"Er war der größte Tscheche"
Havel sei nicht nur im Theater, sondern auch in der Politik ein Dramaturg gewesen, sagt František Černý, ehemaliger Botschafter in Deutschland. Er habe Politik mit großem Erfolg inszeniert. Anfangs hätten ihn nur Intellektuelle gekannt, aber schnell sei er vielen ans Herz gewachsen.
Joachim Scholl: Vaclav Havel am 29. Dezember 1989, die Stunde des Triumphs: vom Schriftsteller und Dissidenten zum Staatsoberhaupt. 53 Jahre war er damals alt, jetzt ist Vaclav Havel nach schwerer Krankheit gestorben. Ein Mann, der ihn über die Jahrzehnte kannte und auch mit ihm politisch zusammengearbeitet hat, ist František Černý, der ehemalige Botschafter Tschechiens in der Bundesrepublik, heute ist er Vorstandsvorsitzender des Prager Literaturhauses, und in Prag sind wir mit ihm verbunden. Guten Tag, Herr Černý!
František Černý: Guten Tag nach Berlin!
Scholl: Das Jahr 1989, Herr Černý, das war für Vaclav Havel ein wahres "Annus mirabilis", ein Jahr der Wunder. Im Januar war er noch vom kommunistischen Regime zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt worden, im Dezember wurde er zum Staatsoberhaupt gewählt. Wie erinnern Sie sich an diesen Moment, an diesen Tag, als Ihr Freund, Kamerad dort auf dem Balkon stand?
Černý: Es war für Vaclav Havel ein Jahr der Wunder, ein Wunder für uns alle. Und ich glaube, nicht nur für uns Tschechen und Slowaken. Aber die Überraschung musste total gewesen sein für viele Menschen – für die meisten Menschen in unserer Republik –, die praktisch Vaclav Havel zu dieser Zeit kaum kannten. Er war ja nur eine Zeit lang bekannt und eher bei Intellektuellen als Dramatiker. In Prag wurden seine Stücke gespielt, die er so damals in den 60er-Jahren geschrieben hat, mit denen er in bestimmten Intellektuellenkreisen berühmt geworden ist.
Aber dann war er eigentlich schon wieder verboten nach 1968, und wenn man von ihm was hörte, dann nur Böses von den offiziellen Organen, die ihn als den schlimmsten Feind des Sozialismus und der Republik bezeichnet haben. Aber dass war ein Mensch der Paradoxe, und das ja dann wenige Wochen, nach dem er aus der Haft entlassen wurde, einstimmig von dem noch immer aus Kommunisten zusammengesetzten Parlament zum Präsidenten gewählt wurde, das ist eine der Paradoxien der Geschichte – ein Wunder.
Scholl: Sie, Herr Černý, haben das Schicksal des Dissidenten Vaclav Havel gewissermaßen geteilt: Sie kannten einander seit den 1960er-Jahren, Sie hatten selbst ab 1969 Berufsverbot, durften nicht mehr als Journalist arbeiten, zwanzig Jahre lang, es erging Ihnen also ein wenig wie Vaclav Havel – gut, Sie wurden nicht eingesperrt und mussten nicht im Gefängnis sitzen wie er fünf Jahre lang. Aber er hat Sie dann 1989 prompt aufgefordert, mitzuarbeiten in der neuen Regierung. So wurden Sie Botschafter. Wie muss man sich das vorstellen? Der Staatspräsident hat Sie angerufen und sagte: František, komm!
Černý: Ich war da so ein Paradiesvogel unter den Diplomaten, ein typischer Seiteneinsteiger, der vorher absolut nichts mit Diplomatie zu tun hatte. Die Sache war so: Wir kannten uns vor allem auch, weil er sich ja sehr auch für Deutschland interessierte, für die deutsche Sprache, für die deutsche Literatur. Ich war damals – und bin es bis heute – auch wirklich immer noch befreundet mit Günter Grass, der oft bei uns in Prag oder in der Tschechischen Republik weilte. Und der wollte unbedingt auch mit Vaclav Havel sich treffen. Diese Treffen habe ich vermittelt, gedolmetscht.
