Tote Arbeiter, gerodete Bäume, hohe Profite
Er gilt als künftig größter Flughafen der Welt und soll am 29. Oktober offiziell eröffnen. Der türkische Präsident Erdogan hat den Standort bei Istanbul selbst ausgewählt. Ein weiteres Mega-Projekt, das Baufirmen begünstigt und die Umwelt schädigt.
Der Belgrader Wald nördlich von Istanbul. Benannt nach serbischen Kriegsgefangenen, die Süleyman der Prächtige nach der Belagerung Belgrads hierher ansiedelte. Heute kommen die Menschen freiwillig in das letzte stadtnahe Erholungsgebiet auf der europäischen Seite der 17 Millionen-Einwohner-Metropole.
An Wochenenden sind die mitten im Wald gelegenen Parkplätze restlos belegt. Dichte Rauchschwaden bilden sich über den Picknickplätzen, wo die Grills auf Hochtouren laufen. Abseits von Park- und Grillflächen genießen Jogger, Spaziergänger und Radfahrer die frische Waldluft.
Früher war der Belgrader Wald noch größer. Aber mit der Zeit haben sich Hochhäuser immer weiter hineingefressen. Vor allem während der letzten drei bis vier Jahrzehnte.
Bosporusbrücken zum Schaden der Umwelt
"Der letzte Masterplan zur Gestaltung der Stadt wurde 2009 verabschiedet. Darin wurde festgelegt, dass die ökologischen Schutzgebiete im Norden Istanbuls nicht angerührt werden dürfen", sagt Mücella Yapici, Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer.
"Doch bereits der Bau der ersten Bosporusbrücke in der ersten Hälfte der 1970er Jahre hatte genau das Gegenteil bewirkt. Schon damals begann sich die Stadt mit ihren Wohngebieten und Geschäftszentren Richtung Norden auszudehnen. Beim Bau der 1988 eröffneten zweiten Bosporusbrücke haben wir Städteplaner dann erst recht aufgeschrien, denn diese zweite Brücke hat insbesondere die Feuchtgebiete und Trinkwasserzonen nördlich der Stadt angegriffen. Die Umweltschäden waren so massiv, dass die Politik regelrecht schwor, nicht weiter Richtung Norden zu planen. Einer dieser Politiker war Recep Tayyip Erdogan - damals Oberbürgermeister Istanbuls."
1994 sagte Erdogan:
"Auch wenn das Vorhaben teuer ist: Die modernste Möglichkeit, den Bosporus zu überqueren ist der Bau von zwei Tunneln, und zwar einmal für die U-Bahn und einmal für Autos. Diese beiden Tunnel könnten die Kapazität von fünf Brücken ersetzen. Eine dritte Bosporusbrücke würde die noch übriggebliebene Lunge der Stadt Istanbul zerstören. Das wäre ein ernster Fehler."
Ein U-Bahntunnel und einer für Autos sind inzwischen in Betrieb. Aber es wurde auch das begangen, was Erdogan als ernsten Fehler bezeichnete. Als türkischer Regierungschef legte er selbst 2013 den Grundstein für die dritte Bosporusbrücke, an der Mündung ins Schwarze Meer:
"Wir werden im Zentrum Istanbuls ab demnächst keine Lastwagen mehr durchfahren sehen. Die schweren Fahrzeuge müssen hier rüber, über die dritte Brücke. Nach den bereits bestehenden Bosporusbrücken schenken wir dieser prächtigen Stadt eine weitere, ihre dritte Perlenkette."
Dritte Bosporusbrücke nach "Dem Grausamen" benannt
Eine Brücke der Superlative: Ihre Pfeiler sollten mit 322 Metern die höchsten der Welt werden, vier Fahrspuren in jede Richtung, in der Mitte können Bahngleise verlegt werden. Das Problem: Um die Brücke zu erreichen, musste eine neue Autobahn gebaut werden. Mit Blick auf die Wälder im Norden der Stadt, sprach Erdogan von einer Ökoautobahn, die teilweise auf Stelzen gebaut würde. Trotzdem wurden nach Angaben von Naturschützern für den Autobahnbau 1,6 Millionen Bäume gefällt.
