Erdogan ist "beratungsresistent"
Der Regierungschef Recep Tayyip Erdogan habe kein Verständnis für die Folgen der momentanen Ereignisse in der Türkei, sagt Klaus Kreiser. Das Militär werde dieser gegen die Demonstranten in Istanbul aber wohl eher nicht einsetzen, so der Orientalist.
Christopher Ricke: Die gute Nachricht heute Morgen: In der Türkei ist es verhältnismäßig ruhig geblieben, es gab keine neue Gewalt, keine neue Eskalation, jedenfalls nicht in größerem Ausmaß. Dabei ist gestern doch eine neue Stufe beschritten worden in dieser Eskalation: Die türkische Regierung hat mit dem Einsatz der Armee gegen die Demonstranten gedroht. Das beunruhigt auch die Bundeskanzlerin, die sagte auf dem G8-Gipfel: "Dieser Umgang mit den Demonstranten ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel." Und der deutsche Außenminister Westerwelle:
Guido Westerwelle: Wenn in der Türkei die Bereitschaft auch zu Demonstrationen wächst, dann ist dieses auch ein Zeichen der Reifung der Zivilgesellschaft. Und davor sollte sich eine Regierung, die nach Europa blickt, nicht fürchten.
Ricke: Ich spreche jetzt mit Klaus Kreiser, der orientalistische Spezialist für die Türkei war Professor für türkische Sprache, Geschichte, Kultur an der Uni Bamberg. Guten Morgen, Professor Kreiser!
Klaus Kreiser: Guten Morgen noch mal.
Ricke: Jetzt sehe ich eine junge, gebildete Mehrheit, die gegen eine autoritäre Führung aufbegehrt, allerdings hat diese Führung – eine Minderheit sehe ich –, die Führung hat nämlich die Mehrheit hinter sich, und der Außenminister spricht von einer reifenden Gesellschaft. Teilen Sie diese Einschätzung?
Kreiser: Ich teile die Einschätzung natürlich, aber die Gesellschaft reift nicht nur in der Minderheit, sie reift auch in der Mehrheit. Erdogan sieht die Wahlen im kommenden März, also im Jahr 2014, und fordert seine Anhänger auf, die 50 Prozent also wörtlich zu knacken, ja? Er weiß, zu Recht oder zu Unrecht, dass er zahlreiche Anhänger hat, er hat viele versammelt, und er hat – ich habe mir seine Rede vom 16. Juni genau angesehen gestern –, er weiß seine Anhänger nicht nur in den winzigen Stadtparks zwischen Wiederauftreten von Istanbul, von Izmir, von Ankara, sondern er sagt: Meine Leute und die wahre Türkei, die ist in Kasimpasa, wo er herkommt, die ist im Stadtteil Fatih im historischen Teil Istanbuls, und sie ist in Üsküdar auf der asiatischen Seite. Er setzt Stadtviertel gegeneinander, andere sagen, das ist eine extreme Polarisierung.
Ricke: Heißt das, dass es eine Gruppe gibt, die durchaus europäische Werte hat und eine andere, die sich hinter Erdogan versammelt, der jetzt sein wahres Gesicht zeigt, der sich möglicherweise über Jahre verstellt hat?
Kreiser: Ich glaube nicht, dass sich Erdogan verstellt hat. Er hat sich nicht als Oberbürgermeister von Istanbul verstellt, er hat sich nicht als Parteichef verstellt, und er verstellt sich jetzt auch nicht als Ministerpräsident. Wenn man seine Worte und seine Taten über 20 Jahre verfolgt: Der Mann ist sich eigentlich erstaunlich treu geblieben. Nur unsere Medien, die westlichen Medien, vor allem die deutschen Medien, haben sich eher seine wirtschaftliche Erfolgsbilanz angesehen, seine beeindruckenden Investitionen im Bereich der Infrastruktur, und man darf jetzt bei der Auseinandersetzung um den Taksim-Platz auch nicht vergessen, Erdogan hat die Stadt Istanbul ausgesprochen vorangebracht. Und er sagt zu seinen Anhängern: Ich bin eigentlich der oberste aller Umweltschützer, unter niemandem ist mehr Grün in die Stadt gebracht worden. Und da hat er einfach recht.
Ricke: Die Wasserwerfer, die eingesetzt werden, die sind aber nicht zum Pflanzengießen da, sondern das ist wirklich eine heftige Auseinandersetzung. Jetzt gibt es auch noch die Drohung, im Fall der Fälle das Militär einzusetzen. Wie sehen Sie das?
Kreiser: Ja, darüber habe ich mich auch sehr gewundert. Ich habe mich auch gewundert, dass er das seinem Stellvertreter überlassen hat. Denn der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Bülent Arinc hat in den ersten Tagen der Auseinandersetzung um den Taksim einen ausgesprochen moderaten Kurs gesteuert und alle glaubten, er würde auf Erdogan einwirken. Man fragt sich natürlich: Warum kümmert sich der Ministerpräsident um Details wie ein Einkaufszentrum, während er die Frage des Einsatzes der Armee seinem Stellvertreter überlässt?
