"Er war ein sehr warmherziger Vater"

Moderation: Susanne Führer |
George Simenon ist einer der erfolgreichsten Krimischriftsteller Europas. Mit Kommissar Maigret schuf er eine unverwechselbare Ermittlertype. Sein Sohn Pierre tritt nun im Alter von 50 Jahren in seine Fußstapfen: Er hat seinen ersten Roman veröffentlicht.
Matthias Hanselmann: Der belgische Schriftsteller Georges Simenon, der Erfinder von Kommissar Maigret, gehört zu den ganz Großen und auch zu den Produktivsten seiner Zunft. 75 Kriminalromane mit Kommissar Maigret hat er geschrieben, dazu 100 sogenannte Non-Maigrets, unzählige Kurzgeschichten und Erzählungen und nebenbei circa 200 Groschenromane.

Dass sein Sohn Pierre lange Zeit nicht vorhatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, kann man sich gut vorstellen. Jetzt hat er es aber doch getan, im Alter von 50. Heute erscheint in deutscher Übersetzung sein erster Krimi, Titel: "Im Namen des Blutes". Meine Kollegin Susanne Führer hat sich mit Pierre Simenon unterhalten und ihn zunächst gefragt, ob es ihm auf die Nerven geht, immer auf seinen berühmten Vater angesprochen zu werden?

Pierre Simenon: Nein, überhaupt nicht! Erstens mal liebte ich meinen Vater und es gibt überhaupt keinen Grund, darauf genervt zu reagieren. Und die Erinnerung an seinen Namen, da habe ich nur angenehme Erinnerungen dabei!

Susanne Führer: Ich meine, so ein Name ist ja auch eine Last. Sie hätten theoretisch ja auch unter Pseudonym veröffentlichen können?

Simenon: Das stimmt, das hat man mir auch vorgeschlagen. Aber mein Buch handelt von einem Sohn, der seinen Vater so sehr liebt, dass er sich und seine Nächsten in Gefahr bringt, dass er das Leben von sich und seinen Nächsten riskiert. Es wäre also sehr feige gewesen, wenn ich mich jetzt versteckt hätte, Und es wäre auch feige gegenüber meinem Vater gewesen, feige meinen Figuren in meinem Roman gegenüber gewesen.

Nun ist es eine zweischneidige Sache mit diesem Namen. Einerseits ist das natürlich ein Werbeeffekt. Im Englischen würde man sagen, es ist ein Blessing, also, es ist etwas, wovon ich profitiere. Andererseits kommt dann natürlich immer wieder dieser Vergleich mit einem der besten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Aber es gibt überhaupt keinen Grund für mich, mich hinter seinem Namen zu verstecken.

Führer: Wie war denn Georges Simenon?

Simenon: Nun, Georges Simenon hatte vier Kinder. Jeder hat ihn natürlich zu einer ganz besonderen Phase und Epoche seines Lebens kennengelernt. Und ich habe Georges Simenon in den letzten 30 Jahren eben seines Lebens kennengelernt. Und er hat seinen Beruf als Vater unglaublich ernst genommen. Im Übrigen stand auch in seinem Ausweis als Beruf Vater. Und das verstehe ich sehr gut, seitdem ich selber der Vater von zwei Kindern bin.

Er war ein sehr warmherziger Vater, er war sehr präsent, obwohl er so viel zu tun hatte. Aber er arbeitete zu Hause und das heißt, man konnte ihn dann auch wirklich sehen. Den gleichen Vorteil genieße ich jetzt auch mit meiner Familie, mit meinen Kindern. Auch ich arbeite zu Hause.

Und Georges Simenon war als Vater sehr offen. Er war sehr verantwortungsbewusst. Es gab sehr wenig Verbote, die er uns erteilt hat. Er hat uns sehr viele Dinge von sich selbst anvertraut und er gab uns sehr viel Freiheit. Und ich kann ja hier nur für mich reden, aber wir haben oder ich habe diese Freiheit eigentlich auch nie wirklich ausgenutzt.

