"Er hat von einem dritten Weg geträumt"
Nach Einschätzung des Autors Stephan Krawczyk gab es in der DDR nur sehr wenige, die so konsequent den eigenen Weg verfolgt haben wie der Autor Stefan Heym. Leitmotiv für sein Handeln und seine Publizistik sei immer der Gedanke der Gerechtigkeit gewesen.
Ulrike Timm: Heute wäre der Schriftsteller Stefan Heym 100 Jahre alt geworden, und sein Leben war im Grunde selbst schon Romanstoff: Vor den Nazis aus Deutschland geflohen, wurde er Offizier der US-Army, aber als man ihn nach dem Krieg wegen seiner Sympathien für den Kommunismus drangsalierte, kam Heym sein Offizierspatent zurück und ging in die DDR. Dort wurde er als Heimgekehrter, als antifaschistischer Immigrant privilegiert behandelt, kam aber ganz schnell mit der Staatsmacht in Konflikt. Seine bekanntesten Bücher, "5 Tage im Juni" oder "Collin", die erschienen in Westdeutschland. Im hohen Alter machte Stefan Heym noch als Politiker von sich reden, als er für die SED-Nachfolgepartei PDS kandidierte und als Alterspräsident den Bundestag eröffnete. Seine wohl meistgehörte und in vielen Formulierungen sprichwörtlich gewordene Rede aber, die hielt Stefan Heym am 4. November 1989 bei der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz im damaligen Ostberlin.
Stefan Heym: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief. Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. (Ausschnitt aus dem Mitschnit der Rede Stefan Heyms am 4. November 1989)
Timm: Der Schriftsteller Stefan Heym, heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Wir wollen an ihn im Gespräch mit dem Autor, Komponisten und Sänger Stephan Krawczyk erinnern, Stephan Krawczyk, der selbst erst ein Lieblingskind der DDR war, dann aber Berufsverbot erhielt und 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, nach derben Quälereien. Schönen guten Morgen, Herr Krawczyk!
Stephan Krawczyk: Guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Stefan Heyms viel zitierte Worte vom aufrechten Gang, die wir eben noch mal gehört haben – da war jemand fünf Tage vor Schluss, fünf Tage vor dem Mauerfall stolz, nicht auf seinen Staat, aber auf seine Leute. Wovon träumte er?
Krawczyk: Ich denke, dass Heym von einem dritten Weg geträumt hat, dass er einen demokratischen Sozialismus wollte, und nicht diesen bürokratischen, den er erlebt hat. Und auf der anderen Seite kannte er aber auch die bürgerliche Ordnung, den Kapitalismus, und das war auch nicht sein Ziel. Ich denke, er hat von einem dritten Weg geträumt.
Timm: Ja, nun hat er aber über Jahrzehnte miterlebt, wie seine Träume von der DDR, ich sage mal, real geschreddert wurden. Warum ließ er trotzdem nicht davon ab? Er sei der Trotz auf Erden, so hieß es in einem Nachruf auf ihn, als er 2001 starb, er sei der Trotz auf Erden.
Krawczyk: Das ist eine schwierige Frage. Wie wird ein Mensch für eine Idee initiiert? Ich weiß zu wenig über seine Kindheit, und er ist natürlich ein Sohn gewesen in einer jüdischen Kaufmannsfamilie, und wieso ist er dann irgendwann so für die sozialistischen Ideen so empfänglich gewesen? Und daran hat er ja sein ganzes Leben über festgehalten. Und warum er dann in der DDR nicht gesehen hat, dass da nichts zu machen ist, und warum er nicht akzeptiert hat, dass der Sozialismus weltweit also über Millionen von Opfern gegangen ist und trotzdem diesen Gedanken bei sich hatte, das hat sicherlich damit zu tun, dass er eben diesen Traum hatte, schon sehr früh gefasst hatte und davon nicht gelassen hatte, und natürlich auch in diesem Leben, das er geführt hat, wie Sie schon sagten, doch recht privilegiert war. Es wäre für ihn wahrscheinlich taktisch auch völlig unklug gewesen, wenn er sich eines Besseren hätte belehren lassen, denn dann hätte er ja seine Position als dieser oppositionelle Schriftsteller in der DDR auch nicht mehr ausüben können.