Einen Namen für die "neue Perlenkette des Bosporus" verkündete der damalige Staatspräsident Abdullah Gül bereits bei der Grundsteinlegung 2013:
"Wie Sie wissen trägt die erste Bosporusbrücke den Namen unseres Staatsgründers und ersten Präsidenten der Republik, Kemal Atatürk. Die zweite Bosporusbrücke wurde auf den Namen des Eroberers der Stadt Istanbul getauft: Sultan Mehmet. Die dritte Brücke nun soll Yavuz-Sultan-Selim-Brücke heißen."
Ein Sultan, dem der Name "Der Grausame" verliehen wurde, unter anderem weil er seine Brüder und seine Neffen hinrichten ließ. Finanziert wurde das 3,2 Milliarden Euro-Bauwerk als sogenanntes Public-Privat-Partnership-Projekt. Ein internationales privates Konsortium baut und betreibt die Brücke. Nach zehn Jahren gehört sie dem Staat. Das Betreiber-Konsortium darf solange die Mauteinnahmen kassieren. Eine Finanzierungsmethode, die in der Türkei bei Großprojekten gang und gäbe ist. Der Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez, der unter anderem für die renommierte Zeitung Cumhuriyet gearbeitet hat, bezeichnet diese Art von Projekten als doppelte Last für den türkischen Steuerzahler:
"Der Staat bürgt für Unternehmen, die diese Projekte mit Krediten aus dem Ausland finanzieren. Werden diese Unternehmen zahlungsunfähig, springt die Staatskasse ein. Das ist die erste Last. Als zweites kommt dazu, dass der Staat den Betreibern eine Garantie gibt, wie viele Leute die Brücke, den Tunnel oder das Krankenhaus nutzen. Werden die Zahlen nicht erreicht, gleicht die Staatskasse die Differenz aus. Das bedeutet eine erhebliche Last für die Steuerzahler."
Beide Szenarien sind inzwischen eingetreten: Eine der am Betreiberkonsortium beteiligten Firmen musste vor kurzem Insolvenz anmelden und die Anzahl der Autos, die die dritte Bosporusbrücke nutzt, bleibt weit hinter den kalkulierten 125.000 Fahrzeugen täglich zurück. Laut Sönmez wurden allein im laufenden Jahr 6,5 Milliarden Lira, also etwa eine Milliarde Euro im türkischen Staatshaushalt bereitgestellt, um die Verluste der Public-Privat-Partnership-Projekte zu decken. Das Risiko liegt also voll beim Steuerzahler.
Die dritte Bosporusbrücke steht nicht allein. Sie ist Teil eines 115 km langen Autobahngürtels im Norden Istanbuls. Dieser wiederum ist Teil der "Neuen Seidenstrasse" von China nach Europa. Sie wird Asien mit dem neuen Flughafen verbinden und mit einem anderen Großprojekt: Dem Kanal Istanbul – einer künstlichen Wasserstraße vom Schwarzens Meer zum Marmarameer. Für die Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer, Mücella Yapici, erklärt sich damit auch, warum für den Flughafen ausgerechnet der Norden der Stadt ausgewählt wurde:
"Na, weil man Kunden für die dritte Brücke braucht. Wenn der Atatürk-Flughafen schließt und der Sabiha Gökçen Flughafen - sehr wahrscheinlich - den Betrieb reduziert, dann sind wir alle schön angewiesen auf den neuen Flughafen. Dann werden die Bürger der anatolischen Seite die dritte Brücke benutzen, um zum neuen Flughafen zu gelangen - und Autobahnmaut bezahlen."
Aktivisten wollen Nordwälder Istanbuls retten
Dabei ist die Überfahrt von der asiatischen auf die europäische Seite der Stadt und umgekehrt nicht billig. 13 Türkische Lira für einen Pkw fließen direkt in die Taschen des privaten Betreiberkonsortiums, also etwa zwei Euro. Doch es sei nicht nur das Geld, sagt Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez:
"Wenn wir über Kosten sprechen, müssen wir auch darüber sprechen, was es die Umwelt und die Natur kosten wird. Der neue Flughafen, die dritte Bosporusbrücke und damit verbunden die Nordautobahn sind ein verheerender Einschnitt in die Natur und die natürlichen Ressourcen Istanbuls. Der Norden hat bereits eine massive Zerstörung erlebt, obwohl lange davor gewarnt wurde. Sollte der Kanal Istanbul tatsächlich gebaut werden, würde sich das Maß der Umweltzerstörung noch einmal immens erhöhen."
