"Er war ein richtiger Repräsentant der Bürger"
Eine neue, über 600 Seiten starke Biografie erinnert in diesen Tagen an den früheren Bundespräsidenten Theodor Heuss. Der Verfasser Peter Merseburger über Heuss' Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz, seine Popularität als Staatsoberhaupt - und seine sehr moderne Ehe.
Susanne Führer: Theodor Heuss war der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, zwei Amtszeiten lang, von 1949 bis 1959 – das bekämen wohl noch viele zusammen. Aber wer weiß heute schon noch, dass Heuss nicht nur Politiker und einer der Väter des Grundgesetzes, sondern auch Journalist und Literat war, Geschäftsführer des deutschen Werkbundes sogar, sich für zeitgemäßes Design einsetzte und vor 100 Jahren schon eine äußerst moderne Ehe führte?
Der Journalist Peter Merseburger weiß das alles, er hat nämlich eine Biografie des ersten Bundespräsidenten verfasst, "Theodor Heuss – der Bürger als Präsident", in diesen Tagen erschienen. Herzlich willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Merseburger!
Peter Merseburger: Danke, Frau Führer!
Führer: Ja, über 600 Seiten ist diese Biografie dick, ein richtiger Ziegel, da stecken viele Jahre Arbeit drin. Das heißt, habe ich mir so gedacht, man muss schon wirklich, um das durchzuhalten, ein besonderes Interesse für seinen Gegenstand haben. Was hat Sie so interessiert an Heuss?
Merseburger: Ich glaube, dass er zu Unrecht ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Ich meine, das Wort von Arnulf Baring – am Anfang war Adenauer –, das stimmt, weil Adenauer der Mann war, der die Politik bestimmt hat und die Weichen gestellt hat. Aber Adenauer war auch ein Mann, der artikulationsschwach war. Und am Anfang war die Demokratie in der Bundesrepublik überhaupt nicht beliebt. Sie dürfen nicht vergessen, die Leute hatten in Erinnerung Weimar, Parteienzerrissenheit, das Scheitern der Demokratie, keine Ergebnisse. Natürlich war noch lebendig ein bisschen die Indoktrination der nationalsozialistischen Zeit, Demokratie ist schlecht. Da war noch niemand so richtig überzeugt, und Heuss – nicht Adenauer, Heuss – war derjenige, der mit seinen Reden eigentlich die Deutschen mit der Demokratie versöhnte und an sie herangeführt hat, peu à peu. Von Schumacher stammte das böse Wort: Adenauer hatte einen Wortschatz von 500 Worten, Goethe einen von 29.000 – ob das stimmt, weiß ich nicht, aber jedenfalls war Adenauer nicht der Mann, der das richtig vermitteln konnte. Der konnte Politik machen, umsetzen, durchsetzen, aber Heuss ...
Führer: Heuss konnte sie schön verpacken?
Merseburger: Heuss hat das dazu getan, was er selber einmal mit dem merkwürdigen Begriff Metapolitik benannt hat.
Führer: Er wurde ja Papa Heuss genannt. Wie viel Wahrheit steckt in diesem Spitznamen, Herr Merseburger?
Merseburger: Er war sehr schnell populär. Er war sehr schnell populär, das hat er mit seiner tiefen Stimme – Augstein hat das mal den orphischen Bass genannt. Und das hatte mit seiner schwäbischen Klangfärbung zu tun.
Führer: Und er sah auch ganz fesch aus.
Merseburger: Ja, er sah auch für sein Alter durchaus fesch aus, am Anfang sehr mager, gewann dann mit dem Wohlstand, der um sich griff nach der Währungsreform und in den ersten Jahren der Bundesrepublik, ein bisschen an Körperfülle. Und da kam irgendwann einmal ein Mann und fragte, warum wird unser Theodor so dick, und dann hat er gesagt: Mir geht es so ungefähr wie euch. Er war ein richtiger Repräsentant der Bürger.
Führer: Ja, aber er war doch auch tatsächlich so ein bisschen väterlich auch, also freundlich, aber doch ein bisschen streng seinen Deutschen gegenüber, oder?