Timm: Zugleich konnte er ja oft nur im Westen veröffentlichen, zum Beispiel eben sein berühmtes Buch "5 Tage im Juni". Wenn man auf seine Bücher schaut, zum Beispiel der "König David Bericht" Anfang der 70er – da hat er ja die Erfahrungen eines drangsalierten Schriftstellers ja über den Umweg einer biblischen Geschichte in Literatur gefasst. Wäre das weniger wahrgenommen worden, wenn Stefan Heym ausgereist wäre? Er hätte es ja anders als andere jederzeit gekonnt.
Krawczyk: Ja, das ist natürlich die Frage, wie weit seine Literatur in der Bundesrepublik dann eine ähnliche Rolle gespielt hätte. Er ist sicherlich aufgrund seiner Besonderheit auch als amerikanischer Staatsbürger ja gar nicht so beengt gewesen innerhalb der DDR, und in dem Sinne ist es für ihn vielleicht auch gar nicht so schwierig gewesen, dieses, sagen wir mal, ideologische Steckenpferd weiter zu reiten, weil er ja unter diesen ganzen Dingen, die dann das System gegen den Einzelnen richten konnte, ja nicht so gelitten hat. Und er war natürlich auch ein Schriftsteller mit sehr hohem Selbstbewusstsein. Also gerade das Buch über den 17. Juni, was ja unter einem Tag X in der DDR erscheinen sollte – da hat er ja auch damit gehadert: Wenn das nicht rechtzeitig erscheint, dann wird Günter Grass sich diesem Thema widmen. Und da gibt es ja diesen Ausspruch von ihm: Ja, das wird in der DDR wohl erst erscheinen, wenn Gras drüber gewachsen ist, aber das wird dann Grass schon gefressen haben. Also er hat natürlich auch versucht, eine Position innerhalb dieser deutschen Schriftstellerei zu verteidigen und zu erobern, und das war von DDR-Grund und -Boden aus weit leichter als von bundesrepublikanischem.
Timm: Wenn man sich die Schriftsteller in der DDR mal anschaut, dann hat ja zum Beispiel Christa Wolf auch eine Bedeutung als Kummerkasten, als Ratgeberin, die war mal bewundert oder auch mal despektierlich, so was wie "unsere Christa". "Unser Stefan" gab es aber nicht. War Heym dafür als Person einfach zu komplex, zu vielgestaltig?
Krawczyk: Also komplex war er sicher, vielgestaltig war er auch, und ich denke, er war auch, und ich denke, er war auch jemand, der sich diese Maske im positiven Sinne damals im Exil 1933, als er nach Prag gegangen ist und sich den Namen Stefan Heym gegeben hat, ich denke, dass das für ihn auch ein Schutz gewesen ist, den er nicht vor sich hergetragen hat, aber mit dem er nicht ganz identisch war, also wo es gewissermaßen einen Bruch gab auch in der eigenen Identität und in dieser Identität, mit der er nach außen getreten ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass einem das beim Lavieren und Taktieren innerhalb so eines doch so aufsehenerregenden Lebens eine gute Hilfe ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Stephan Krawczyk über den Schriftsteller Stefan Heym, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Man liest in ganz vielen Texten aus den 1990ern, Stefan Heym sei so etwas wie der Fürsprecher der Ostdeutschen im wiedervereinigten Land gewesen. Kann man das wirklich so sagen? Wollten sich wirklich tatsächlich die Ostdeutschen von ihm vertreten lassen?
Krawczyk: Also das kann ich nicht sagen, weil: Damals war ich ja nun auch schon seit einiger Zeit im Westen gewesen, und ich hatte ein bisschen das Gefühl dafür verloren, was die Identität der Ostdeutschen überhaupt noch ist. Ob das Stefan Heym dann so gemacht hat, diese Identität vertreten – also es war immer noch ein amerikanischer Staatsbürger. Es ist schwer, das so zu sagen. Es gab halt Wenige, die so konsequent diesen eigenen Weg verfolgt haben wie Stefan Heym, denn der Gedanke der Gerechtigkeit steht für ihn immer im Mittelpunkt. Also er hat ja damals die Offizierswürden zurückgegeben, als der Koreakrieg anfing, er ist aus dem Bundestag wieder ausgetreten, als die Diäten erhöht wurden und so weiter, es gab immer einen Grund, wo die Motivation eben dieses Gefühl für Gerechtigkeit ist. Und in der Hinsicht fühle ich mich eigentlich auch mit ihm verbunden.