Führer: Dann kommen wir mal zu Ihrem Kriminalroman "Im Namen des Blutes". Das spielt auf zwei Zeitebenen, einmal im Heute – also, das heißt, im Jahr 1997 – und in der Vergangenheit – in diesem Fall im Jahr 1945, als Nazi-Deutschland in den letzten Zügen lag. Ich habe mich gefragt: Warum die NS-Zeit? Haben Sie dazu eine besondere Beziehung?

Simenon: Also, ich habe zwei Leidenschaften: Die eine Leidenschaft ist das Tauchen und die andere Leidenschaft ist die Geschichte, ganz egal ob es sich um das Mittelalter handelt oder um die Vorgeschichte. Aber natürlich, das 20. Jahrhundert und gerade auch der Zweite Weltkrieg, das sind natürlich Epochen, die historisch gesehen auch besonders wichtig waren.

Mein Vater hat beide Weltkriege mitgemacht, ich habe mit sehr vielen seiner Freunde geredet, mit vielen, die wirklich gekämpft haben. Mein Onkel hat den D-Day an der Juno Beach mitgemacht, er war in der ersten kanadischen Armee und ich glaube, es gibt keinen Krieg wie den Zweiten Weltkrieg, der so monströs war und der einen so großen Einfluss hatte. Und daher rührt sozusagen auch mein historisches Interesse.

Und dann werden Sie natürlich wissen, dass meinem Vater gegenüber Vorwürfe erhoben worden sind, er hätte mit den Nazis sympathisiert, er hätte mit den Deutschen sympathisiert. Und da gibt es natürlich eine gewisse Parallele zu meinem Buch, aber die ist wirklich nur zweitrangig. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens mal hatte ich das Glück, zu wissen, dass all diese Vorwürfe nicht stimmten, dass sie fehlerhaft waren, das haben sämtliche Autoritäten auch bestätigt, auch Kämpfer der Résistance, und zweitens mal habe ich nie einen Zweifel an seiner Unschuld gehabt.

Und in meinem Buch geht es nun um etwas anderes, da geht es eben darum, dass eben Kriegsverbrecher 60 Jahre lang unter uns normal haben leben können, gerade letzte Woche hat man in Ungarn noch einen Kriegsverbrecher enttarnt, der 15.000 Juden ins KZ verschleppt hat und hat ganz normal gelebt, der hatte Kinder, hatte Familie, er hatte Enkel.

Und wenn gerade die Enkel erkennen müssen, dass sie von einem Monster sozusagen mit abstammen, dann sind diese Enkel mit die letzten Opfer dieser Monster. Und das war so ein bisschen der Ausgangspunkt für diese Geschichte. Dieses Unvorstellbare, was einem dann auch noch in der zweiten und dritten Generation passieren kann. Also, das war der Ausgangspunkt, wie würde ich reagieren, wenn ich herausbekommen würde, mein Vater oder mein Großvater war ein Kriegsverbrecher?

Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit Pierre Simenon, dem jüngsten Sohn des Schriftstellers Georges Simenon. Pierre Simenons erster Kriminalroman "Im Namen des Blutes" erscheint nun auf Deutsch. Monsieur Simenon, mir scheint, es geht ja nicht nur um die Opfer in Ihrem Buch, sondern es geht auch um Schuld. Es geht um eine lang zurückliegende Schuld, die dann wieder zu neuer Schuld führt im Heute. Es geht um individuelle Schuld und auch um kollektive Schuld, zum Beispiel um das Verhalten der Schweizer Banken. Was interessiert Sie an diesem Thema, Schuld?

Simenon: Nun, das ist wirklich eine sehr gute Frage und das ist mir selbst gar nicht so bewusst geworden. Aber wenn wir Schuld im jüdisch-christlichen Sinne sehen, also, wenn man jüdisch-christlich erzogen worden ist, dann spielt die Schuld schon eine sehr wichtige Rolle. Und gerade im Zweiten Weltkrieg ist das eine Frage, die immer wieder aufgetaucht ist. Und ich bin in einem Land aufgewachsen, das nur dadurch überlebt hat, dass es Kompromisse mit Deutschland eingegangen ist. Und Deutschland war nun damals in der Welt sehr isoliert. Das führt schon zu Schuldgefühlen in der Schweiz, die immer wieder hervorkommen.

