Import, Export, Bankrott?
Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise: Seit Monaten ist die Lira auf Talfahrt. Befeuert wurde diese Situation von einem Handelsboykott durch die USA. Doch der größte Teil des Niedergangs ist hausgemacht.
Die Mümin-Deresi-Straße, die durch ein Istanbuler Wohnviertel unweit der Autobahn Richtung Flughafen führt, verwandelt sich jeden Samstag in einen Wochenmarkt. Weiße Planen überspannen wie ein Dach die Stände der Händler, die rechts und links entlang der Straße ihre Waren feilbieten. Die Kunden begutachten Tomaten in einem halben Dutzend Größen und Rottönen, Oliven und Fisch aus allen Regionen der Türkei und Berge von Trockenobst und Nüssen. Alte Frauen mit geblümten Kopftüchern finden sich hier neben Müttern und Töchtern mit Kurzhaarschnitt und Pferdeschwanz und Vätern, die ihre Kinder auf den Schultern tragen. Viele ziehen große Einkaufstaschen auf Rollen hinter sich her. Anderen hängen die Arme schwer vom Tütenschleppen.
Der 25-jährige Delal Uzbaş hat einen kleinen Stand hier. Er verkauft Trauben, Bohnen, Tomaten und auch Leckerbissen wie Waldpilze, Artischocken und Avocados. Aber die teuren Waren gehen momentan nicht so gut, sagt Uzbaş. Denn die Preise für Lebensmittel allgemein sind in den vergangenen Monaten stark gestiegen.
"Zum Beispiel Trauben: Die kosteten letztes Jahr vier Lira das Kilo, jetzt kosten sie sieben, acht oder gar zehn Lira. Denn bis sie bei uns ankommen, muss der Zwischenhändler seine Kosten für Transport und Verpackung draufschlagen, und auch für diese Transportkisten. Die sind jetzt teuer, denn sie werden im Ausland hergestellt. Wie können die Kunden das bezahlen, mein Lieber? Sie verdienen nur einen Mindestlohn von 2000 Lira und müssen sieben Lira für Trauben bezahlen, acht Lira für Tomaten, wie soll das Geld da reichen? Alle schimpfen über diese Situation. Jetzt kaufen die Leute nur die notwendigen Dinge."
Die Wirtschaft der Türkei steckt in einer tiefen Krise. Das sich ständig verschlechternde Verhältnis zu den USA mündete in weiteren US-Sanktionen, die die türkische Lira im August einbrechen ließ. Diese Krise hat aber vor allem hausgemachte strukturelle Probleme. Die Lira hatte bereits seit dem vergangenen Jahr massiv an Wert verloren. Vor einem Jahr kostete ein Euro um die vier Lira, heute steht er bei um die sieben Lira. Das hat bereits einige Firmen in den Ruin getrieben, die ihre Rohstoffe in harter Währung bezahlen müssen.
Die Inflation liegt derzeit bei rund 25 Prozent. Uzbaş's Geschäft tut dies allerdings erst einmal keinen Abbruch – im Gegenteil:
"Wir haben jetzt mehr Kundschaft, weil keiner mehr in den Supermärkten einkauft. Sie kommen jetzt alle auf den Markt, denn hier ist es am billigsten."
"Wir sind ziemlich sauer"
Aber er und seine Familie leiden auch selbst unter der hohen Inflation:
"Zum Beispiel letzten Monat haben wir noch 300 Lira für Strom bezahlt, diesen Monat sind es 600. Gas, da sind die Kosten 80 bis 90 Prozent höher dieses Jahr. Wir wissen noch nicht, was wir diesen Winter anfangen werden. Wir verdienen ja auch nicht so viel. Wir sind ziemlich sauer."
Im September hat die türkische Zentralbank die Leitzinsen erhöht, um den Verfall der Lira zu stoppen. Sie liegen jetzt bei satten 24 Prozent. Das ist laut Finanzexperten zwar das Mittel der Wahl in einer Währungskrise, befeuert jedoch die ohnehin schon hohe Inflation weiter, und die Bürger bekommen das empfindlich zu spüren.
Niemand traut sich, Kritik an der Regierung zu üben
Auch der 38-jährige Erol Öztürk klagt über gestiegene Preise ohne ausreichenden Lohnausgleich:
"Alles ist teurer geworden, wegen des hohen Dollars, denn viele Produkte werden importiert. Als ich vorhin auf dem Weg hierher war, habe ich diese Minzbonbons gekauft. Dafür habe ich sonst immer drei Lira bezahlt, jetzt kosten sie plötzlich fünf Lira. Der Verkäufer sagte, wir bekommen die aus den Niederlanden. Unsere Löhne steigen aber nicht so stark, wie die Inflation. Im Juni habe ich eine Lohnerhöhung von acht Prozent bekommen; die Inflation liegt jetzt aber bei 25 Prozent. Ich verliere also 17 Prozent von meinem Geld. Aber Gottseidank habe ich wenigstens eine Erhöhung bekommen und bin nicht entlassen worden, so wie das vielen jetzt geht."