Merseburger: Das war er, er hat nämlich versucht, den Deutschen ins Gewissen zu reden, so, wie das in der damaligen Zeit möglich war. Und das unterscheidet sich ein bisschen von heute, aber die Anfänge der sogenannten Aufarbeitung der Geschichte, die gehen auf Heuss zurück. Heuss hat schon 1949 das Wort von der Kollektivscham geprägt, er hat die Kollektivschuld als Begriff abgelehnt, weil er sagte, das sei die Umkehrung dessen, was die Nazis mit den Juden betrieben hätten. Ein Jude sei schuld, weil er Jude sei – ein Deutscher sei nicht schuld, weil er Deutscher sei. Deshalb hat er gesagt: Ich wähle den Begriff Kollektivscham. Und er hat gesagt: Ich schäme mich, einem Volk anzugehören, das diese Verbrechen von diesen Spießgesellen Hitlers durchgeführt hat, und wir müssen uns alle dafür schämen – im Grunde leiden wir alle darunter, und wir müssen uns davon lösen, indem wir uns damit auseinandersetzen.
Das hat er auch dann später, drei Jahre später in Bergen-Belsen gesagt, wo er wirklich von der Grausamkeit der Vernichtung durch die Deutschen gesprochen hat und Tapferkeit von den Deutschen verlangt hat, sich dieser Tatsache und Erkenntnis zu stellen. Er hat im Grunde – Holocaust war damals kein Begriff –, aber er hat im Grunde dies vorweggenommen, dieses industrielle Töten als eine grausame, unvorstellbare Sache, und hat gesagt, in meinem Katalog des Schreckens – er war ein innerer Immigrant –, da kam Buchenwald vor, wir wussten von der Euthanasie und der Tötung durch die Euthanasie, wir wussten von Mauthausen, wir wussten, dass Synagogen brannten, aber Auschwitz war für uns im Katalog des Schreckens kein Wort, das verzeichnet war.
Führer: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Journalisten Peter Merseburger über Theodor Heuss aus Anlass der neuen Heuss-Biografie von Peter Merseburger. Herr Merseburger, Sie haben gerade von der inneren Immigration gesprochen. Machen wir mal einen Sprung zurück nach 1933: In Ihrer Biografie gibt es ein Kapitel, dem Sie den Titel "Ein Jahr, das aus der Lebensgeschichte nicht auszulöschen ist" gegeben haben, das ist die Paraphrase eines Zitats von Heuss selbst, er hat nämlich 1933 erstaunlicherweise dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Warum eigentlich?
Merseburger: Er gehörte zur Staatspartei, die war mit einer Fraktion, einem Fraktiönlein von fünf Mann im Reichstag vertreten. Sie müssen sich vorstellen – das kann man heute schwer –, dass dieses Parlament schon unter dem Eindruck des Terrors stand. Seit dem Reichstagsbrand wütete der nationalsozialistische Terror im Land, es gab willkürliche Verhaftungen, alle Kommunisten waren weggesperrt, es gab keinen einzigen Kommunisten, der noch im Reichstag saß, die waren alle in den ersten wilden KZs und in Gefängnissen. Die Gänge des Reichstags waren von SA und SS besetzt, also die Abgeordneten liefen Spießruten zu ihren Sitzen.
Führer: Das würde heißen, er hat aus Angst zugestimmt.
Merseburger: Ich weiß nicht, ob es Angst war. Heuss war kein Mann, der dem zustimmen wollte. Aber er wollte eine Enthaltung, und dafür hatte er einen Entwurf ausgearbeitet, und den hat dann Reinhold Maier als Zustimmung verlesen, das heißt, alle die Bedenken, die Heuss für die Enthaltung aufgeschrieben hatte, waren in dieser Zustimmungserklärung auch noch vorhanden, die fünf Mann einer Gruppe, die eigentlich keinen Ausschlag geben konnte, das mussten sie sehen, die haben zugestimmt, weil sie nicht als einzige Bürgerliche neben den Sozialdemokraten dagegen stimmen wollten.
Sie können das natürlich als Angst betrachten – sie haben dabei sicher, das ist eine Kumulation von Motiven wie meistens, auch an die vielen Beamten gedacht, die in Brot und Lohn im öffentlichen Dienst und beim Staat sind, und wollten die schützen, wenn Sie so wollen. Vor allen Dingen aber wollten sie sich nicht vom katholischen Zentrum trennen, und das hat praktisch den Ausschlag gegeben, nicht als einzige zuzustimmen. Heuss hat darunter sein ganzes Leben gelitten, er wusste, in dem Moment, wo er die Hand hebt, dass er einen großen Fehler begeht.
