Der Wissenschaftstheoretiker und Kulturwissenschaftler Benjamin Steininger hat die Öl-Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg mit kuratiert und sagt im Interview, dass die Entwicklung der Moderne maßgeblich mit dem Rohstoff Erdöl verwoben ist. [AUDIO] Er wünscht sich aber für die Zukunft nachhaltigere Formen der Energiegewinnung.
Ambivalenter Treibstoff der Zivilisation
05:10 Minuten
Die Menschheit verbrennt unvorstellbare 15 Milliarden Liter Erdöl am Tag. Das Kunstmuseum Wolfsburg beleuchtet mit einer Schau diesen mächtigen Motor von Wirtschaft und Technologie und die zwiespältigen Folgen seines Wirkens für den Planeten.
Der Ichthyosaurus hat möglicherweise gelebt, als das Erdöl gerade entstand, also vor circa 180 Millionen Jahren. Als Algen auf den Meeresboden sanken und vom Schlamm zu Biomasse verdichtet wurden. An diesen Ursprung des Rohstoffs Öl erinnert im Kunstmuseum Wolfsburg das Skelett des Riesenfisches, das zwischen Wolfsburg und Braunschweig gefunden wurde.
"Er hat eine unglaubliche Schönheit aufgrund seines Alters. Wenn man sich vorstellt, dass damals alles unter Wasser war und hier diese Saurier geschwommen haben, dann ist das auch eine Schönheit, die durchaus im Kopf der Betrachter und Betrachterinnen abgehen kann", sagt Andreas Beitin, der vor drei Jahren die Leitung des Kunstmuseums Wolfsburg übernommen hat.
Der Einfluß des Öls auf die Geschichte der Moderne
Die Ausstellung "Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters" war noch von Beitins Vorgänger Ralf Beil geplant worden. Beil hatte damals die Vermutung geäußert, ihm sei gekündigt worden, weil das Thema der Kunststiftung Volkswagen unangenehm sei. Dem widerspricht Beitin:
"Ralf Beil ist gegangen, man hat sich einvernehmlich mit einem Auflösungsvertrag voneinander getrennt. Im Grunde genommen habe ich dann die Ausstellung übergangslos weiter fortgeführt und kann an dieser Stelle nur noch einmal betonen, dass diese Ausstellung mit seinem Weggang nichts zu tun hat."
Die Idee zur Ausstellung hatten die beiden Kulturwissenschaftler Andreas Klose und Benjamin Steininger, die schon länger in dem Kollektiv "Beauty of Oil" forschen. Wie würde ein Mensch aus der Zukunft auf unsere vom Erdöl geprägte Gegenwart schauen? Das war für die Kuratoren die Ausgangsfrage. Benjamin Steininger würde den Besuch aus der Zukunft nach Baku führen, der Hauptstadt von Aserbaidschan:
"Wir haben dort sehr unterschiedliche Formen der Moderne: die hochkapitalistische Moderne um 1900, die sozialistische Moderne und seit den 1990er-Jahren wieder eine Art despotische Moderne. Alle diese Modernen haben auf ihre Art und Weise vom Öl in Baku gelebt."
Wie das Erdöl menschlichen Größenwahn befeuert
In der Ausstellung zeigen Fotos von Rena Effendi die Spuren der Erdölförderung. Die Ölfelder reichen bis an die Ränder der Stadt, neben der Straße glitzern schwarze Öllachen, Schulkinder stehen zwischen rostenden Raffinerieanlagen.
Anfangs begleiteten die Künstler die Gewinnung des Erdöls allerdings mit großer Euphorie. In der Ausstellung beginnt die Kunst der Moderne zusammen mit der sogenannten Petromoderne.
Die italienischen Futuristen feierten Tempo und Dynamik von Rennwagen und Flugzeugen, das ging bis zur Verherrlichung des Krieges. Das aufheulende Auto sei schöner als die Nike von Samothrake, heißt es im futuristischen Manifest von 1913. Das Erdöl befeuert den Größenwahn.
"Es ist eine ungeheure Potenzsubstanz. Das heißt, es lässt uns Dinge machen, es steigert unsere Macht ins Unermessliche. In Goethes Faust heißt es: 'Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, sind ihre Kräfte auch die meinen.' Über die sechs Hengste lacht heute jeder Mofa-Pilot", sagt Benjamin Steininger.
Kein Entkommen vor den Erdölprodukten
Macht, Schönheit, Nahrung, Wärme - in der überbordenden Ausstellung gibt es kein Entkommen vor den Erdölprodukten. Im Eingang wächst ein giftgrüner Pelz von Bakterien in einer weißen Schale. Die fluffigen Strukturen wurden von dem Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger auf Schnüren angezüchtet, die mit Harnstoff getränkt sind.
Für die Herstellung von Kunstdünger sind Temperaturen von 500 Grad Celsius nötig. Industrielle Landwirtschaft konnte erst mit dem Erdöl beginnen. Ein ganzer Raum ist dem Plastik gewidmet. In einem kurzen Film erstickt sich die indische Künstlerin Aditi Joshi fast selbst unter einer durchsichtigen Plastiktüte.
"Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen - das ist mir ganz wichtig -, dass wir alle Teil des Problems sind", sagt Andreas Beitin. "Wir alle profitieren in umfangreichem Maße von dem, was man aus Öl machen kann. Das fängt an bei der Kleidung, Medikamente, Kosmetik. Wir würden alle mehr oder weniger nackt, ungeduscht und hungrig rumlaufen, wenn es das Öl nicht gäbe."
Erdöl hat unser Gefühl für Kraft, Geschwindigkeit, Entfernung und Reichtum geprägt und es hat unsere Wünsche geformt. Der Rundgang in Wolfsburg macht deutlich: Energiesparen bedeutet den Abschied von Allmachtsfantasien. Andernfalls allerdings ist dem Menschen das Schicksal des Ichthyosaurus beschieden.
Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters
Kunstmuseum Wolfsburg
bis 9. Januar 2022