Und daher wusste er, dass ich also mit dieser Thematik sehr vertraut bin, und dass das einfach etwas ist, was mich wirklich innerlich bewegt. Und man brauchte damals Leute für den diplomatischen Dienst. Und besonders auch für Deutschland. Das war ja so für Vaclav Havel – das wurde ihm dann manchmal auch, wie vieles andere, vorgeworfen –, dass er seine erste Auslandsreise sofort nach der Wahl, die er sofort nach der Wahl nach Deutschland unternahm. Zunächst nach Berlin und dann nach München. Und er meinte, ich könnte da vielleicht etwas mitarbeiten. Und ich habe lange gezögert, lange gezögert, weil ich mir sagte: Wie soll ich so was machen, wo ich das nie im Leben wirklich also angestrebt habe?
Scholl: Über zehn Jahre sind sie es dann gewesen. Wenn man auf diese Zeit, auf diese Situation blickt, könnte man ja etwas feuilletonistisch sagen: Aus der Kunst der Literatur wurde damals in Tschechien Politik. auch Sie als Geisteswissenschaftler, Germanist, Paradiesvogel, wie Sie sich selber nennen, Herr Černý, hatten plötzlich ein Amt. Wurde denn dann auch die Politik zur Kunst? Wurde es anders in der Politik?
Černý: Na ja, bei Vaclav Havel kann man diesen Eindruck öfters haben. Schauen sie, Herr Havel war ein Literat. Er war kein Schriftsteller, in dem er hat gesagt: Ich werde nie einen Roman anfangen, ich würde auf keine Erzählungen schreiben, der hat natürlich wie jeder ordentliche Literat mit Gedichten begonnen, aber dann hat er sich auf das Theater konzentriert, und meinte, das ist besser, das war eine der Eigenschaften, die ihm so viel Sympathie eingebracht hat: Er war ein sehr schüchterner, zurückgezogener, absolut nicht eingebildeter Mensch. Nicht so ein Wichtigtuer und so weiter.
Und er hat gesagt, ich bin dann hinter den Personen und Gestalten, die ich auf die Bühne setze, bin ich dann quasi versteckt. Und ich meine, diese Art, diese dramatische Art – er war dann auch Dramaturg eines Theaters. Und als er dann Präsident geworden ist, hat er dann häufig eigenständig die mit Politik zu tun hatten, die hat er inszeniert. Vielleicht erinnern Sie sich an den Besuch von Richard von Weizsäcker, den er eingeladen hat nach Prag. Und er hat ihn eingeladen, er solle am 15. März in Prag ankommen, und das war irgendwie ein dramaturgisches Moment, weil der 15. März war seit 1939 den Einmarsch der Deutschen in Prag. Damals war Adolf Hitler auf der Prager Burg und schaute aus dem Fenster hinaus. Das war der tiefste Tag in …
Scholl: … in den deutsch-tschechischen Beziehungen …
Černý: … Beziehungen, und er, der Dramatiker und Präsident Vaclav Havel hat gesagt: Das wäre doch schön, wenn der also jetzt bundesdeutsche Präsident nach Prag gerade am 15. März kommt.
Scholl: Wie wichtig, Herr Černý, war Vaclav Havel denn, mit dieser intellektuellen Persönlichkeit als Schriftsteller, auch für die neue junge Demokratie Tschechiens? Wie bedeutsam war dafür der Anteil des intellektuellen Naturells? Hat man das auch in der Bevölkerung geschätzt, wahrgenommen?
Černý: Am Anfang, wie ich schon gesagt habe, war seine Akzeptanz seiner Essays, seiner politische Essays, oder auch seiner dramatischen Werke war beschränkt auf eine gewisse engere intellektuelle Schicht. Die Akzeptanz oder Empathie, die ihm entgegen kam, noch bevor er Präsident geworden ist – gleich am Anfang der sogenannten Revolution, die keine Revolution war, aber jetzt bitte, ist ein anderes Thema. Das war eher so seine menschliche Seite.
Ich habe oft gesehen und gehört, dass die Leute sagen: Diesem Mann glaube ich als Mensch, ja? Und wenn ich jemandem als Mensch glaube und vertraue, dem vertraue ich ihm auch als Politiker, was nicht immer bei allen Politikern der Fall ist. Aber seine Gedanken – ich würde da zum Beispiel daran erinnern: Wir haben da so einen Brauch, dass zu Neuer jeder Präsident – bei Ihnen ist es, glaube ich, an einem anderen Tag – einen Neujahrsansprache hält. Und die Neujahrsansprache 1990, seine erste, das war ein literarisches Werk, und das haben die Leute aufgenommen. Heute lesen sie das und spielen sich das manchmal noch vor. So stark hat das damals gewirkt.