Führer: Er war ja nun eindeutig kein Nationalsozialist, er war in der inneren Immigration, wie Sie sagten, er hatte faktisch Berufsverbot, er war aber wohl ein Nationalist, das kann man wohl sagen – die Belange der Nation standen für ihn immer über innenpolitischen Erwägungen: Er hat den Austritt aus dem Völkerbund Deutschlands begrüßt, die Wiedereinführung der Wehrpflicht, selbst die Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland 1936. Ich habe mich so gefragt, ob eigentlich später mit einem Bundespräsidenten Heuss die neue Ostpolitik von Willy Brandt möglich gewesen wäre. Was meinen Sie?
Merseburger: Das glaube ich schon, aber das ist natürlich eine spekulative Geschichte. Ich nehme an, er hätte dem wohl zugestimmt, wohl wissend, dass die Politik Adenauers, der er im Kern zugestimmt hat – die beiden hatten grundpolitisches Einverständnis –, in eine Sackgasse geführt hatte, die deutlich wurde mit dem Bau der Berliner Mauer. Ich glaube, das hätte auch bei ihm ein Umdenken spätestens dann bewirkt.
Führer: Zum Schluss, Herr Merseburger, möchte ich noch mal einen kleinen Blick auf das Privatleben von Theodor Heuss werfen, der hat ja 1908 Elly Knapp geheiratet, und die beiden haben eine wirklich moderne Ehe geführt: Elly Heuss-Knapp, wie sie sich dann nannte, hat immer gearbeitet, hat während des Nationalsozialismus die ganze Familie ernährt, weil sie nämlich Radiowerbespots gemacht hat und auch sogar Werbefilme für das Kino. 1950 hat sie das Müttergenesungswerk gegründet. Hat Theodor Heuss das eigentlich alles nur so geduldet oder hat er das auch unterstützt? Was meinen Sie?
Merseburger: Er hat das unterstützt, weil er selber mal vorgeschlagen hat, eigentlich müssten die beiden Gütertrennung herbeiführen. Sie wissen, dass eigentlich der Mann der Frau wirtschaftlich vorschreiben konnte, was sie zu tun und zu lassen hatte, bis 1957.
Führer: Ja, er konnte ihr verbieten, arbeiten zu gehen, zum Beispiel.
Merseburger: Aber sie haben, die beiden Heuss, haben dafür schon eine ordentlich moderne Ehe geführt. Sie hat ihr eigenes Verdienst gehabt als Lehrerin und hat auf Vortragsreisen viel Geld verdient, vor allen Dingen im Sinne der Frauenemanzipation, ohne dass sie eine Suffragette war. Suffragetten, das war ihr zu eifrig, zu eifernd, das lehnte sie ab. Aber sie war und wirkte für die Befreiung der Frau und für die Emanzipierung der Frau, und hat auch sich sehr dafür eingesetzt und Werbesprüche fabriziert, die im ganzen Reich an Plakatsäulen geklebt wurden, als zum ersten Mal die Frauen stimmberechtigt waren durch die Nationalversammlung, bei der Wahl dafür, und hat gesagt, Frauen, geht zur Wahl.
Und sie waren auch intellektuelle Partner. Sie war eine Art Überredakteurin, die alles von ihm, was er schrieb, sehr kritisch betrachtete. Schon als Verlobte hat sie gesagt, du, was du da geschrieben hast, dieses Wort streich, das ist altfränkisch. Und dann hat sie mal gesagt, deine Kunstkritiken sind unverständlich. Er war ein Mann der Moderne um die Jahrhundertwende und ist es eigentlich immer geblieben. Er hat Liebermann gemocht, er hat die Berliner Sezession in Kritiken gelobt, und er war dann Geschäftsführer des Werkbundes, also für modernes Bauen, der Werkbund war ja im Grunde ein Vorläufer des Bauhauses oder das Bauhaus ein Ableger des Werkbunds. Aber wenn es zu intellektuell wurde, wie bei Gropius zum Teil, da hat er dann manchmal seine Bedenken gehabt. Heuss war bei aller Modernität und bei manchem Avantgardistischen war er doch immer ein Bürger, er blieb ein Bürger, und wenn Sie wollen, ist das seine provinzielle Verhaftung, die ihn auch so glaubwürdig macht.
