unabweisbar belegt und das ist ein enormer Gewinn. Insofern Glückwunsch an diesen Verlag, dass er sich getraut hat, das rauszubringen.

Scholl: Was waren das denn für Experimente, die Harry Harlow gemacht hat?

Bergmann: Die wichtigsten Experimente werden hier unter dem Titel "Die Entdeckung der Mutterliebe" formuliert. Das heißt, er hat kleinen Rhesusaffen, die dem kleinen Kind am ähnlichsten sind, er hat ihnen eine Stoffmutter zur Verfügung gestellt anhand der realen Mutter. Diese Stoffmutter nun tat all das, was eine gute Mutter machte: Sie strafte nicht, sie versorgte, sie wärmte, sie fütterte. Und damals war bis rein in die Konditionierungspsychologie – Skinner und so weiter, das prägt die psychologische Forschung bis heute – galt die These, wenn das Kind Fürsorge bekommt – Fürsorge im Sinne von: Es wird gewärmt, es wird genährt, es bekommt ein bisschen Ruhe –, dann wird das Kind sich entfalten.

Und Harry Harlow hat gezeigt, nein, das ist falsch, das Entscheidende fehlt noch, das Entscheidende ist die Bindung des Kindes an die Mutter. Und diese Stoffmütter, das war dann der zweite Schritt, das war zu wenig, weil die Stoffmutter hatte kein Gesicht. Das hat Harry Harlow dann formuliert: Mütter haben ein Gesicht. Das Kind, also das Affenkind suchte nach den Augen der Mutter, um sich in diesen Augen zu spiegeln und seine eigenen Gefühle in ihnen bestätigt zu bekommen aus der Interaktion, der Feinfühligkeit, der Liebe eben. Zwischen Mutter und Kind entfaltet sich erst das kindliche Wohlwollen und das kindliche Wohlgefühl.

Scholl: Man muss ein Herz brechen, um zu verstehen, wie es liebt, hat Harry Harlow einmal formuliert. Das klingt ziemlich grausam und seine Experimente waren auch nicht so ganz so friedlich, wie Sie es jetzt schildern, Wolfgang Bergmann. Es gab ja schon damals viel Kritik daran.

Bergmann: Das stimmt. Harry Harlow war ganz offensichtlich ein höchst zerrissener, zwiespältiger, aber auch extrem widerspenstiger, nebenbei sehr witziger Mann. Nein, seine frühesten Experimente waren noch ganz in der Tradition der Tierexperimente. Die Tiere waren Objekte, die man sozusagen verobjektivieren wollte auf diese oder jene Erkenntnis hin. Erst ganz allmählich gewann Harry Harlow Einblick, mit seinem Team Einblick darin, dass diese Tiere dieselbe Liebesbindung, dieselbe Fähigkeit, dieselbe Empathie, also die Seelenähnlichkeit mit Menschen haben. Da veränderten sich auch die Grausamkeiten seiner Experimente. Er hat kleine Affen abgesperrt von den Müttern, er hat dann genau notiert, wie das Wissenschaftler machen, wie oft sie gegen die Glaswand springen, um zu der Mutter zu kommen. Aber je mehr er verstand, desto genauer und feinfühliger wurden seine Experimente. Zum Schluss war er vielleicht der größte Pionier der Psychologiegeschichte des letzten Jahrhunderts.

Scholl: Die Entdeckung der Mutterliebe, hier im "Radiofeuilleton" unterhalten wir uns mit dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann über den amerikanischen Wissenschaftler, ja und Pionier mütterlicher Zärtlichkeit, Harry Harlow. Herr Bergmann, wie hat denn die Kollegenschaft damals auf Harlows Experimente und seine Schlussfolgerungen reagiert?

Bergmann: Na ja, sehr ambivalent. Zunächst einmal so, wie das heute auch noch ist, gehen Sie mal auf einen pädagogischen oder psychologischen Kongress und nehmen Sie das Wort Mutterliebe in den Mund. Also Sie können gern obszöne Worte sagen, bei Mutterliebe erstarren plötzlich die Gesichter, da hat sich gar nicht so viel geändert. Nur dass eben die Bindungsforschung heute akzeptiert ist, dass man heute weiß, ein Kind muss geliebt werden. Aber diese Diktion, die er plötzlich hatte, dieser, diese Emphase der Liebe, diese Rhetorik der Liebe – er spricht von der Realität der Liebe in Biologie und Psychologie –, da erstarrten die wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit. Er war ein Außenseiter, er wurde auch in Wisconsin University in irgend so einem kleinen Schuppen anfangs abgedrängt, bis er über seine Veröffentlichung eine immer breitere Öffentlichkeit erreichte und dann tatsächlich aufstieg mit seinem unbezwingbaren Willen offensichtlich – ich hätte den ja nicht; der Mann ließ sich einfach nicht einschüchtern, folgte seinen Erkenntnissen, bis sie unabweisbar wurden, hantierte übrigens auch ganz geschickt mit Medien, mit dem Fernsehen damals schon und wurde zum Schluss dann sogar Präsident der amerikanischen Psychiatrie Assoziation, das war dann der Höhepunkt. Danach allerdings stürzte er auch wieder ab.