Scholl: 20 Jahre ist das jetzt her. Was würden Sie denn sagen: Was geht mit Vaclav Havel denn auch der gegenwärtigen tschechischen Politik verloren? Also in dem Sinne: Gab es eigentlich Nachfolger, was seinen Stil, sein Wesen als Politiker angeht? Kamen da noch Männer seines Schlages?
Černý: Nein. Vaclav Havel fehlt uns heute mehr als je zuvor. denn einen zweiten Havel gibt es nicht, und es gibt eben in unserer Politik jetzt zu viele Politiker und zu wenig Menschen, die also als Menschen vertrauenswürdig wären.
Scholl: Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen? Konnten Sie sich noch verabschieden?
Černý: Ja, durch winke-winke. Das war vor kurzem, vor ein paar Wochen, bei einem Fest. Na, aber da habe ich schon gesehen: Ach, um Gottes willen, der Mann wird nicht mehr lange da sein. Er war mehrmals dem Tode nahe, durch Operationen gerettet. Aber jetzt ging es mit ihm bergab. Und ich glaube, es ist ein erfülltes Leben – und was viele Leute sagen: Wir beneiden ihn –, er ist dann gestorben im Schlaf und zuhause, also nicht im Krankenhaus, sondern im Schlaf. Und es ist also ein Tod, den sich viele Leute wünschen würden.
Aber ich glaube, er wird noch lange lebendig bleiben – vielleicht jetzt lebendiger, als er da in den letzten Jahren war. Ein Beispiel: Gestern haben sich spontan hunderte, vielleicht tausende Menschen versammelt an verschiedenen Orten, um sich an ihn zu erinnern. Und am Wenzelsplatz gab es dann ab 16 Uhr bis Mitternacht Leute, meistens junge Leute, die sich da abwechselnd hinstellten und aus seinen Büchern, aus seinen Schriften, aus seinen Artikeln lasen. Ja, es war bei wirklich sehr hässlichem Wetter, und sie hielten es aus, und auch die Zuhörer harrten aus. Ich glaube, so eine Ehre wird selten einem Menschen zuteil. Er war der größte Tscheche, und er war auch ein großer Europäer.
Scholl: In Memoriam Vaclav Havel – das war František Černý, Weggefährte und früherer Botschafter in Deutschland, heute steht er dem Prager Literaturhaus vor. Ich danke Ihnen, Herr Černý, für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
František Černý: Guten Tag nach Berlin!
Scholl: Das Jahr 1989, Herr Černý, das war für Vaclav Havel ein wahres "Annus mirabilis", ein Jahr der Wunder. Im Januar war er noch vom kommunistischen Regime zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt worden, im Dezember wurde er zum Staatsoberhaupt gewählt. Wie erinnern Sie sich an diesen Moment, an diesen Tag, als Ihr Freund, Kamerad dort auf dem Balkon stand?
Černý: Es war für Vaclav Havel ein Jahr der Wunder, ein Wunder für uns alle. Und ich glaube, nicht nur für uns Tschechen und Slowaken. Aber die Überraschung musste total gewesen sein für viele Menschen – für die meisten Menschen in unserer Republik –, die praktisch Vaclav Havel zu dieser Zeit kaum kannten. Er war ja nur eine Zeit lang bekannt und eher bei Intellektuellen als Dramatiker. In Prag wurden seine Stücke gespielt, die er so damals in den 60er-Jahren geschrieben hat, mit denen er in bestimmten Intellektuellenkreisen berühmt geworden ist.
Aber dann war er eigentlich schon wieder verboten nach 1968, und wenn man von ihm was hörte, dann nur Böses von den offiziellen Organen, die ihn als den schlimmsten Feind des Sozialismus und der Republik bezeichnet haben. Aber dass war ein Mensch der Paradoxe, und das ja dann wenige Wochen, nach dem er aus der Haft entlassen wurde, einstimmig von dem noch immer aus Kommunisten zusammengesetzten Parlament zum Präsidenten gewählt wurde, das ist eine der Paradoxien der Geschichte – ein Wunder.