Machte noch vor wenigen Jahrzehnten der Wald etwa zwei Drittel der Fläche Istanbuls aus und die Stadt ein Drittel, ist es heute umgekehrt. "Rettet die Nordwälder" heißt deshalb eine Bürgerinitiative, die sich aus den Protesten im Gezi-Park 2013 gebildet hat. Auch wenn es erstaunlich klingt – zu retten gebe es noch einiges:
"Noch immer leben rund 50 verschiedene Säugetierarten in den Nordwäldern. Und das trotz der Nähe zur Metropole Istanbul und dem Vordrängen der Industrie. Fischotter zum Beispiel - wir glaubten, sie seien in der Region längst ausgestorben. Aber sie wurden wieder gesichtet. Hirsche gibt es auch, allerdings möchte ich nicht sagen wo, damit Jaeger nicht hellhörig werden. Denn so viele sind es leider nicht mehr. Dahingegen gibt es immer noch viele Füchse und noch Wölfe."
Die Mitglieder der Istanbuler Initiative sind scheu wie das sprichwörtliche Reh. Bei ihren Demonstrationen oder Mahnwachen treten sie mit Eichhörnchen-Masken auf. Treffpunkt ein Park irgendwo in Istanbul.
Ihre Namen wollen sie lieber nicht sagen. Viele von Ihnen sind beim Staat beschäftigt, unter anderem als Stadtplaner. Die Nordwälder, so sagen sie, seien überlebenswichtig - nicht nur für Tiere und Pflanzen sondern auch für die Menschen:
"Das Besondere an den Nordwäldern ist, dass sie die Luft filtern und die Stadt Istanbul und das Marmaragebiet mittels der vorherrschenden Nordwinde mit sauberer Luft versorgen. Wenn Istanbul heute immer noch einigermaßen gute Luft hat, dann dank der Nordwälder und der Korridore, durch die diese Luft in die Stadt strömen kann."
"Die Nordwälder sind ein Ökosystem, aus dem alle, aber wirklich zu 100 Prozent alle Wasserquellen - überirdisch und unterirdisch - entspringen, die Thrazien und den Marmararaum mit Wasser versorgen. Die Nordwälder sind also nicht nur eine Ansammlung von Bäumen und Pflanzen."
Künftig größter Flughafen der Welt in Istanbul
Auch für den dritten Istanbuler Flughafen wurde viel gerodet. Das Gelände ist so groß wie 1100 Fußballfelder, bietet sechs Rollbahnen für anfangs 90 Millionen und später 200 Millionen Passagiere pro Jahr. Platz für 500 Flugzeuge, 3000 Starts und Landungen pro Tag. Er gilt dann als größter Flughafen der Welt.
Kosten: Gut zehn Milliarden Euro. Das sei nicht überdimensioniert, sagt der geschäftsführende Vorstand der Flughafen-Bau- und Betreibergesellschaft IGA, Kadri Samsunlu:
"Der Atatürk-Flughafen auf der europäischen Seite der Stadt ist in seiner Entwicklung eingeschränkt sowohl aufgrund der Kapazität der Rollbahnen als auch des Terminals. Und der Hauptkunde Turkish Airlines betreibt ein sehr ehrgeiziges Wachstumsprogramm. Die Infrastruktur kann da nicht mithalten. Das ist der Grund warum wir einen neuen Flughafen bauen. Mit neuen Gebäuden, neuen Start- und Landebahnen und einem neuen Terminal. Er wird in der Lage sein, sowohl den Hauptkunden Turkish Airlines zu bedienen, als auch alle anderen Fluggesellschaften, die ihr Türkeigeschäft ausbauen wollen."