Timm: Lassen Sie uns noch mal darüber reden, wie er in den Bundestag gekommen ist. 1994 hat Stefan Heym als Parteiloser für die SED-Nachfolgepartei PDS für den Bundestag kandidiert. Diese letzte Häutung haben viele nicht verstanden. Sie haben ihn damals unterstützt. Warum, und würden Sie das im Nachhinein noch mal machen?
Krawczyk: Na, das ist schwer zu sagen, weil sich im Nachhinein die Gelegenheit dazu ja nicht mehr bietet. Aber damals war das für mich ein Hauptgrund: Also das aufrechte Vertreten dieses Gedankens, dass man nicht so über die Menschenseelen herfallen kann, wie das in der modernen Welt gemacht wird, das war sicherlich für ihn ein Grund, diese Kandidatur anzunehmen und ist auch für mich immer ein Grund gewesen für mein künstlerisches Schaffen. Dann war es für mich natürlich auch eine Befriedigung, dass mich die Partei gefragt hat, also die Nachfolgepartei jener Partei, die mich damals mit einem Berufsverbot belegt hat, und …
Timm: Echt, das war eine Befriedigung?
Krawczyk: Ja, das war in gewisser Weise schon eine Befriedigung. Du wirst von denen gefragt, die dich vorher ins Gefängnis gebracht haben, und dann fragen sie dich, ob sie dich fürstlich bezahlen können zu einer Veranstaltung für eben diese Wahl.
Timm: Aber das Wort aufrecht fällt so oft, Herr Krawczyk – muss man nicht schlicht auch oder musste man 1994 nicht schlicht auch akzeptieren, dass ein demokratischer Sozialismus, und wenn man noch so träumt, dass der keine Mehrheit fand, und dann auch nachgeben, also bitte schön: Ihr seid das Volk?
Krawczyk: Ja, ja, natürlich. Also das sagte ich ja schon. Also wann Heym für diesen Traum initiiert wurde, kann ich nicht sagen. Dass er sein ganzes Leben daran festgehalten hat, war klug von ihm. Und es gab eben verschiedene Berührungspunkte, wo ich auch in meiner Biografie natürlich – aber da war ich 17, 18, 19 Jahre eben – von einem besseren Sozialismus geträumt habe. Ich habe ja dann genügend Erfahrungen gemacht, dass das nicht möglich ist. Na, es ist ganz eine schwierige Sache. Also ich meine, Heym hat ja zum Beispiel auch … in dem "Deutschen Volksecho" in New York hat er ja die Moskauer Prozesse verteidigt. Also inwieweit ist er dann, der ja selbst Erfahrungen gemacht hat, … in seiner Familie sind Menschen umgekommen im Holocaust, sein Vater hat sich 35 umgebracht – und dann ist er selbst dafür eingetreten, dass diese Prozesse, die Moskauer Prozesse richtig sind. Also da gibt es ja auch sehr viele Dinge, über die wir viel länger reden müssten. Aber wie gesagt, er war für mich ein großer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und dieser Schritt, dass er noch mal in die Politik, in die große Öffentlichkeit gehen wollte, ist vielleicht auch zum Teil seiner Eitelkeit geschuldet.
Timm: Er ist 2001 gestorben, in Israel, wohin er für ein Symposium über seinen literarischen Leitstern Heinrich Heine gereist war. Ist am Ende seines Lebens Stefan Heym noch mal ganz zu sich selbst gekommen?