Scholl: Sie, Herr Černý, haben das Schicksal des Dissidenten Vaclav Havel gewissermaßen geteilt: Sie kannten einander seit den 1960er-Jahren, Sie hatten selbst ab 1969 Berufsverbot, durften nicht mehr als Journalist arbeiten, zwanzig Jahre lang, es erging Ihnen also ein wenig wie Vaclav Havel – gut, Sie wurden nicht eingesperrt und mussten nicht im Gefängnis sitzen wie er fünf Jahre lang. Aber er hat Sie dann 1989 prompt aufgefordert, mitzuarbeiten in der neuen Regierung. So wurden Sie Botschafter. Wie muss man sich das vorstellen? Der Staatspräsident hat Sie angerufen und sagte: František, komm!
Černý: Ich war da so ein Paradiesvogel unter den Diplomaten, ein typischer Seiteneinsteiger, der vorher absolut nichts mit Diplomatie zu tun hatte. Die Sache war so: Wir kannten uns vor allem auch, weil er sich ja sehr auch für Deutschland interessierte, für die deutsche Sprache, für die deutsche Literatur. Ich war damals – und bin es bis heute – auch wirklich immer noch befreundet mit Günter Grass, der oft bei uns in Prag oder in der Tschechischen Republik weilte. Und der wollte unbedingt auch mit Vaclav Havel sich treffen. Diese Treffen habe ich vermittelt, gedolmetscht.
Und daher wusste er, dass ich also mit dieser Thematik sehr vertraut bin, und dass das einfach etwas ist, was mich wirklich innerlich bewegt. Und man brauchte damals Leute für den diplomatischen Dienst. Und besonders auch für Deutschland. Das war ja so für Vaclav Havel – das wurde ihm dann manchmal auch, wie vieles andere, vorgeworfen –, dass er seine erste Auslandsreise sofort nach der Wahl, die er sofort nach der Wahl nach Deutschland unternahm. Zunächst nach Berlin und dann nach München. Und er meinte, ich könnte da vielleicht etwas mitarbeiten. Und ich habe lange gezögert, lange gezögert, weil ich mir sagte: Wie soll ich so was machen, wo ich das nie im Leben wirklich also angestrebt habe?
Scholl: Über zehn Jahre sind sie es dann gewesen. Wenn man auf diese Zeit, auf diese Situation blickt, könnte man ja etwas feuilletonistisch sagen: Aus der Kunst der Literatur wurde damals in Tschechien Politik. auch Sie als Geisteswissenschaftler, Germanist, Paradiesvogel, wie Sie sich selber nennen, Herr Černý, hatten plötzlich ein Amt. Wurde denn dann auch die Politik zur Kunst? Wurde es anders in der Politik?
Černý: Na ja, bei Vaclav Havel kann man diesen Eindruck öfters haben. Schauen sie, Herr Havel war ein Literat. Er war kein Schriftsteller, in dem er hat gesagt: Ich werde nie einen Roman anfangen, ich würde auf keine Erzählungen schreiben, der hat natürlich wie jeder ordentliche Literat mit Gedichten begonnen, aber dann hat er sich auf das Theater konzentriert, und meinte, das ist besser, das war eine der Eigenschaften, die ihm so viel Sympathie eingebracht hat: Er war ein sehr schüchterner, zurückgezogener, absolut nicht eingebildeter Mensch. Nicht so ein Wichtigtuer und so weiter.
Und er hat gesagt, ich bin dann hinter den Personen und Gestalten, die ich auf die Bühne setze, bin ich dann quasi versteckt. Und ich meine, diese Art, diese dramatische Art – er war dann auch Dramaturg eines Theaters. Und als er dann Präsident geworden ist, hat er dann häufig eigenständig die mit Politik zu tun hatten, die hat er inszeniert. Vielleicht erinnern Sie sich an den Besuch von Richard von Weizsäcker, den er eingeladen hat nach Prag. Und er hat ihn eingeladen, er solle am 15. März in Prag ankommen, und das war irgendwie ein dramaturgisches Moment, weil der 15. März war seit 1939 den Einmarsch der Deutschen in Prag. Damals war Adolf Hitler auf der Prager Burg und schaute aus dem Fenster hinaus. Das war der tiefste Tag in …
Scholl: … in den deutsch-tschechischen Beziehungen …
Černý: … Beziehungen, und er, der Dramatiker und Präsident Vaclav Havel hat gesagt: Das wäre doch schön, wenn der also jetzt bundesdeutsche Präsident nach Prag gerade am 15. März kommt.