Führer: Das sagt Peter Merseburger. Er ist der Autor der Biografie "Theodor Heuss – der Bürger als Präsident", gerade erschienen bei DVA, und Herr Merseburger, danke Ihnen herzlich für den Besuch hier im Funkhaus!
Merseburger: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Journalist Peter Merseburger weiß das alles, er hat nämlich eine Biografie des ersten Bundespräsidenten verfasst, "Theodor Heuss – der Bürger als Präsident", in diesen Tagen erschienen. Herzlich willkommen im Deutschlandradio Kultur, Herr Merseburger!
Peter Merseburger: Danke, Frau Führer!
Führer: Ja, über 600 Seiten ist diese Biografie dick, ein richtiger Ziegel, da stecken viele Jahre Arbeit drin. Das heißt, habe ich mir so gedacht, man muss schon wirklich, um das durchzuhalten, ein besonderes Interesse für seinen Gegenstand haben. Was hat Sie so interessiert an Heuss?
Merseburger: Ich glaube, dass er zu Unrecht ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Ich meine, das Wort von Arnulf Baring – am Anfang war Adenauer –, das stimmt, weil Adenauer der Mann war, der die Politik bestimmt hat und die Weichen gestellt hat. Aber Adenauer war auch ein Mann, der artikulationsschwach war. Und am Anfang war die Demokratie in der Bundesrepublik überhaupt nicht beliebt. Sie dürfen nicht vergessen, die Leute hatten in Erinnerung Weimar, Parteienzerrissenheit, das Scheitern der Demokratie, keine Ergebnisse. Natürlich war noch lebendig ein bisschen die Indoktrination der nationalsozialistischen Zeit, Demokratie ist schlecht. Da war noch niemand so richtig überzeugt, und Heuss – nicht Adenauer, Heuss – war derjenige, der mit seinen Reden eigentlich die Deutschen mit der Demokratie versöhnte und an sie herangeführt hat, peu à peu. Von Schumacher stammte das böse Wort: Adenauer hatte einen Wortschatz von 500 Worten, Goethe einen von 29.000 – ob das stimmt, weiß ich nicht, aber jedenfalls war Adenauer nicht der Mann, der das richtig vermitteln konnte. Der konnte Politik machen, umsetzen, durchsetzen, aber Heuss ...
Führer: Heuss konnte sie schön verpacken?
Merseburger: Heuss hat das dazu getan, was er selber einmal mit dem merkwürdigen Begriff Metapolitik benannt hat.
Führer: Er wurde ja Papa Heuss genannt. Wie viel Wahrheit steckt in diesem Spitznamen, Herr Merseburger?
Merseburger: Er war sehr schnell populär. Er war sehr schnell populär, das hat er mit seiner tiefen Stimme – Augstein hat das mal den orphischen Bass genannt. Und das hatte mit seiner schwäbischen Klangfärbung zu tun.
Führer: Und er sah auch ganz fesch aus.
Merseburger: Ja, er sah auch für sein Alter durchaus fesch aus, am Anfang sehr mager, gewann dann mit dem Wohlstand, der um sich griff nach der Währungsreform und in den ersten Jahren der Bundesrepublik, ein bisschen an Körperfülle. Und da kam irgendwann einmal ein Mann und fragte, warum wird unser Theodor so dick, und dann hat er gesagt: Mir geht es so ungefähr wie euch. Er war ein richtiger Repräsentant der Bürger.
Führer: Ja, aber er war doch auch tatsächlich so ein bisschen väterlich auch, also freundlich, aber doch ein bisschen streng seinen Deutschen gegenüber, oder?
Merseburger: Das war er, er hat nämlich versucht, den Deutschen ins Gewissen zu reden, so, wie das in der damaligen Zeit möglich war. Und das unterscheidet sich ein bisschen von heute, aber die Anfänge der sogenannten Aufarbeitung der Geschichte, die gehen auf Heuss zurück. Heuss hat schon 1949 das Wort von der Kollektivscham geprägt, er hat die Kollektivschuld als Begriff abgelehnt, weil er sagte, das sei die Umkehrung dessen, was die Nazis mit den Juden betrieben hätten. Ein Jude sei schuld, weil er Jude sei – ein Deutscher sei nicht schuld, weil er Deutscher sei. Deshalb hat er gesagt: Ich wähle den Begriff Kollektivscham. Und er hat gesagt: Ich schäme mich, einem Volk anzugehören, das diese Verbrechen von diesen Spießgesellen Hitlers durchgeführt hat, und wir müssen uns alle dafür schämen – im Grunde leiden wir alle darunter, und wir müssen uns davon lösen, indem wir uns damit auseinandersetzen.
