Wie die kemalistische Republik zu Grabe getragen wird
Eine Verhaftungswelle, Razzien und sogenannte "Säuberungen" – so zeigt sich die harte Hand von Präsident Erdogan nach dem versuchten Militärputsch. Er schüre ein Klima der Angst, berichtet Jürgen Gottschlich – und bei der politischen Opposition herrsche "Funkstille".
Der Istanbuler Korrespondent Jürgen Gottschlich warnte im Deutschlandradio Kultur vor dem Hintergrund der zahlreichen Verhaftungen und der Entlassungen von Beamten vor einer bedrohlichen Entwicklung:
"Erdogan ergreift jetzt die Gelegenheit, um den Staatsapparat – die Armee und die Justiz – voll auf die Linie seiner sogenannten 'neuen Türkei' zu bringen. Also die alte Türkei, die alte kemalistische Republik wird jetzt zu Grabe getragen. Und die entscheidenden staatlichen Organisationen werden nicht irgendwie willkürlich gesäubert, sondern sie werden strategisch umgebaut zu Institutionen, die jetzt der 'neuen Türkei' komplett loyal gegenüber sein sollen."
Die politische Opposition "tut gar nichts"
Die politische Opposition "tue im Moment gar nichts", berichtete Gottschlich, es herrsche "Funkstille". Der Journalist ging auch auf die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei ein. Erdogan berufe sich auch drauf, bei der gestrigen Trauerfeier für Opfer des gescheiterten Militärputsches bestimmte Forderungen der versammelten Menschen gehört zu haben:
"Er hat Rufe aus der Menge 'Wir wollen Hinrichtungen' aufgegriffen und gesagt: 'Ja, wir hören auf das Volk. Wir werden darüber reden und wir werden das im Parlament einbringen.' Bisher hat sich von der Opposition noch niemand dazu geäußert. Die AKP könnte ja die Todesstrafe mit ihrer eigenen Mehrheit im Parlament verabschieden, wenn sie will. Ich habe aber bisher den Eindruck, es geht im Moment vor allem darum, Angst zu verbreiten mit dieser Debatte."
Wie sich Präsident Erdogan einen Glorienschein aufsetzt
Gottschlich schloss sich der Auffassung an, dass nach dem Militärputsch jetzt der "Putsch von oben" folge. Die augenblickliche Lage sei für Erdogan eine "goldene Gelegenheit":
"Erdogan drängt ja seit anderthalb Jahren auf eine Verfassungsänderung mit einem Präsidialsystem, die ihm allumfassende Macht geben soll. Da ist er immer wieder stecken geblieben. Eine Mehrheit im Parlament hat sich dem immer wieder verweigert. Und jetzt kommt diese Gelegenheit dieses Putsches: Jetzt ist er derjenige mit dem Glorienschein. Niemand kann ihm mehr widersprechen. Und das nutzt er jetzt, um wirklich im Staatsapparat 'tabula rasa' zu machen und ihn vollkommen nach seinem Gutdünken umzubauen."