Erol Öztürk ist nicht sein richtiger Name. Den möchte er nicht nennen, denn er macht vor allem die Regierung für die Krise verantwortlich. Offen Kritik zu üben, traut sich unter dem zunehmend restriktiven politischen Klima in der Türkei jedoch kaum noch jemand. Die Folgen der Krise beobachtet Öztürk tagtäglich in seinem Job. Er arbeitet für eine Import-Export-Firma, die den Transport von Waren aller Art in und aus der Türkei organisiert:
"Die genauen Zahlen kenne ich nicht, aber ich schätze der Import ist etwa um 20 bis 25 Prozent zurückgegangen und der Export etwa zehn bis 15 Prozent. Durch den starken Dollarkurs könnte man jetzt mehr exportieren, aber viele Rohmaterialien für die Exportprodukte müssen importiert werden. Wir produzieren nicht genug selbst. Deshalb trifft es den Exportsektor auch."
Die Türkei exportiert viel weniger als sie importiert
Damit benennt Öztürk einen der Hauptgründe für die derzeitige Krise. Die Türkei hat ein massives Außenhandelsdefizit – das heißt, sie exportiert viel weniger als sie im Ausland einkauft. Das war schon während der Regierung vor Präsident Erdogan so, ist jedoch in den 16 Jahren, seitdem die AKP das Land regiert, noch einmal stark angestiegen. Erol Öztürk kann es direkt den Büchern seiner Firma entnehmen, wieviel da importiert wird und auch in den Läden ist es offensichtlich.
Geht man in einen beliebigen Supermarkt, finden sich in den Regalen meist rund 30 bis 50 Prozent Importprodukte, von Tomatensoße über Milchprodukte oder Süßigkeiten bis Tütensuppe, vieles davon aus Deutschland. Elektronik, Fahrzeuge, Baumaschinen und Ersatzteile werden fast ausschließlich importiert oder in der Türkei nur zusammengesetzt und unter heimischem Label verkauft.
Erol Öztürk ist sauer auf die Regierung Erdogan, weil er ihre Politik falsch findet:
"Anstatt dass wir Fabriken bauen und uns auf Produktion konzentrieren, bauen wir diese sinnlosen Immobilien und zerstören unsere Umwelt. Das hilft unserer Wirtschaft nicht weiter. Unser ganzes Land ist voller Immobilien, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Entlang des Bosporus sieht man so viele Hochhäuser. So ein Quatsch! Viele davon stehen leer und suchen nach Käufern. Letzte Woche habe ich eine Werbung gesehen, dass sie jetzt zehn Prozent Rabatt auf die Wohnungen geben. Immer neue Immobilien zu bauen, wird unsere Wirtschaft nicht weiterentwickeln. Das ist nur dafür da, damit sich bestimmte Leute bereichern können."
Über die vergangenen Jahre war es vor allem der Bausektor, der das türkische Wirtschaftswachstum befeuert hat und bei dem der Staat kräftig mitverdiente. Das System funktioniert so: Die halbstaatliche Immobilienfirma Emlak Konut kauft von der Behörde für Wohnungsbau, TOKI, öffentliches Land und entwickelt darauf Immobilienprojekte, meist mithilfe privater Subunternehmer, Investoren und Baufirmen.
Lukrative Immobiliengeschäfte mit staatlicher Sicherung
Mit dem Profit aus diesen Projekten – häufig Luxusapartments und Einkaufszentren – wurde unter anderem der soziale Wohnungsbau finanziert. Keine schlechte Idee eigentlich, denn so entstanden auch für die einfachen Leute erschwingliche Eigentumswohnungen, die über ein Losverfahren vergeben und durch sehr günstige Kredite und Zahlungsbedingungen finanziert werden konnten. Die beteiligten Baufirmen erhielten lukrative, weil staatlich gesicherte Projekte und schufen Arbeitsplätze. An dem neuen Wohlstand konnten plötzlich breite Teile auch der ländlichen Bevölkerung teilhaben, denn überall entstanden staatlich finanzierte Wohnblocks, die die ehemaligen Bauern in die Städte zogen und auch die ehemals informellen Slums der Großstädte in vorzeigbare Wohngegenden verwandelten.