Das hat er auch dann später, drei Jahre später in Bergen-Belsen gesagt, wo er wirklich von der Grausamkeit der Vernichtung durch die Deutschen gesprochen hat und Tapferkeit von den Deutschen verlangt hat, sich dieser Tatsache und Erkenntnis zu stellen. Er hat im Grunde – Holocaust war damals kein Begriff –, aber er hat im Grunde dies vorweggenommen, dieses industrielle Töten als eine grausame, unvorstellbare Sache, und hat gesagt, in meinem Katalog des Schreckens – er war ein innerer Immigrant –, da kam Buchenwald vor, wir wussten von der Euthanasie und der Tötung durch die Euthanasie, wir wussten von Mauthausen, wir wussten, dass Synagogen brannten, aber Auschwitz war für uns im Katalog des Schreckens kein Wort, das verzeichnet war.
Führer: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Journalisten Peter Merseburger über Theodor Heuss aus Anlass der neuen Heuss-Biografie von Peter Merseburger. Herr Merseburger, Sie haben gerade von der inneren Immigration gesprochen. Machen wir mal einen Sprung zurück nach 1933: In Ihrer Biografie gibt es ein Kapitel, dem Sie den Titel "Ein Jahr, das aus der Lebensgeschichte nicht auszulöschen ist" gegeben haben, das ist die Paraphrase eines Zitats von Heuss selbst, er hat nämlich 1933 erstaunlicherweise dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Warum eigentlich?
Merseburger: Er gehörte zur Staatspartei, die war mit einer Fraktion, einem Fraktiönlein von fünf Mann im Reichstag vertreten. Sie müssen sich vorstellen – das kann man heute schwer –, dass dieses Parlament schon unter dem Eindruck des Terrors stand. Seit dem Reichstagsbrand wütete der nationalsozialistische Terror im Land, es gab willkürliche Verhaftungen, alle Kommunisten waren weggesperrt, es gab keinen einzigen Kommunisten, der noch im Reichstag saß, die waren alle in den ersten wilden KZs und in Gefängnissen. Die Gänge des Reichstags waren von SA und SS besetzt, also die Abgeordneten liefen Spießruten zu ihren Sitzen.
Führer: Das würde heißen, er hat aus Angst zugestimmt.
Merseburger: Ich weiß nicht, ob es Angst war. Heuss war kein Mann, der dem zustimmen wollte. Aber er wollte eine Enthaltung, und dafür hatte er einen Entwurf ausgearbeitet, und den hat dann Reinhold Maier als Zustimmung verlesen, das heißt, alle die Bedenken, die Heuss für die Enthaltung aufgeschrieben hatte, waren in dieser Zustimmungserklärung auch noch vorhanden, die fünf Mann einer Gruppe, die eigentlich keinen Ausschlag geben konnte, das mussten sie sehen, die haben zugestimmt, weil sie nicht als einzige Bürgerliche neben den Sozialdemokraten dagegen stimmen wollten.
Sie können das natürlich als Angst betrachten – sie haben dabei sicher, das ist eine Kumulation von Motiven wie meistens, auch an die vielen Beamten gedacht, die in Brot und Lohn im öffentlichen Dienst und beim Staat sind, und wollten die schützen, wenn Sie so wollen. Vor allen Dingen aber wollten sie sich nicht vom katholischen Zentrum trennen, und das hat praktisch den Ausschlag gegeben, nicht als einzige zuzustimmen. Heuss hat darunter sein ganzes Leben gelitten, er wusste, in dem Moment, wo er die Hand hebt, dass er einen großen Fehler begeht.