Nicht nur der Atatürk-Flughafen platzt aus allen Nähten, auch der der Sabiha Gökcen auf dem asiatischen Teil der Stadt stößt immer wieder an seine Belastungsgrenzen. Deshalb stellt Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez nicht infrage, dass Istanbul dringend einen neuen Flughafen braucht:
"Man hätte natürlich die beiden existierenden Flughäfen Atatürk und Sabiha Gökçen erweitern können. Oder, was auch vorgeschlagen wurde: Ein neuer Flughafen am südwestlichen Stadtrand. Aber Herr Erdogan hat auf diesen Standort bestanden und er wollte es grösser, imposanter. Ich habe mit einem Vertreter einer britischen Firma gesprochen, die Erdogan bei der Standortwahl beraten hat. Er sagte mir, sein Unternehmen habe andere Standorte vorgeschlagen, Herr Erdogan habe aber ausdrücklich auf den Norden bestanden."
Möglicherweise ein fataler Fehler. Auf jeden Fall aber ein Eingriff zu Lasten der Umwelt. Obwohl der Flughafen auf einem ausgebeuteten Braunkohletagebaugebiet gebaut wurde, mussten dort zweieinhalb Millionen Bäume gefällt und 70 Seen trockengelegt werden. Damit sei der Baugrund jedoch keinesfalls sicher, gibt Mücella Yapici von der Istanbuler Architektenkammer zu bedenken:
"Das Gebiet ist voller riesiger Löcher, die sich mit Grund- und Regenwasser gefüllt haben. Für den Flughafenbau wurden die Löcher zugeschüttet und eine zweieinhalb Meter dicke Betonschicht drüber gegossen. Doch der Beton sackt immer wieder ein. Der Aufwand, um das Problem zu beheben, ist immens."
Und offenbar nicht immer erfolgreich. Vor wenigen Monaten klaffte plötzlich ein Loch von etwa zehn Metern Durchmesser und schätzungsweise fünf Metern Tiefe auf einer der Rollbahnen. Fotos davon kursierten im Internet, bevor der Krater hastig wieder aufgefüllt und verschlossen wurde.
Tote und protestierende Arbeiter auf der Baustelle
Das ist nicht das einzige Problem auf der Großbaustelle. Ein anderes ist der Zeitdruck: Schließlich soll der Flughafen bereits am 95. Jahrestag der Republikgründung, dem 29. Oktober, eröffnet werden. Einer der rund 35.000 Bauarbeiter, die gleichzeitig auf der Großbaustelle arbeiten, ist Erkan. Er beschreibt, was er und seine Kollegen von ihren Vorgesetzten zu hören bekommen:
"Arbeitet schnell, heute muss das fertig werden, ihr müsst es tun. Das ist die Arbeit. Wenn du das nicht machst, da ist die Tür, du kannst ja gehen. Draußen warten Millionen von Arbeitslosen. Wir sind nicht auf dich angewiesen.
Trotzdem bestritt der damalige Verkehrsminister Ahmet Arslan noch im April, dass die Regierung Druck auf die Arbeiter ausübt:
"Im Türkischen gibt es ein schönes Sprichwort: Wer eilt, eilt dem Tod entgegen. Wir wissen, dass es negative Folgen haben könnte, wenn wir in zu großer Eile arbeiten. Deshalb können wir so etwas nicht tolerieren und auch kein Auge zudrücken."
Yusuf Akcayoglu, bis vor kurzem geschäftsführender Vorstand beim Bau- und Betreiberkonsortium IGA, hingegen, handelte offenbar nach der Devise eines anderen Sprichworts. Und das lautet: Zeit ist Geld.
"Unsere größte Herausforderung ist die Zeit. Wir haben die Arbeit von 15 Jahren in 42 Monaten erledigt. Es ist notwendig, sich zu beeilen. Je früher wir fertig werden, desto eher verdienen wir Geld mit dem Projekt."