Krawczyk: Ich weiß auch gar nicht, inwieweit er so religiös gewesen ist, so religiös gelebt hat, also nach Jerusalem und dort dann den Geist aufzugeben, ist vielleicht schon so wie ein Finish innerhalb dieses Kreislaufs seines Lebens. Und Heine hat ihn das ganze Leben begleitet natürlich, und ich könnte mir vorstellen, dass er in Ruhe gestorben ist, also nach einem erfüllten Leben. Mehr konnte er nicht erreichen.
Timm: Stephan Krawczyk über den Schriftsteller Stefan Heym, eine schillernde Persönlichkeit vor allem der früheren DDR. Herr Krawczyk, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Krawczyk: Bitte schön!
Timm: Stefan Heym wäre heute 100 Jahre alt geworden. Trotzdem sind noch neue Bücher von ihm und über ihn erschienen, die hören Sie um halb zwölf.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Stefan Heym: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief. Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. (Ausschnitt aus dem Mitschnit der Rede Stefan Heyms am 4. November 1989)
Timm: Der Schriftsteller Stefan Heym, heute wäre er 100 Jahre alt geworden. Wir wollen an ihn im Gespräch mit dem Autor, Komponisten und Sänger Stephan Krawczyk erinnern, Stephan Krawczyk, der selbst erst ein Lieblingskind der DDR war, dann aber Berufsverbot erhielt und 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, nach derben Quälereien. Schönen guten Morgen, Herr Krawczyk!
Stephan Krawczyk: Guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Stefan Heyms viel zitierte Worte vom aufrechten Gang, die wir eben noch mal gehört haben – da war jemand fünf Tage vor Schluss, fünf Tage vor dem Mauerfall stolz, nicht auf seinen Staat, aber auf seine Leute. Wovon träumte er?
Krawczyk: Ich denke, dass Heym von einem dritten Weg geträumt hat, dass er einen demokratischen Sozialismus wollte, und nicht diesen bürokratischen, den er erlebt hat. Und auf der anderen Seite kannte er aber auch die bürgerliche Ordnung, den Kapitalismus, und das war auch nicht sein Ziel. Ich denke, er hat von einem dritten Weg geträumt.
Timm: Ja, nun hat er aber über Jahrzehnte miterlebt, wie seine Träume von der DDR, ich sage mal, real geschreddert wurden. Warum ließ er trotzdem nicht davon ab? Er sei der Trotz auf Erden, so hieß es in einem Nachruf auf ihn, als er 2001 starb, er sei der Trotz auf Erden.
Krawczyk: Das ist eine schwierige Frage. Wie wird ein Mensch für eine Idee initiiert? Ich weiß zu wenig über seine Kindheit, und er ist natürlich ein Sohn gewesen in einer jüdischen Kaufmannsfamilie, und wieso ist er dann irgendwann so für die sozialistischen Ideen so empfänglich gewesen? Und daran hat er ja sein ganzes Leben über festgehalten. Und warum er dann in der DDR nicht gesehen hat, dass da nichts zu machen ist, und warum er nicht akzeptiert hat, dass der Sozialismus weltweit also über Millionen von Opfern gegangen ist und trotzdem diesen Gedanken bei sich hatte, das hat sicherlich damit zu tun, dass er eben diesen Traum hatte, schon sehr früh gefasst hatte und davon nicht gelassen hatte, und natürlich auch in diesem Leben, das er geführt hat, wie Sie schon sagten, doch recht privilegiert war. Es wäre für ihn wahrscheinlich taktisch auch völlig unklug gewesen, wenn er sich eines Besseren hätte belehren lassen, denn dann hätte er ja seine Position als dieser oppositionelle Schriftsteller in der DDR auch nicht mehr ausüben können.
Timm: Zugleich konnte er ja oft nur im Westen veröffentlichen, zum Beispiel eben sein berühmtes Buch "5 Tage im Juni". Wenn man auf seine Bücher schaut, zum Beispiel der "König David Bericht" Anfang der 70er – da hat er ja die Erfahrungen eines drangsalierten Schriftstellers ja über den Umweg einer biblischen Geschichte in Literatur gefasst. Wäre das weniger wahrgenommen worden, wenn Stefan Heym ausgereist wäre? Er hätte es ja anders als andere jederzeit gekonnt.