Die AKP wächst mit dem Bauboom
Aus diesem Wachstum und der städtebaulichen Transformation zugunsten der ärmeren Schichten erklärt sich ein großer Teil des politischen Erfolgs der regierenden AKP. Regierungskritiker monieren jedoch, dass bei diesen Bauprojekten Korruption und Vetternwirtschaft grassiere, denn Emlak Konut müsse keinerlei Rechenschaft über ihre Finanzen ablegen oder an wen die Bauaufträge vergeben werden. Zudem stellt die finanzielle Struktur von Emlak Konut nun in der Krise ein Problem dar. Denn neben den staatlichen Anteilen finanziert sie sich zu 49 Prozent über private Geldgeber, darunter viele ausländische Banken, Investmentfirmen und Fondsgesellschaften. Durch die schwache Lira hat sie nun Schwierigkeiten, die Kredite zurückzuzahlen.
Es wurde zu viel und zu schlecht gebaut
Während des Immobilienbooms sei viel zu viel gebaut worden und häufig in nicht besonders guter Qualität, sagt auch der 35-jährige Immobilienverkäufer Fatih Selman. Er ist seit etwa zehn Jahren im Geschäft und kennt sich gut aus. Auch er möchte lieber anonym bleiben.
"Wir haben heute zu viele Bauprojekte, das übersteigt den Bedarf. Jeder fing plötzlich an zu bauen, Unternehmer schlossen ihre Fabriken und kauften lieber Immobilien. Sie haben sich damals vor etwa zehn Jahren ausgerechnet, dass sie über die Mieten in sieben, acht Jahren die Hälfte ihrer Investition wieder drin haben würden. Deshalb gab es einen riesigen Immobilienboom. Aber jetzt läuft es nicht mehr, nun stehen sie da und sehen, dass sie mit ihren Projekten pleitegehen werden."
Quadratmeterpreis von 4000 US-Dollar in Istanbul
Selman arbeitet heute für eine private Immobilienfirma, die Luxusapartments und Hotels baut. Er steht auf dem Dach seines Prestigeprojekts, in dem sich auch das Büro der Firma befindet: eine luxuriöse Wohnanlage mit Hochhäusern aus Glas. Er macht sich keine Sorgen um einen Preisverfall dieser Immobilie. Ein Luxusobjekt von hoher Qualität und bei der Lage mit Blick auf den Bosporus und die Altstadt: Das geht immer, meint er. Selbst wenn er den derzeitigen Quadratmeterpreis von 4000 US Dollar auf 3000 US Dollar herabsetzen müsse, werde er noch genug Profit machen; denn 80 Prozent der Wohnungen seien schon verkauft, die Kosten damit mehr als drin.
Aber die Masse an Bauprojekten sei allgemein schlecht für den Markt, besonders mit Blick auf die internationalen Käufer, die Selmans Firma bedient, sagt er:
"Wenn man überproduziert, dann leiden Qualität und Ruf. Ich denke, einige Firmen haben es verdient, Bankrott zu gehen, denn sie produzieren über Bedarf. Sie bauen billig und schnell und zerstören damit die ganze Baukultur. Ich glaube, wenn von zehn vier verschwinden, dann haben wir nichts verloren. Es würde den Markt beleben."
Wenn das schnelle Geld lockt
Selman steht hinter der Regierung, findet jedoch, dass sie mit dem engen Fokus auf den Bausektor Fehler gemacht habe:
"Alle schauen darauf, wie sie schnell Geld verdienen können, auch die Regierung. Dieses Denken hat uns hierher geführt. Die Wirtschaft ist aus der Balance geraten."
Selman schaut über den Küstenstreifen am Bosporus hinüber zu einem Megabauprojekt, das gerade mithilfe von Emlak Konut realisiert wird.
"Sie bauen da 1000 oder 2000 Wohneinheiten. Bisher haben sie circa 20 Prozent verkauft. Sie müssen aber mindestens 50 Prozent verkaufen, um ihre Kosten zu decken und selbst dann ist es noch schwierig, das Projekt zu managen, denn es ist riesig. Ich glaube, dass sie scheitern werden. Und was dann passieren wird: Die Kunden, die bereits gekauft haben, werden sehr sauer sein und es wird sich eine sehr negative Energie im Markt breitmachen. Es gibt viele solcher Projekte und wenn sie scheitern, dann werden alle den Markt ernsthaft infrage stellen und dann bekommen wir vielleicht eine Immobilienkrise."
Der Markt wird es selbst richten?