Die Eile am Bau fordert ihre Opfer: Die Zeitung Cumhuriyet schrieb von 400 tödlichen Arbeitsunfällen seit Beginn der Bauarbeiten. Der neue geschäftsführende Vorstand der Betreibergesellschaft, Kadri Samsunlu kennt die Vorwürfe. Aber er spricht von insgesamt 26 Todesfällen - von denen die meisten gar nichts mit der Arbeit zu tun gehabt hätten:
"Die Hälfte von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben. Und es gab einige Autounfälle auf der Baustelle, bei denen zwölf Menschen tödlich verunglückt sind."
Özgür Karabulut von der Baugewerkschaft Devrimci Yapi-Is kann da nur den Kopf schütteln. Die Zahl der Arbeiter, die für den Flughafen ihr Leben lassen mussten, sei weit höher. Er zählt allein 35 Todesfälle bis Mitte September unter seinen Kollegen – und Özgür Karabulut vertritt nur einen geringen Teil der Bauarbeiter, denn die meisten arbeiten für Subunternehmer und sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Jeder Tote sei vermeidbar gewesen, sagt der Gewerkschafter.
"Wären nötige Schutzmaßnahmen getroffen worden, wären diese Bauarbeiter heute am Leben. Gründe sind zum einen der Leistungsdruck. Subunternehmen wollen mit möglichst wenig Bauarbeitern möglichst viel Arbeit verrichten, um Geld einzusparen. Zum anderen ist es das 'System Subunternehmen' an sich. Diese Firmen betrachten den Schutz der Bauarbeiter als Kostenfaktor, ergo werden Maßnahmen nur dem Schein nach getroffen und beispielsweise die Sicherheitsunterweisungen auf ein Minimum reduziert."
Tränengas, Wasserwerfer und Festnahmen
Als zu den unsicheren Arbeitsbedingungen Mitte September auch noch Regenwetter einsetzte, reichte es vielen Bauarbeitern auf der Flughafenbaustelle. Sie protestierten. Tausende von ihnen kommen aus anderen Teilen der Türkei oder dem Ausland. Sie wohnen in einfachsten Container-Unterkünften in der Umgebung und werden mit Bussen zur Baustelle gebracht. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich Luft machen, sagt Gewerkschafter Karabulut:
"Diese Proteste hat es gegeben, weil sich lange Warteschlangen für die Service-Busse bildeten mit langen Wartezeiten. Aber die sind nur der Auslöser. Die schlechten Arbeitsbedingungen spricht unsere Gewerkschaft schon seit mindestens drei Jahren an. Die Unterkünfte, das Essen und die Speisesäle, die Bedingungen insgesamt sind alle sehr schlecht. Eine Wut, eine Verärgerung deswegen, die war schon immer da."
Schnell waren Sicherheitskräfte von Polizei und Gendarmerie zur Stelle. Sie gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Protestierenden vor:
Mehr als 500 Arbeiter wurden nach Gewerkschaftsangaben in Polizeigewahrsam genommen. 160 wurden noch am selben Tag freigelassen. Am Abend kam es zu einer Solidaritätskundgebung im Zentrum von Istanbul, dort wurden weitere 20 Personen festgenommen. Gegen 24 Bauarbeiter erging Haftbefehl. Zwar versprach die Bauleitung Abhilfe gegen den schleppenden Transport der Arbeiter zur Baustelle, abgelaufenes Essen und Bettwanzen. Doch spürbar habe sich vor allem eines verändert, sagt Özgür Karabulut von der Gewerkschaft Devrimci Yap-Is:
"Auf der Baustelle gibt es momentan gefühlt so viele Polizisten und Gendarmen wie Bauarbeiter. Im Schatten der Wasserwerfer werden die Bauarbeiter von der Polizei zur Baustelle geleitet, wie in einem Konzentrationslager."
Kurz nach diesem Interview wurde Gewerkschafter Karabulut während einer Demonstration gegen die Bedingungen auf der Flughafenbaustelle verhaftet. Unter anderem wegen Nötigung, Sachbeschädigung und Beteiligung an Demonstrationen mit Waffen oder Gegenständen, die als Waffe eingesetzt werden können. Ihm drohen im Extremfall bis zu zehn Jahre Haft.