Krawczyk: Ja, das ist natürlich die Frage, wie weit seine Literatur in der Bundesrepublik dann eine ähnliche Rolle gespielt hätte. Er ist sicherlich aufgrund seiner Besonderheit auch als amerikanischer Staatsbürger ja gar nicht so beengt gewesen innerhalb der DDR, und in dem Sinne ist es für ihn vielleicht auch gar nicht so schwierig gewesen, dieses, sagen wir mal, ideologische Steckenpferd weiter zu reiten, weil er ja unter diesen ganzen Dingen, die dann das System gegen den Einzelnen richten konnte, ja nicht so gelitten hat. Und er war natürlich auch ein Schriftsteller mit sehr hohem Selbstbewusstsein. Also gerade das Buch über den 17. Juni, was ja unter einem Tag X in der DDR erscheinen sollte – da hat er ja auch damit gehadert: Wenn das nicht rechtzeitig erscheint, dann wird Günter Grass sich diesem Thema widmen. Und da gibt es ja diesen Ausspruch von ihm: Ja, das wird in der DDR wohl erst erscheinen, wenn Gras drüber gewachsen ist, aber das wird dann Grass schon gefressen haben. Also er hat natürlich auch versucht, eine Position innerhalb dieser deutschen Schriftstellerei zu verteidigen und zu erobern, und das war von DDR-Grund und -Boden aus weit leichter als von bundesrepublikanischem.
Timm: Wenn man sich die Schriftsteller in der DDR mal anschaut, dann hat ja zum Beispiel Christa Wolf auch eine Bedeutung als Kummerkasten, als Ratgeberin, die war mal bewundert oder auch mal despektierlich, so was wie "unsere Christa". "Unser Stefan" gab es aber nicht. War Heym dafür als Person einfach zu komplex, zu vielgestaltig?
Krawczyk: Also komplex war er sicher, vielgestaltig war er auch, und ich denke, er war auch, und ich denke, er war auch jemand, der sich diese Maske im positiven Sinne damals im Exil 1933, als er nach Prag gegangen ist und sich den Namen Stefan Heym gegeben hat, ich denke, dass das für ihn auch ein Schutz gewesen ist, den er nicht vor sich hergetragen hat, aber mit dem er nicht ganz identisch war, also wo es gewissermaßen einen Bruch gab auch in der eigenen Identität und in dieser Identität, mit der er nach außen getreten ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass einem das beim Lavieren und Taktieren innerhalb so eines doch so aufsehenerregenden Lebens eine gute Hilfe ist.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Stephan Krawczyk über den Schriftsteller Stefan Heym, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Man liest in ganz vielen Texten aus den 1990ern, Stefan Heym sei so etwas wie der Fürsprecher der Ostdeutschen im wiedervereinigten Land gewesen. Kann man das wirklich so sagen? Wollten sich wirklich tatsächlich die Ostdeutschen von ihm vertreten lassen?
Krawczyk: Also das kann ich nicht sagen, weil: Damals war ich ja nun auch schon seit einiger Zeit im Westen gewesen, und ich hatte ein bisschen das Gefühl dafür verloren, was die Identität der Ostdeutschen überhaupt noch ist. Ob das Stefan Heym dann so gemacht hat, diese Identität vertreten – also es war immer noch ein amerikanischer Staatsbürger. Es ist schwer, das so zu sagen. Es gab halt Wenige, die so konsequent diesen eigenen Weg verfolgt haben wie Stefan Heym, denn der Gedanke der Gerechtigkeit steht für ihn immer im Mittelpunkt. Also er hat ja damals die Offizierswürden zurückgegeben, als der Koreakrieg anfing, er ist aus dem Bundestag wieder ausgetreten, als die Diäten erhöht wurden und so weiter, es gab immer einen Grund, wo die Motivation eben dieses Gefühl für Gerechtigkeit ist. Und in der Hinsicht fühle ich mich eigentlich auch mit ihm verbunden.
Timm: Lassen Sie uns noch mal darüber reden, wie er in den Bundestag gekommen ist. 1994 hat Stefan Heym als Parteiloser für die SED-Nachfolgepartei PDS für den Bundestag kandidiert. Diese letzte Häutung haben viele nicht verstanden. Sie haben ihn damals unterstützt. Warum, und würden Sie das im Nachhinein noch mal machen?