Und gerade in den 90er-Jahren, als sich dann gewisse Skandale um Bankkonten herausstellten, habe ich selber bei einer Schweizer Privatbank gearbeitet. Also, dieses Problem war mir durchaus bekannt. Was die persönliche Schuld angeht: Antoine Demarsand – das ist der Held in meinem Roman –, er ist ein Mensch, der eben auch zurück in die Vergangenheit schaut und plötzlich merkt, dass seiner Mutter gegenüber da eine Schuld aufgelaufen ist. Ja, und in diesem Buch geht es eben auch um Schuld und, ja, da Sie nun wirklich die Erste sind, die mich darauf so aufmerksam gemacht haben, müsste ich vielleicht auch mal mit einem Psychiater darüber reden, ob jetzt hier nicht irgendeine individuelle Schuld meine Seele belastet. Das wäre eine spannende Frage!

Führer: Im Zentrum Ihres Romans steht ja eine Vater-Sohn-Beziehung. Also, der Sohn bekommt eben Zweifel, ob sein geliebter Vater tatsächlich ein so reiner, feiner Mensch war, wie er bis dahin dachte, und er befürchtet, dass der Vater vielleicht schweres Unrecht begangen hat. Sie haben jetzt alle Parallelen zu Ihrem Leben und dem Ihres Vaters zwar zurückgewiesen, aber es gibt ja doch so eine ganze Menge von kleinen Hinweisen. Also, das Haus der Familie im Roman in der Nähe Lausannes scheint dem Ihrer Familie recht ähnlich zu sein, die Eltern der Hauptperson Antoine sind zerstritten, das waren Ihre auch, Antoine lebt in den USA wie Sie, Monsieur Simenon, er hat anfangs in einer Genfer Bank gearbeitet, Sie ebenfalls.

Haben Sie nicht trotzdem die Sorge, dass doch die meisten Leser jetzt nach Parallelen im Leben, in Ihrem Leben mit dem Ihres Helden suchen werden?

Simenon: Bewusst ist es mir auf jeden Fall, Angst habe ich überhaupt keine davor, weil, man schreibt ja nur über das, was man auch wirklich kennt, wo man sich auskennt, von dem man etwas versteht. Und es ist ja so: Mein Vater hat einmal gesagt, als Schriftsteller ist man so ein bisschen wie der Schwamm des Lebens, man saugt alles auf, alle Figuren, die man kennt, seine Nächsten, die Menschen, die einem nahestehen, aber auch Leute, die man auf der Straße vielleicht kennengelernt hat. Und das kommt dann Jahre später, vielleicht auch manchmal erst 20 Jahre später so mosaiksteinartig wieder zurück.

Und ich möchte noch einmal jemanden zitieren, ohne mich mit ihm vergleichen zu wollen, nämlich Hemingway: Dessen erster Roman "A fairwell to arms" beschreibt einen jungen amerikanischen Sanitäter in der italienischen Armee. Nun war auch Hemingway ein junger amerikanischer Sanitäter in der italienischen Armee und es ist trotzdem nicht Ernest Hemingway, um den es in diesem Buch geht, es ist trotzdem kein rein autobiografisches Buch. Aber wie ich schon sagte: Man schreibt über das, was man kennt.

Und ich kann aber sagen, dass dieses Buch, mein Buch überhaupt nicht autobiografisch ist. Und wenn man vielleicht die Teile, die am autobiografischsten erscheinen mögen, am wenigsten glaubt, aber die, die am wenigsten autobiografisch erscheinen, am ehesten für real nimmt, dann habe ich meinen Job als Autor getan. Und das – das habe ich durch Kritiken und so weiter bemerkt – ist mir wohl auch ganz gut gelungen.

Führer: Pierre Simenon, jüngster Sohn des Schriftstellers Georges Simenon. Pierre Simenons Kriminalroman "Im Namen des Blutes" erscheint jetzt im Limes Verlag. Merci beaucoup, monsieur Simenon! Und gedolmetscht hat Jörg Taszman, merci à toi aussi!

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