Führer: Er war ja nun eindeutig kein Nationalsozialist, er war in der inneren Immigration, wie Sie sagten, er hatte faktisch Berufsverbot, er war aber wohl ein Nationalist, das kann man wohl sagen – die Belange der Nation standen für ihn immer über innenpolitischen Erwägungen: Er hat den Austritt aus dem Völkerbund Deutschlands begrüßt, die Wiedereinführung der Wehrpflicht, selbst die Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland 1936. Ich habe mich so gefragt, ob eigentlich später mit einem Bundespräsidenten Heuss die neue Ostpolitik von Willy Brandt möglich gewesen wäre. Was meinen Sie?
Merseburger: Das glaube ich schon, aber das ist natürlich eine spekulative Geschichte. Ich nehme an, er hätte dem wohl zugestimmt, wohl wissend, dass die Politik Adenauers, der er im Kern zugestimmt hat – die beiden hatten grundpolitisches Einverständnis –, in eine Sackgasse geführt hatte, die deutlich wurde mit dem Bau der Berliner Mauer. Ich glaube, das hätte auch bei ihm ein Umdenken spätestens dann bewirkt.
Führer: Zum Schluss, Herr Merseburger, möchte ich noch mal einen kleinen Blick auf das Privatleben von Theodor Heuss werfen, der hat ja 1908 Elly Knapp geheiratet, und die beiden haben eine wirklich moderne Ehe geführt: Elly Heuss-Knapp, wie sie sich dann nannte, hat immer gearbeitet, hat während des Nationalsozialismus die ganze Familie ernährt, weil sie nämlich Radiowerbespots gemacht hat und auch sogar Werbefilme für das Kino. 1950 hat sie das Müttergenesungswerk gegründet. Hat Theodor Heuss das eigentlich alles nur so geduldet oder hat er das auch unterstützt? Was meinen Sie?
Merseburger: Er hat das unterstützt, weil er selber mal vorgeschlagen hat, eigentlich müssten die beiden Gütertrennung herbeiführen. Sie wissen, dass eigentlich der Mann der Frau wirtschaftlich vorschreiben konnte, was sie zu tun und zu lassen hatte, bis 1957.
Führer: Ja, er konnte ihr verbieten, arbeiten zu gehen, zum Beispiel.
Merseburger: Aber sie haben, die beiden Heuss, haben dafür schon eine ordentlich moderne Ehe geführt. Sie hat ihr eigenes Verdienst gehabt als Lehrerin und hat auf Vortragsreisen viel Geld verdient, vor allen Dingen im Sinne der Frauenemanzipation, ohne dass sie eine Suffragette war. Suffragetten, das war ihr zu eifrig, zu eifernd, das lehnte sie ab. Aber sie war und wirkte für die Befreiung der Frau und für die Emanzipierung der Frau, und hat auch sich sehr dafür eingesetzt und Werbesprüche fabriziert, die im ganzen Reich an Plakatsäulen geklebt wurden, als zum ersten Mal die Frauen stimmberechtigt waren durch die Nationalversammlung, bei der Wahl dafür, und hat gesagt, Frauen, geht zur Wahl.
Und sie waren auch intellektuelle Partner. Sie war eine Art Überredakteurin, die alles von ihm, was er schrieb, sehr kritisch betrachtete. Schon als Verlobte hat sie gesagt, du, was du da geschrieben hast, dieses Wort streich, das ist altfränkisch. Und dann hat sie mal gesagt, deine Kunstkritiken sind unverständlich. Er war ein Mann der Moderne um die Jahrhundertwende und ist es eigentlich immer geblieben. Er hat Liebermann gemocht, er hat die Berliner Sezession in Kritiken gelobt, und er war dann Geschäftsführer des Werkbundes, also für modernes Bauen, der Werkbund war ja im Grunde ein Vorläufer des Bauhauses oder das Bauhaus ein Ableger des Werkbunds. Aber wenn es zu intellektuell wurde, wie bei Gropius zum Teil, da hat er dann manchmal seine Bedenken gehabt. Heuss war bei aller Modernität und bei manchem Avantgardistischen war er doch immer ein Bürger, er blieb ein Bürger, und wenn Sie wollen, ist das seine provinzielle Verhaftung, die ihn auch so glaubwürdig macht.
Führer: Das sagt Peter Merseburger. Er ist der Autor der Biografie "Theodor Heuss – der Bürger als Präsident", gerade erschienen bei DVA, und Herr Merseburger, danke Ihnen herzlich für den Besuch hier im Funkhaus!
Merseburger: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.