Krawczyk: Na, das ist schwer zu sagen, weil sich im Nachhinein die Gelegenheit dazu ja nicht mehr bietet. Aber damals war das für mich ein Hauptgrund: Also das aufrechte Vertreten dieses Gedankens, dass man nicht so über die Menschenseelen herfallen kann, wie das in der modernen Welt gemacht wird, das war sicherlich für ihn ein Grund, diese Kandidatur anzunehmen und ist auch für mich immer ein Grund gewesen für mein künstlerisches Schaffen. Dann war es für mich natürlich auch eine Befriedigung, dass mich die Partei gefragt hat, also die Nachfolgepartei jener Partei, die mich damals mit einem Berufsverbot belegt hat, und …
Timm: Echt, das war eine Befriedigung?
Krawczyk: Ja, das war in gewisser Weise schon eine Befriedigung. Du wirst von denen gefragt, die dich vorher ins Gefängnis gebracht haben, und dann fragen sie dich, ob sie dich fürstlich bezahlen können zu einer Veranstaltung für eben diese Wahl.
Timm: Aber das Wort aufrecht fällt so oft, Herr Krawczyk – muss man nicht schlicht auch oder musste man 1994 nicht schlicht auch akzeptieren, dass ein demokratischer Sozialismus, und wenn man noch so träumt, dass der keine Mehrheit fand, und dann auch nachgeben, also bitte schön: Ihr seid das Volk?
Krawczyk: Ja, ja, natürlich. Also das sagte ich ja schon. Also wann Heym für diesen Traum initiiert wurde, kann ich nicht sagen. Dass er sein ganzes Leben daran festgehalten hat, war klug von ihm. Und es gab eben verschiedene Berührungspunkte, wo ich auch in meiner Biografie natürlich – aber da war ich 17, 18, 19 Jahre eben – von einem besseren Sozialismus geträumt habe. Ich habe ja dann genügend Erfahrungen gemacht, dass das nicht möglich ist. Na, es ist ganz eine schwierige Sache. Also ich meine, Heym hat ja zum Beispiel auch … in dem "Deutschen Volksecho" in New York hat er ja die Moskauer Prozesse verteidigt. Also inwieweit ist er dann, der ja selbst Erfahrungen gemacht hat, … in seiner Familie sind Menschen umgekommen im Holocaust, sein Vater hat sich 35 umgebracht – und dann ist er selbst dafür eingetreten, dass diese Prozesse, die Moskauer Prozesse richtig sind. Also da gibt es ja auch sehr viele Dinge, über die wir viel länger reden müssten. Aber wie gesagt, er war für mich ein großer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Und dieser Schritt, dass er noch mal in die Politik, in die große Öffentlichkeit gehen wollte, ist vielleicht auch zum Teil seiner Eitelkeit geschuldet.
Timm: Er ist 2001 gestorben, in Israel, wohin er für ein Symposium über seinen literarischen Leitstern Heinrich Heine gereist war. Ist am Ende seines Lebens Stefan Heym noch mal ganz zu sich selbst gekommen?
Krawczyk: Ich weiß auch gar nicht, inwieweit er so religiös gewesen ist, so religiös gelebt hat, also nach Jerusalem und dort dann den Geist aufzugeben, ist vielleicht schon so wie ein Finish innerhalb dieses Kreislaufs seines Lebens. Und Heine hat ihn das ganze Leben begleitet natürlich, und ich könnte mir vorstellen, dass er in Ruhe gestorben ist, also nach einem erfüllten Leben. Mehr konnte er nicht erreichen.
Timm: Stephan Krawczyk über den Schriftsteller Stefan Heym, eine schillernde Persönlichkeit vor allem der früheren DDR. Herr Krawczyk, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Krawczyk: Bitte schön!
Timm: Stefan Heym wäre heute 100 Jahre alt geworden. Trotzdem sind noch neue Bücher von ihm und über ihn erschienen, die hören Sie um halb zwölf.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.