Scholl: Ja, genau deshalb ist es ja eigentlich paradox. Ja, also einem Wissenschaftler, der für einen Menschen so Grundsätzliches herausfindet, denkt man, ihm würde die Nachwelt laufend Kränze flechten, Schulen nach ihm benennen und so fort. Das Gegenteil geschah, Harry Harlow wurde gründlich vergessen. Wie das?

Bergmann: Das ist so. Ja, das ist so, weil er entgegen dem allerersten Anschein wirklich bis heute fast nicht in die Zeit passt. Also dass die ganz großen Theoretiker und Forscher zunächst einmal ausgegliedert werden aus der universitär-wissenschaftlichen Gemeinschaft, das ging Freud auch so. Freud wurde verlacht, er wurde verspottet, aber später gewann er dann einen enormen Ruhm. Bei Harlow war das nicht so. Das eine war, er fand dann ganz wichtige Nachfolger und insofern hielt sich seine Botschaft. Da sind eben Namen wie Bowlby, die ganze Bindungsforschung, ich will die Namen jetzt nicht aufzählen, eine ganze Reihe von wissenschaftlicher Forschung schloss sich ganz allmählich an – der berühmte Professor Lorenz da mit seinen Graugänsen, die dann ja auch in die populären Medien eindrangen. Insofern war Harlow sozusagen ein Pionier und Pioniere vergisst man leicht, weil man sich immer auf die neuesten Ergebnisse stürzt. Das andere war aber, er hatte eine solche Klarheit, eine solche Härte, fast Unerbittlichkeit, darin seine eigenen Thesen zu überprüfen und, wenn er sie für richtig fand, auch darzustellen, teilweise sehr provozierend, und da drückt man sich gern rum und sucht irgendjemanden, der das alles ein bisschen weicher, ein bisschen freundlicher, ein bisschen versöhnlicher und mehr mit Zahlen und Statistiken belegt. Harry Harlow ist allerdings insofern auch ein Phänomen, dass er mehr vergessen werden konnte als auch – ich hab mir die Augen gerieben, als ich dieses Buch las, und habe gedacht, Herrgott noch mal, wieso hab ich das denn alles nicht gewusst?

Scholl: Nun könnte man sagen, Herr Bergmann, tempi passati, die dunklen Zeiten fehlender Mutterliebe sind vorbei. Hat dieses Buch über Harry Harlow denn, ja, so jenseits der historischen Wiedergutmachung vielleicht noch eine pädagogische Aktualität? Sie sprachen vorne, eingangs unseres Gespräches schon so etwas an.

Bergmann: Ja, er hat eine enorme Aktualität. Das eine ist, wir haben zurzeit einen kalten Wind mindestens in der wissenschaftlich und publizistischen Erziehungslandschaft, in der politischen auch, wir haben eine sehr schwierige Diskussion über Kinderkrippen ... Ich will die gar nicht aufgreifen, aber in all diese Bereiche hat Harry Harlow mit enormer Präzision hineingeforscht, präziser eigentlich als seine berühmteren Nachfolger. Er sagt beispielsweise zum einen, ja, ein Kind braucht die Mutter, das Anschauen, die Feinfühligkeit, den Kontakt, so lernt es sich selber kennen. Kinder lernen ihre Gefühle erst – bei Rhesusaffen ist es ziemlich schnurz, welche Gene sie haben, sondern wie sie Liebe lernen. Das macht ihren Erfolg aus, ihr Glück aus und auch ihre Intelligenz, das ist das eine. Das andere aber auch, dass er sagte, nur die Mutter, das ist zu wenig. Ein Kind braucht eine belebende Umgebung, es braucht eine lebendige Vielfalt. Die modernen Kleinfamilien, diese Kleinstfamilien, die stellen das oft den Kindern nicht zur Verfügung und die Kindergärten oft auch nicht. So, da sticht er in ein Wespennest und wir wissen das alle eigentlich seit Langem, aber hier wird das noch mal ganz klar formuliert. Erziehung ist etwas sehr Schwieriges, nur Mutter reicht nicht; fehlt aber die Mutter, dann fehlt alles. Die Liebe ist immer der Ausgangspunkt, eigentlich ein Satz, der an der Quelle der abendländischen Geschichte, bei Jesus und Paulus steht, aber Harry Harlow hat es so genau und so präzis und so eindrucksvoll beschrieben. Mitunter, mir jedenfalls ging es so, standen mir Tränen in den Augen.

Scholl: Harry Harlow, ihm gebührt der Lorbeer für die "Entdeckung der Mutterliebe". So heißt die Biografie über den amerikanischen Psychologen, verfasst von Deborah Blum. Das Buch ist im BELTZ-Verlag erschienen und kostet 24,95 Euro. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe stammt von dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann. Herr Bergmann, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Bergmann: Gern!