Ricke: Vielleicht finden wir die Antwort in der besonderen Rolle der türkischen Armee. Das Militär gilt ja nicht unbedingt als Hort der Demokratie, aber als Garant des säkularen Staates. Und der säkulare Staat, das hat mit Erdogan und seiner religiösen Partei nur bedingt zu tun.
Kreiser: Die Armee ist nicht mehr die Armee von vor 20 Jahren. Sie wissen ja auch, dass hohe Offiziere, Generäle in Untersuchungshaft auf ihr Urteil warten. Es ist ein hochriskantes Spiel, allerdings gibt es ja noch Zwischenstufen, und ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird, denn die Polizei ist, wie wir gesehen haben, hochgerüstet und loyal, dafür haben die Innenminister der vergangenen Jahre gesorgt. Sie ist auch vielleicht nicht zahlenmäßig so stark, wie es für diese … zur Unterdrückung dieser Bewegung erforderlich ist. Es werden Polizeieinheiten aus den Provinzen nach Istanbul geflogen. Aber auch in einigen Provinzstädten gärt es.
Ricke: Erdogan führt den Kampf gegen einen Teil seines Volkes, gegen einen Teil, der eigentlich aus vielen Hoffnungsträgern besteht. Und gegen das eigene Volk zu kämpfen, oder gegen einen Teil des eigenen Volkes zu kämpfen, das war eigentlich noch nie so richtig erfolgreich. Wird er denn schlecht beraten oder lässt er sich überhaupt beraten?
Kreiser: Er ist wahrscheinlich beratungsresistent, das sieht man sehr deutlich. Der Staatspräsident empfängt etwa den Präsidenten des Industriellenverbandes. Gerade die führenden Leute in der Industrie blicken sehr besorgt auf die Börsenkurse. Erdogan seinerseits hat nicht verstanden, dass jetzt nicht irgendwelche Ausländer, irgendwelche ausländischen Banken bewusst, um Geld zu machen, an der Zinsschraube drehen – dieses Verständnis fehlt ihm. Er ist ein Mensch, der gerne an die Verschwörung ausländischer Mächtegruppen, Personen, glaubt, das tut der Staatspräsident sicher nicht. Aber die Mitglieder der Regierung schweigen, sie sind ungewöhnlich schweigsam. Es gibt bisher nur wenige AKP-Mitglieder, die sich vorsichtig und verbal distanzieren, das ist eigentlich etwas bedrückend.
Ricke: Klaus Kreiser – der Orientalist ist Spezialist für die Türkei. Vielen Dank, Herr Kreiser. Und einen guten Tag!
Kreiser: Bitte schön, guten Morgen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Guido Westerwelle: Wenn in der Türkei die Bereitschaft auch zu Demonstrationen wächst, dann ist dieses auch ein Zeichen der Reifung der Zivilgesellschaft. Und davor sollte sich eine Regierung, die nach Europa blickt, nicht fürchten.
Ricke: Ich spreche jetzt mit Klaus Kreiser, der orientalistische Spezialist für die Türkei war Professor für türkische Sprache, Geschichte, Kultur an der Uni Bamberg. Guten Morgen, Professor Kreiser!
Klaus Kreiser: Guten Morgen noch mal.
Ricke: Jetzt sehe ich eine junge, gebildete Mehrheit, die gegen eine autoritäre Führung aufbegehrt, allerdings hat diese Führung – eine Minderheit sehe ich –, die Führung hat nämlich die Mehrheit hinter sich, und der Außenminister spricht von einer reifenden Gesellschaft. Teilen Sie diese Einschätzung?
Kreiser: Ich teile die Einschätzung natürlich, aber die Gesellschaft reift nicht nur in der Minderheit, sie reift auch in der Mehrheit. Erdogan sieht die Wahlen im kommenden März, also im Jahr 2014, und fordert seine Anhänger auf, die 50 Prozent also wörtlich zu knacken, ja? Er weiß, zu Recht oder zu Unrecht, dass er zahlreiche Anhänger hat, er hat viele versammelt, und er hat – ich habe mir seine Rede vom 16. Juni genau angesehen gestern –, er weiß seine Anhänger nicht nur in den winzigen Stadtparks zwischen Wiederauftreten von Istanbul, von Izmir, von Ankara, sondern er sagt: Meine Leute und die wahre Türkei, die ist in Kasimpasa, wo er herkommt, die ist im Stadtteil Fatih im historischen Teil Istanbuls, und sie ist in Üsküdar auf der asiatischen Seite. Er setzt Stadtviertel gegeneinander, andere sagen, das ist eine extreme Polarisierung.
