Erdbeben. Träume
Oper von Toshio Hosokawa
Libretto von Marcel Beyer
Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling
Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Uraufführung am 1.7.2018 an der Oper Stuttgart
Bedrückendes Bild einer brutalen Gesellschaft
Nach der Katastrophe: Eine kalte, unmenschliche Welt skizziert Toshio Hosokawa in der Oper "Erdbeben. Träume", die nun in Stuttgart subtil inszeniert uraufgeführt wurde. Das Libretto verfasste Schriftsteller Marcel Beyer nach einer Kleist-Novelle.
Eine Figur beherrscht die Bühne, obwohl sie keinen Ton von sich gibt. Es ist der Knabe, den wir am Ende von Heinrich von Kleists Erzählung über das Erdbeben in Chili, das dieser Oper zugrunde liegt, als Säugling bei seinen Pflegeeltern verlassen. In Marcel Beyers Opernlibretto für "Erdbeben. Träume" ist er herangewachsen und hat erfahren, dass seine Eltern nicht seine leiblichen sind.
In Traumszenen sucht er sich nun seine Vergangenheit zusammen, die ihn traumatisiert und also sprachlos gemacht hat. Die uneheliche Geburt, das Erdbeben, die Inhaftierung und Verurteilung zum Tod seiner Eltern, deren Rettung, bis der Pöbel sie doch noch lyncht.
Beklemmende Akkorde und Donnergrollen
Beyer reduziert die Handlung auf einzelne Situationen und Stimmungen, die zum Teil in expressionistischer Sprache aufgeladen sind.
Adäquat hat Toshio Hosokawa dazu keine lautmalerischen Katastrophenmusik komponiert, sondern alles in Atmosphäre klanglich aufgelöst. Da kann mit einem Donnergrollen ein Erdbeben evoziert werden, es ist aber doch eher die Heraufbeschwörung von Bedrohung. Die kalte Gesellschaft, in der so schnell nach Sündenböcken für die Naturkatastrophe gesucht wird, ist beklemmend in Akkorde gefasst, bis sie sich gelegentlich schreiend entlädt.
Hosokawas Musik skizziert eine Welt, in der Leben, menschliches Sein, nicht mehr möglich scheint. Mit fahlen Klänge, als geistere aus den Streichinstrumenten giftiger Windhauch, beginnt und endet die Oper – eine Endzeitvision.
Hierzu passend eine Betonbauruine, die Anna Viebrock als menschenabweisende Szenerie auf die Bühne gestellt hat.
Alle Elemente Kleists sind vorhanden
Die Figurenführung durch Regisseur Jossi Wieler steuert zu diesen eher assoziativen – schauspielerischen wie musikalischen – Szenen die realistische Handlung bei, sodass kein Element, das bei Kleist auftaucht, fehlt. Hinzu erfindet die Regie die Figur des heranwachsenden Knaben, der zärtlich und fast ungläubig den Säugling im Schoß seiner leiblichen Mutter streicht, sein früheres, kindliches Ich.
Das ist subtile Psychologie und zugleich politische Mahnung vor Exzessen wie der Judenverfolgung durch die Nazis, denn der Demagoge, der das Volk gegen das Liebespaar aufwiegelt, ist letztlich der Anstifter eines Pogroms. So mischen sich Seelenleben und brutale gesellschaftliche Realität zu einem bedrückenden Gesamtbild.