Scholl: Wie wichtig, Herr Černý, war Vaclav Havel denn, mit dieser intellektuellen Persönlichkeit als Schriftsteller, auch für die neue junge Demokratie Tschechiens? Wie bedeutsam war dafür der Anteil des intellektuellen Naturells? Hat man das auch in der Bevölkerung geschätzt, wahrgenommen?
Černý: Am Anfang, wie ich schon gesagt habe, war seine Akzeptanz seiner Essays, seiner politische Essays, oder auch seiner dramatischen Werke war beschränkt auf eine gewisse engere intellektuelle Schicht. Die Akzeptanz oder Empathie, die ihm entgegen kam, noch bevor er Präsident geworden ist – gleich am Anfang der sogenannten Revolution, die keine Revolution war, aber jetzt bitte, ist ein anderes Thema. Das war eher so seine menschliche Seite.
Ich habe oft gesehen und gehört, dass die Leute sagen: Diesem Mann glaube ich als Mensch, ja? Und wenn ich jemandem als Mensch glaube und vertraue, dem vertraue ich ihm auch als Politiker, was nicht immer bei allen Politikern der Fall ist. Aber seine Gedanken – ich würde da zum Beispiel daran erinnern: Wir haben da so einen Brauch, dass zu Neuer jeder Präsident – bei Ihnen ist es, glaube ich, an einem anderen Tag – einen Neujahrsansprache hält. Und die Neujahrsansprache 1990, seine erste, das war ein literarisches Werk, und das haben die Leute aufgenommen. Heute lesen sie das und spielen sich das manchmal noch vor. So stark hat das damals gewirkt.
Scholl: 20 Jahre ist das jetzt her. Was würden Sie denn sagen: Was geht mit Vaclav Havel denn auch der gegenwärtigen tschechischen Politik verloren? Also in dem Sinne: Gab es eigentlich Nachfolger, was seinen Stil, sein Wesen als Politiker angeht? Kamen da noch Männer seines Schlages?
Černý: Nein. Vaclav Havel fehlt uns heute mehr als je zuvor. denn einen zweiten Havel gibt es nicht, und es gibt eben in unserer Politik jetzt zu viele Politiker und zu wenig Menschen, die also als Menschen vertrauenswürdig wären.
Scholl: Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen? Konnten Sie sich noch verabschieden?
Černý: Ja, durch winke-winke. Das war vor kurzem, vor ein paar Wochen, bei einem Fest. Na, aber da habe ich schon gesehen: Ach, um Gottes willen, der Mann wird nicht mehr lange da sein. Er war mehrmals dem Tode nahe, durch Operationen gerettet. Aber jetzt ging es mit ihm bergab. Und ich glaube, es ist ein erfülltes Leben – und was viele Leute sagen: Wir beneiden ihn –, er ist dann gestorben im Schlaf und zuhause, also nicht im Krankenhaus, sondern im Schlaf. Und es ist also ein Tod, den sich viele Leute wünschen würden.
Aber ich glaube, er wird noch lange lebendig bleiben – vielleicht jetzt lebendiger, als er da in den letzten Jahren war. Ein Beispiel: Gestern haben sich spontan hunderte, vielleicht tausende Menschen versammelt an verschiedenen Orten, um sich an ihn zu erinnern. Und am Wenzelsplatz gab es dann ab 16 Uhr bis Mitternacht Leute, meistens junge Leute, die sich da abwechselnd hinstellten und aus seinen Büchern, aus seinen Schriften, aus seinen Artikeln lasen. Ja, es war bei wirklich sehr hässlichem Wetter, und sie hielten es aus, und auch die Zuhörer harrten aus. Ich glaube, so eine Ehre wird selten einem Menschen zuteil. Er war der größte Tscheche, und er war auch ein großer Europäer.
Scholl: In Memoriam Vaclav Havel – das war František Černý, Weggefährte und früherer Botschafter in Deutschland, heute steht er dem Prager Literaturhaus vor. Ich danke Ihnen, Herr Černý, für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.