Im Vorort Göktürk wird es lauter
Den Flughafenbau sieht auch Cigdem Yamak mit Argwohn, obwohl sie davon profitiert. Die 61-Jährige ist Maklerin in Göktürk, einer neuen Trabantenstadt nur 15 Minuten vom neuen Flughafen entfernt. Göktürk ist nicht hässlich. Die Stadt wirkt modern, es gibt dort viele Cafés und Einrichtungsgeschäfte für die obere Mittelschicht. Richtig nobel wird es in Kemer Country, einer so genannten Gated Community mit Schlagbaum und Wachdienst. Dafür gehören auch ein Golfplatz, Tennisplätze und ein Reitclub dazu. Maklerin Cigdem Yamak freute sich zuletzt über viele zahlungskräftige Kunden:
"Hier wohnen hochrangige Manager, Unternehmer, ausländische Fußballer... die wohnen hier ganz besonders gerne, weil ihr Privatleben ungestört bleibt, niemand klingelt bei ihnen an der Tür. Menschen, die Wert auf ihre Privatsphäre legen, ziehen hierher. Sie kommen zur Ruhe. Denn tatsächlich ist es hier sehr ruhig."
Zumindest noch. Wenn der Flughafen mit seinen geplanten 3000 Starts- und Landungen täglich in Betrieb geht, dürfte es mit der Ruhe vorbei sein, befürchtet die Maklerin.
"Erst gestern Abend habe ich mich mit meinem Mann darüber unterhalten. Und ich bin sicher, es wird Fluglärm geben und das ist gar nicht gut. Sicher, die Immobilienpreise hier steigen, Göktürk gewinnt an Wert, aber es wird laut und voll werden."
Eigentlich sollte der Lärm ab dem 29. Oktober beginnen. Doch die Bewohner von Göktürk und anderen Gemeinden im Norden Istanbuls bekommen wohl noch eine Schonfrist. Wenn der Flughafen am geschichtsträchtigen 29. Oktober eingeweiht wird, soll die erste Maschine nach Ankara abheben. An Bord der Staatspräsident. Anschließend werden zunächst offenbar nur zwei Strecken bedient: Baku im befreundeten Aserbaidschan und Ercan im Norden Zyperns. Der sogenannte Big Bang – der Komplettumzug vom alten Atatürk-Flughafen zum neuen Airport verschiebt sich um zwei Monate. Das musste die staatliche Luftfahrtbehörde DHMI Anfang Oktober einräumen. Der Grund: Der eigentliche Flughafen ist zwar weitgehend fertiggebaut, die komplizierten Abläufe zwischen der Anreise der Passagiere und deren Abflug seien bisher aber kaum durchgespielt und aufeinander abgestimmt worden. Dafür seien auch die nun angesetzten zwei Monate sehr ambitioniert, sagen Flughafenexperten.
Wie wird der Großflughafen heißen?
Von Infrastruktur wie Hotels oder einer Schnellbahnanbindung ganz zu schweigen. Vorerst können Mitarbeiter und Passagiere den weit außerhalb gelegenen Flughafen nur per Auto oder Bus erreichen. Der Chef des Flughafenkonsortiums, Kadri Samsunlu verspricht baldige Abhilfe:
"Leider wird die U-Bahn am geplanten Eröffnungstag, unserem Nationalfeiertag, dem 29. Oktober, noch nicht fertig sein, aber in der ersten Hälfte des nächsten Jahres - und zwar mit nur vier Stopps zwischen Stadtzentrum und Flughafen."
Gerätselt wird noch über den Namen des Flughafens. Als Kennkürzel wird der neue Flughafen das IST vom Atatürk-Flughafen übernehmen. Als Namensgeber dürfte Staatsgründer Atatürk aber ausgedient haben. Einer der möglichen Namen, die immer wieder genannt werden, ist der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Als wahrscheinlicher gilt inzwischen aber, dass der Flughafen nach einem Sultan benannt wird, entweder nach Abdülhamit dem Zweiten oder nach Fatih Sultan Mehmet, dem Eroberer Konstantinopels.
Flugverkehr vs. Zugvögel
Doch es gibt noch ein größeres Problem als die Namensfindung: Die Naturschützer von der Nordwald-Initiative weisen darauf hin, dass der Luftraum über dem Flughafen bislang zweimal im Jahr den Zugvögeln gehört.