Selman glaubt weder, dass die Regierung eingreifen wird, noch dass sie es sollte. Ganz wirtschaftsliberal meint er, der Markt müsse sich selbst bereinigen:
"Ich glaube nicht, dass sie einen Plan haben, wie es mit dem Immobiliensektor weitergehen soll. Der Markt muss das selbst übernehmen. Die Leute müssen lernen, die Firmen müssen lernen und nicht immer auf die Regierung warten. Die Regierung besteht auch nur aus Menschen, die Fehler machen können. Ich glaube auch, sie wird den Immobilienmarkt nicht anfassen, denn sie hat Angst, wie der Markt darauf reagieren könnte. Deshalb lässt sie es so weiterlaufen."
Neben den Verbrauchern und dem Immobiliensektor trifft die Krise zurzeit jene am härtesten, die ihre Waren oder Rohstoffe aus dem Ausland beziehen und diese in Euro oder Dollar bezahlen müssen, im Inland jedoch Lira dafür bekommen. Der 38-jährige Mehmet Engin vertritt ausländische Hersteller für Medizinprodukte. Er verkauft medizinisches Gerät und Verbrauchsgüter wie Einmalhandschuhe und Kanülen. Auch er bittet darum, nicht seinen richtigen Namen zu nennen. Nicht aus politischen Gründen, denn er steht hinter der AKP-Regierung, aber er befürchtet Ärger mit seinen Auftraggebern, wenn er so offen über die geschäftlichen Probleme spricht.
Engins Kunden sind vor allem türkische Krankenhäuser. Die Verträge laufen über mindestens ein Jahr. Der Preis für die Produkte und Geräte wird zu Anfang festgelegt, aufgrund dessen kalkulieren die Krankenhäuser ihr Budget. Das alles läuft in Lira, Engin bezieht seine Produkte jedoch zu Preisen in Dollar und Euro:
"Früher liefen die Verträge über ein Jahr, jetzt sind es eineinhalb oder zwei Jahre. Wenn du also zwei Jahre zuvor zu dem damaligen Wechselkurs deine Preise festgelegt hast, dann verlierst du im Laufe der Zeit viel Geld."
Schlechte Zahlungsmoral der Kunden
Und das ist nicht das einzige Problem. Neben den langen Vertragslaufzeiten sorgt die schlechte Zahlungsmoral mancher Kunden derzeit für zusätzliche Schwierigkeiten.
"Das ist mittlerweile das größte Problem, sowohl bei privaten als auch bei staatlichen Krankenhäusern. Wenn ein Krankenhaus früher innerhalb von fünf Monaten gezahlt hat, dann zahlt es heute innerhalb von acht Monaten. Heute hatte ich zwei Kunden mit einer fälligen Rechnung, die nicht zahlen wollten, weil sie nicht flüssig sind. Ich glaube, das wird bis Ende des Jahres noch schlimmer werden. Vielleicht werden einige Krankenhäuser sogar schließen müssen."
"Sie glauben nicht mehr an die türkische Wirtschaft"
Wegen all dieser Schwierigkeiten hat sein Hauptauftraggeber entschieden, sich im nächsten Jahr aus dem türkischen Markt zurückzuziehen, wenn seine Verträge ausgelaufen sind.
"Sie glauben nicht mehr an die türkische Wirtschaft. Sie sagen, vielleicht können wir so in 2032 oder 33 zurückkommen."
Eine schwache Lira an sich sei erstmal kein Problem, meint Engin. Schwierig werde es, wenn die Wechselkurse zu stark schwanken.
"Wenn er heute 50 Cent weniger kostet und morgen einen Euro mehr, dann macht das die Unternehmer sehr nervös. Sie warten dann mit Angeboten ab und auch damit ihre Rechnungen zu bezahlen. Ein Freund, der im Bausektor arbeitet, erzählte mir heute, sie hatten sich an einer Ausschreibung beteiligt und die Kosten mit 100.000 Dollar kalkuliert. Das waren zu der Zeit 400.000 Lira. Und fast über Nacht waren es dann plötzlich 600.000 Lira. Wenn er zwei solcher Projekte hat, dann muss er bankrott anmelden."
Kurzfristig gibt es jedoch auch Gewinner der Krise. Für Touristen vor allem aus der Eurozone ist die Türkei derzeit attraktiv wie nie, weil spottbillig. Die Betreiber der Hotels und Restaurants in den Urlaubsgebieten am Mittelmeer haben sich über eine gute Saison gefreut.