Ricke: Heißt das, dass es eine Gruppe gibt, die durchaus europäische Werte hat und eine andere, die sich hinter Erdogan versammelt, der jetzt sein wahres Gesicht zeigt, der sich möglicherweise über Jahre verstellt hat?
Kreiser: Ich glaube nicht, dass sich Erdogan verstellt hat. Er hat sich nicht als Oberbürgermeister von Istanbul verstellt, er hat sich nicht als Parteichef verstellt, und er verstellt sich jetzt auch nicht als Ministerpräsident. Wenn man seine Worte und seine Taten über 20 Jahre verfolgt: Der Mann ist sich eigentlich erstaunlich treu geblieben. Nur unsere Medien, die westlichen Medien, vor allem die deutschen Medien, haben sich eher seine wirtschaftliche Erfolgsbilanz angesehen, seine beeindruckenden Investitionen im Bereich der Infrastruktur, und man darf jetzt bei der Auseinandersetzung um den Taksim-Platz auch nicht vergessen, Erdogan hat die Stadt Istanbul ausgesprochen vorangebracht. Und er sagt zu seinen Anhängern: Ich bin eigentlich der oberste aller Umweltschützer, unter niemandem ist mehr Grün in die Stadt gebracht worden. Und da hat er einfach recht.
Ricke: Die Wasserwerfer, die eingesetzt werden, die sind aber nicht zum Pflanzengießen da, sondern das ist wirklich eine heftige Auseinandersetzung. Jetzt gibt es auch noch die Drohung, im Fall der Fälle das Militär einzusetzen. Wie sehen Sie das?
Kreiser: Ja, darüber habe ich mich auch sehr gewundert. Ich habe mich auch gewundert, dass er das seinem Stellvertreter überlassen hat. Denn der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Bülent Arinc hat in den ersten Tagen der Auseinandersetzung um den Taksim einen ausgesprochen moderaten Kurs gesteuert und alle glaubten, er würde auf Erdogan einwirken. Man fragt sich natürlich: Warum kümmert sich der Ministerpräsident um Details wie ein Einkaufszentrum, während er die Frage des Einsatzes der Armee seinem Stellvertreter überlässt?
Ricke: Vielleicht finden wir die Antwort in der besonderen Rolle der türkischen Armee. Das Militär gilt ja nicht unbedingt als Hort der Demokratie, aber als Garant des säkularen Staates. Und der säkulare Staat, das hat mit Erdogan und seiner religiösen Partei nur bedingt zu tun.
Kreiser: Die Armee ist nicht mehr die Armee von vor 20 Jahren. Sie wissen ja auch, dass hohe Offiziere, Generäle in Untersuchungshaft auf ihr Urteil warten. Es ist ein hochriskantes Spiel, allerdings gibt es ja noch Zwischenstufen, und ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird, denn die Polizei ist, wie wir gesehen haben, hochgerüstet und loyal, dafür haben die Innenminister der vergangenen Jahre gesorgt. Sie ist auch vielleicht nicht zahlenmäßig so stark, wie es für diese … zur Unterdrückung dieser Bewegung erforderlich ist. Es werden Polizeieinheiten aus den Provinzen nach Istanbul geflogen. Aber auch in einigen Provinzstädten gärt es.
Ricke: Erdogan führt den Kampf gegen einen Teil seines Volkes, gegen einen Teil, der eigentlich aus vielen Hoffnungsträgern besteht. Und gegen das eigene Volk zu kämpfen, oder gegen einen Teil des eigenen Volkes zu kämpfen, das war eigentlich noch nie so richtig erfolgreich. Wird er denn schlecht beraten oder lässt er sich überhaupt beraten?
Kreiser: Er ist wahrscheinlich beratungsresistent, das sieht man sehr deutlich. Der Staatspräsident empfängt etwa den Präsidenten des Industriellenverbandes. Gerade die führenden Leute in der Industrie blicken sehr besorgt auf die Börsenkurse. Erdogan seinerseits hat nicht verstanden, dass jetzt nicht irgendwelche Ausländer, irgendwelche ausländischen Banken bewusst, um Geld zu machen, an der Zinsschraube drehen – dieses Verständnis fehlt ihm. Er ist ein Mensch, der gerne an die Verschwörung ausländischer Mächtegruppen, Personen, glaubt, das tut der Staatspräsident sicher nicht. Aber die Mitglieder der Regierung schweigen, sie sind ungewöhnlich schweigsam. Es gibt bisher nur wenige AKP-Mitglieder, die sich vorsichtig und verbal distanzieren, das ist eigentlich etwas bedrückend.
Ricke: Klaus Kreiser – der Orientalist ist Spezialist für die Türkei. Vielen Dank, Herr Kreiser. Und einen guten Tag!
Kreiser: Bitte schön, guten Morgen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.