"Die Nordwälder sind eine der weltweit wichtigsten Routen von Zugvögeln, das gilt insbesondere für Störche. Der Bosporus gehört auch dazu. Das Gebiet in dem der neue Flughafen gebaut wird, ist ein Feuchtgebiet in dem zweimal im Jahr hunderttausende Störche rasten. Seit hunderttausenden von Jahren haben sie sich diese Route eingeprägt. Aber nicht nur die Störche, sondern auch Raubvögel, ungefähr 250.000 pro Jahr, darunter auch selten gewordene Arten."
Störche sind so etwas wie der natürliche Feind der Flugzeugtriebwerke. Ein echtes Sicherheitsrisiko. Schon auf dem alten Atatürk-Flughafen verzögerten sich immer mal wieder Starts und Landungen durch Vogelzug. Bei den geplanten zwei Starts oder Landungen pro Minute auf dem neuen Flughafen dürfte für Verzögerungen dieser Art keine Zeit sein. Deshalb sollen die Vögel mit Hilfe von Störsignalen auf Abstand gehalten werden. Naturschützer und auch Mücella Yapaici, die Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer, bezweifeln deren Wirksamkeit:
"Die Zugvögel sind intelligent bei der Auswahl der Zugrouten, intelligenter als wir jedenfalls. Dort kann man keinen Flughafen bauen. Die Zuständigen haben erklärt, man werde die Vögel mit Technologie verscheuchen. Dabei ist das eine riesige Gefahr auch für die Flugzeuge und Passagiere. Die meisten Flugunfälle geschehen aufgrund von Vögeln. Aber die Behörden sind sich sicher. Sie sagen, der Baulärm werde sie eh verscheuchen. Das ist ein Witz, nicht wahr."
Neues "Weltwunder": Kanal parallel zum Bosporus
Kein Witz ist offenbar auch die Planung für ein weiteres "Weltwunder", wie Staatspräsident Erdogan es nannte, nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt:
Der Kanal Istanbul soll nicht weniger sein als eine künstliche Verbindung zwischen Schwarzem Meer im Norden und Maramarameer im Süden, etwa 25 Kilometer parallel zum Bosporus quer durch Thrakien. Der Spatenstich soll noch in diesem Jahr erfolgen. Natürlich auch ein Public Private Partnership-Projekt und damit für den Steuerzahler kostenlos, so verkündet es jedenfalls die Regierung. Vorausgesetzt es sind genügend Reedereien, die bereit sind, für die Passage zu zahlen während die Fahrt durch den Bosporus umsonst ist. Die Kosten für die Umwelt wären jedenfalls immens, befürchtet diese Aktivistin der Initiative zur Rettung der Nordwälder. Auch wenn der Kanal im Süden zunächst durch eine bestehende Lagune führen soll:
"Die Quellen dort versorgen zwölf Bezirke der Stadt Istanbul mit Trinkwasser. Noch steht dieses Gebiet unter Schutz. Drumherum darf eigentlich nicht einmal gepicknickt werden, geschweige denn, gebaut. Noch weiter nördlich gelangt man dann in das Gebiet, in dessen Osten der neue Flughafen gebaut wird. Dort befindet sich der Terkoz-See, ebenfalls ein See zur Trinkwassergewinnung. Noch ist dieses Gebiet weitgehend verschont geblieben, weshalb es dort immer noch endemische Pflanzen, Zugvögel und Landwirtschaft gibt. Das Risiko ist, dass Kanal Istanbul eine Magnetwirkung entfaltet und die Bebauung Richtung Norden anzieht."
Im Werbevideo kann man schon einen neuen Containerhafen am Schwarzen Meer bewundern, direkt an der Nordautobahn und nur wenige Kilometer vom neuen Flughafen entfernt. Auch für Wohnen am Wasser wird geworben, was dem bisher propagierten Hauptzweck des Kanals widerspräche, sagt Mücella Yapici von der Architektenkammer:
"Die Politik sagt, man wolle den Öl- und Gastanker-Verkehr vom natürlichen Bosporus umleiten auf den Kanal Istanbul, um die Stadt nicht länger durch mögliche Explosionen zu gefährden. Das ist zunächst einmal gut. Aber es ist ja auch ein neues Istanbul an beiden Ufern des Kanals geplant. Die Einwohner der neuen Stadt wären doch ebenfalls in Gefahr."