Produzieren wie die Chinesen
Auch die Textilbranche, die neben dem Bausektor, der Landwirtschaft und dem Tourismus zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen der Türkei gehört, ist bisher kaum von der Krise betroffen. Zum Teil profitiere sie gar von der schwachen Lira, sagt Cenk Karabulut. Der 37-Jährige arbeitet für einen der größten Hersteller von Stoffen in der Türkei. Auch er hat darum gebeten, seinen Namen zu ändern, denn er sei nicht autorisiert, für seine Firma zu sprechen:
"Wir können jetzt etwa zum gleichen Preis produzieren wie die Firmen in China. Deshalb wird die Türkei beliebter bei den Abnehmern. Ein Textilarbeiter in China verdient etwa 600 US-Dollar im Monat. Das ist etwa doppelt so viel, wie jetzt ein Arbeiter in der Türkei bekommt, der den Mindestlohn verdient. Unsere Kosten wie Löhne, Strom und Wasser bleiben für uns ja eigentlich die gleichen, weil wir sie in Lira bezahlen, aber unsere Kunden können für ihre Dollars mehr Ware bekommen, denn wir verkaufen die Stoffe in Dollar. Einige Abnehmer sind schon auf uns zugekommen und haben gesagt, wir haben bisher eine Million Meter Stoff in China herstellen lassen. Könnt ihr die gleiche Menge in der gleichen Qualität herstellen? Das können wir, denn in den letzten zwei Jahren haben wir investiert und mehr Maschinen angeschafft. Und wir können jetzt zum selben Preis herstellen wie die Chinesen."
In der Textilbranche läuft es gut
Die einfachen Arbeiter in Karabuluts Firma verdienen alle den türkischen Mindestlohn von 2000 Lira. Vor einem Jahr waren das noch rund 500 Euro, jetzt sind es etwas weniger als 300 Euro. Bei mehr als 3000 Arbeitern, die die Firma beschäftigt, macht das viel aus und sorgt dafür, dass sie und andere türkische Hersteller im Vergleich zu anderen Ländern nun wesentlich günstiger produzieren können.
"In der Textilbranche laufen die Geschäfte gerade richtig gut."
Ein weiterer Grund, weshalb die Textilbranche nicht so stark von der Krise betroffen ist, sei, dass die meisten Geschäfte der Hersteller und Zulieferer untereinander in Euro und Dollar abgewickelt würden. Und wenn doch von Dollar in Lira umgerechnet wird, dann schließen die Firmen untereinander Deals, um den Effekt des Währungsverlusts auszugleichen.
"Zum Beispiel, wenn uns jemand eine Million Dollar für gelieferte Ware schuldet: Als er die Order gegeben hat waren das 4,2 Millionen Lira, aber jetzt sind es sieben Millionen Lira. Dann ist da eine Differenz von 2,8 Millionen Lira. Er sagt dann, ok, lass mich 1,5 Millionen extra bezahlen, nicht 2,8. Dann übernimmt jeder ungefähr die Hälfte. Oder man einigt sich auf monatliche Raten zu einem festen Wechselkurs. Oder der Kunde sagt, ich gebe dir einen Schuldschein und bezahle in einem Jahr. Man findet da meist einen Kompromiss, denn man arbeitet immer mit denselben Kunden."
Es wird wieder mehr in der Türkei produziert
Solche Deals existieren jedoch nur, wenn Produzenten und Zulieferer sich gut kennen und seit Jahren zusammen arbeiten. Karabulut meint, die Krise habe auch etwas Positives, denn durch den hohen Dollar und Eurokurs sei es sehr viel teurer geworden, Rohmaterialien im Ausland zu kaufen. Deshalb besönnen sich zahlreiche Hersteller jetzt darauf, sie vor Ort in der Türkei zu produzieren
"Unsere Hersteller entwickeln sich weiter. Zum Beispiel einer der früher seine Stoffe importiert hat, stellt sie jetzt selbst her - und zwar zum gleichen Preis und mit der gleichen Qualität. Dann sehen andere das und machen es genauso und verbessern damit auch gleich noch die Qualität ihrer Produkte. Sie müssen sich dann nicht mehr damit herumschlagen, ob das Material, dass sie aus China bekommen, die passende Qualität hat. Sie haben ihre türkischen Ingenieure und Techniker hier, die das gleich vor Ort prüfen. So wird die Krise für uns zu einer Chance."
Vielleicht sieht Karabulut die Lage auch deshalb so optimistisch, weil er hinter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan steht, die die gleichen Aussagen vertritt wie er. Der junge Mann lächelt als er sagt, dass es in der türkischen Mentalität liege, aus Krisen Chancen zu machen.
"Wir Türken schauen eigentlich nie pessimistisch in die Zukunft. Wir haben aus der letzten Krise auch gelernt und uns fallen in solchen Situationen immer neue Lösungen ein. So entwickeln wir uns weiter. Ich glaube, so wird es auch dieses Mal sein."