Projekte für regierungsnahe Bauindustrie
Die Vermutung: Es gehe überwiegend darum, die regierungsnahe Bauindustrie mit Aufträgen zu versorgen. Schließlich seien es immer die gleichen Unternehmer, die an derartigen Projekten beteiligt seien, sagt Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez. Trotzdem sieht er noch nicht, dass der Kanal wirklich gebaut wird. Denn dafür müsste sich aber ersteimal ein Investor finden, der bereit ist, 14 Milliarden Dollar in das umstrittene Projekt zu stecken. Ohne staatliche Garantien wird das nicht gehen.
"Gut möglich, dass die Regierung dieses Projekt noch vor den Kommunalwahlen ausschreibt, um die Wähler zu begeistern. Aber ob sie tatsächlich irgendwann mit der Umsetzung beginnen können, das mag ich zu bezweifeln. Denn dieses Projekt verlangt in jeder Hinsicht nach noch mehr Ressourcen."
Denn nicht nur die finanziellen Ressourcen sind in der Türkei gerade knapp. Auch der Raubbau an der Natur während der letzten Jahrzehnte fordert seinen Tribut, sagt Mücella Yapici von der Istanbuler Architektenkammer. Die Türkei habe auch im wörtlichen Sinne keinen Kies mehr:
"Bei der Produktion von Beton wird Kies benutzt. In Istanbul und Umgebung sind alle Steinbrüche derzeit ausgeschöpft wegen der Vielzahl laufender Großprojekte, allen voran der dritte Flughafen. Der Kies reicht nicht. Es gibt keine Ressourcen."
"Großprojekte sind Verbrechen gegen Gesellschaft"
Allein das mache deutlich, wie groß der Raubbau durch Erdogans Großprojekte sei, sagt Wirtschaftsjournalist Sönmez. Diese Projekte hätten eine große Strahlkraft, auch auf die Wähler. Sie seien Symbole des Wachstums und Wohlstands. Doch:
"Unterm Strich ist dies ein ernstes Verbrechen gegen die Gesellschaft, allein schon aufgrund der Natur- und Umweltzerstörung; aber auch, weil die Bevölkerung zu wenig Nutzen daraus zieht und weil diese Projekte weder im Parlament, noch in der Öffentlichkeit richtig diskutiert wurden. Die Gesellschaft wurde vor vollendete Tatsachen gestellt."
Der neue Flughafen, die dritte Bosporusbrücke und damit verbunden die Nordautobahn seien verheerende Einschnitt in die Natur und die natürlichen Ressourcen Istanbuls, sind sich der Wirtschaftsjournalist und die Naturschützer erstaunlich einig. Noch gibt es eine Schonfrist für den Flughafenbetrieb: Zwischen der feierlichen Eröffnung am 29. Oktober und dem eigentlich Start Ende Dezember dürfte es am Himmel über dem Istanbuler Norden verhältnismäßig ruhig bleiben. Das freut die Menschen in Göktürk, nicht aber die Auftraggeber, gibt Özgür Karabulut von der Bauarbeiter Gewerkschaft zu bedenken:
"Sehr wahrscheinlich werde sie am Ende die Schuld für die Verzögerung den streikenden Bauarbeitern in die Schuhe schieben."
Mücella Yapici, die Chefin der Istanbuler Architektenkammer mag gar nicht von Verzögerung sprechen:
"Ich gehöre zu jenen, die sicher sind, dass dieser Flughafen nicht in Betrieb gehen wird. Vielleicht für eine kurze Zeit, für ein paar Flüge. Der Flughafen wird auf Dauer nicht zu betreiben sein. Wenn doch, dann fress' ich mein Diplom."
Wenn es - wie fast immer in der Türkei - nach Staatspräsident Erdogan geht, wird sie das wohl tun müssen – früher oder später.